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Aus gutem Holz: Eine Unternehmens- und  Familiengeschichte
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eBook271 Seiten3 Stunden

Aus gutem Holz: Eine Unternehmens- und Familiengeschichte

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Über dieses E-Book

Die dem 100-jährigen Bestehen der Zehnder Holz und Bau AG gewidmete Unternehmens- und Familiengeschichte steht im eigentlichen Sinne für das ganze traditionsreiche Schweizer Gewerbe. Handwerk - angesiedelt in Dorfschaften und Städten - die unbestrittene Stütze für die Wirtschaft unseres Landes.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum23. Dez. 2020
ISBN9783347184114
Aus gutem Holz: Eine Unternehmens- und  Familiengeschichte

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    Buchvorschau

    Aus gutem Holz - Kurt Nobs

    Jubiläum

    Heute ist Donnerstag, der 23. Mai 2019 – ein lauschiger Frühsommerabend, und es schaut ganz danach aus, als wollte dieser Wonnemonat seinem Ruf doch noch gerecht werden. Denn die vergangenen Tage waren alles andere als wonnig – Regen noch und noch – und die Medien berichteten von Überschwemmungen und Dauereinsätzen der Feuerwehr – besonders im Norden von Deutschland.

    Markus und Gaby Zehnder sind Inhaber der Firma Zehnder Holz und Bau AG, einem mittelständischen in Hegi beheimateten Gewerbebetriebes. Sie sitzen gemütlich im Wohnzimmer und geniessen die herrliche Aussicht bis hinauf zum Schauenberg, der bereits in die Abenddämmerung getaucht, nur noch als Silhouette zu erkennen ist.

    Hegi ist einer der östlich liegenden Vororte von Winterthur. Ihren Wohnsitz haben die beiden in Elsau, der anschliessenden Gemeinde im Eulachtal. Ein schmuckes von Markus und seinen Männern gebautes Holzhaus, etwa drei Kilometer vom Unternehmen entfernt.

    Vor ihnen auf dem Wohnzimmertisch funkelt der Rotwein in den Gläsern, sie nehmen beide einen Schluck – eine liebgewonnene Gewohnheit nach einem arbeitsreichen Tag.

    Gaby ist von zierlicher Gestalt, auffallend sind ihre ausdrucksvollen grünblauen Augen, die feingezeichnete, stets Freundlichkeit ausstrahlende Mundpartie und der wuschelige, braune Kurzhaarschnitt. In ein paar Tagen wird sie ihren 54. Geburtstag feiern, ist Mutter von zwei erwachsenen Kindern und als Geschäftsleitungsmitglied zuständig für die Finanzen und Administration. Gaby und Markus sind stolz auf ihren Nachwuchs: Anna, geboren am 7. Januar 1993, gelernte Hochbauzeichnerin, dann Studium zur Ergotherapeutin, zurzeit tätig bei der Brühlgutstiftung Winterthur und Lukas, geboren am 2. Juli 1995, gelernter Koch, tätig bei mehreren Gourmetrestaurants und zurzeit im «le Meurice», in Paris bei Alain Ducasse.

    Gaby, eine Vollblutunternehmerin? Ich weiss es nicht, fragt sie selbst. Ich glaube eher, dass Gaby ihrem Wesen nach mütterliches verkörpert, also nicht nur Mutter von einer Tochter und einem Sohn, nein, auch ‘Mutter der Zehnder Holz und Bau AG’.

    Ja, richtig – gerade vor einigen Tagen hatte Gaby wieder Mal einen ihrer ‘Notfalleinsätze’. Einer der Lernenden – ich nenne ihn Tim – war schon zwei Tage der Arbeit ferngeblieben. «Keine Ahnung, was da los ist», meinte Sandra Läderach, die Personalverantwortliche. «Ich rufe mal an», sagte Gaby und erfuhr von Tims Mutter, dass sie auch nicht wisse, was er habe. «Richten Sie ihm bitte aus, dass er heute Nachmittag um zwei Uhr vorbeikommen soll. Ich möchte mit ihm sprechen», bestimmte Gaby kurzentschlossen.

    Und tatsächlich, Tim machte sich auf die Socken und erschien pünktlich in dem Besprechungsraum neben den Büros. «Guten Tag, Tim», begrüsste Gaby ihn lächelnd, «Willst du einen Kaffee?» «Ja… gerne…, nein, lieber … ein Glas Wasser, Frau Zehnder.» «Hoppla, das tönt aber kläglich», dachte sich Gaby, «so kenne ich unseren Tim ja gar nicht.» «Also los, nun sag schon …, gibt’s Probleme mit der Arbeit?», fuhr Gaby fort. «Nein, nein, mit der Lehre läuft alles super, aber…» Tims Stimme klang schon etwas fester, doch dieses Zögern liess Gaby aufhorchen. «Wenn’s nicht die Arbeit ist, dann kann es nur noch Eines sein.» Sie nahm einen Schluck von ihrem Tee und hakte nach: «Nun sag schon, wo drückt dich der Schuh?» «Die Claudia …, dieses …, dieses Miststück», knorzte er mühsam hervor und seufzte erbärmlich. Dann strich er sich mit der rechten Hand über die Augen und liess die geballte Faust auf die Tischplatte krachen. «Verdammte Scheisse», entfuhr es ihm mit einem erneuten Seufzer. «Alarmstufe 1 – hab ich’s mir doch gedacht», ging es Gaby durch den Kopf, und nach einem weiteren Schluck aus ihrer Tasse äusserte sie sich: «So, so, die Claudia. Nun, erzähl schon.» Tim setzte sein Glas an die Lippen und beugte sich vor. «Am letzten Samstag waren wir im ‘Zimmer 31’», begann er klagend, «und da hat sie mir gesagt, dass es mit uns zu Ende sei. Sie habe einen anderen kennengelernt, einen, der bei der Bank arbeite. Und ich, ich bin doch nur ein armseliger Zimmermannslehrling.» «Halt, halt, Tim! Was heisst da armselig? In einem Jahr bist du ein ausgelernter Zimmermann, das steht jetzt schon fest. Und überhaupt, wie lange kennst du diese Claudia schon?» «Zwei Monate», antwortete Tim mit verkniffenen Lippen. «Aber Frau Zehnder, glauben Sie wirklich, dass ich die Lehrabschlussprüfung schaffe?» «Klar doch, lieber Tim – so, wie du dich anstellst. Und wegen Claudia…, was hast du gesagt, seit zwei Monaten kennt ihr euch? Wenn du mich fragst, ich finde es gut, dass sie reinen Tisch gemacht hat. Das hätte nie was Festes werden können. Liebeskummer lohnt sich nicht, mein Lieber. Sei getrost, die Richtige wartet bestimmt schon auf dich.» Tim leerte sein Glas und stellte es mit einem flüchtigen Lächeln auf den Tisch. «Sie haben Recht, Frau Zehnder. Werde auf die Zähne beissen und zurück an meinen Arbeitsplatz gehen.» «Genauso, hab doch gewusst, dass du dich nicht kleinkriegen lässt. Also, auf geht’s.»

    Ja, Gaby Zehnder hätte noch Einiges in dieser Hinsicht zu berichten, doch nicht nur in Sachen ‘Liebesleid und -schmerz’. Bei den Mitarbeitenden – zurzeit sind es fünfzig, darunter sieben Lernende – gibt es immer Mal wieder Lebensumstände, die Trost, Ermutigung oder ein ‘unter die Arme greifen’ nötig machen. Sandra Läderach bespricht besonders happige Fälle jeweils mit Gaby und dann entscheiden sie über die nächsten Schritte. Sollen sie sich zu zweit mit dem Betreffenden (oder auch mit den Betreffenden) zusammensetzen, oder nimmt Gaby das Heft selbst in die Hand. Wenn’s um die Not eines Lernenden geht, ist das meistens Gabys Sache, da gibt’s nichts zu deuteln. Die Auszubildenden liegen ihr, aber auch Markus, ganz besonders am Herzen. Zurzeit sieben junge Burschen in Ausbildung zum Zimmermann EFZ. Ja bei dieser anvertrauten kleinen Schar kann Gaby, neben all dem Papierkram, ihr mütterliches Wesen so richtig ausleben. Und wenn’s was zum Trösten gibt, hört sie immer Mal die etwas scherzhafte aber liebevolle Bemerkung aus dem Mund ihres Mannes: «Ja, ja, die Gaby, unsere Glucke mit ihren Küken.»

    Nun zu Markus! Stämmig mit markanten Gesichtszügen – diplomierter Holzbau-Meister, Geschäftsführer und Präsident des Verwaltungsrats, hat vor Kurzem seinen 60. Geburtstag gefeiert und ist der nach Strich und Faden umsichtige Patron des Unternehmens. Übrigens: Holzbau-Meister mit höherer Fachprüfung führen in der Regel einen eigenen Holzbaubetrieb, oder bekleiden eine leitende Position in einem grösseren Unternehmen. Sie holen Aufträge ein, beraten Architekten und Bauherren. Sie verfügen über die fachlichen Kenntnisse, um die technische und kaufmännische Leitung einer Unternehmung zu gewährleisten. Markus Zehnder verkörpert dies Alles mit Leib und Seele. «Holz ist sein Leben», könnte man sagen.

    Dieser Rohstoff, in der Stille ausgedehnter Wälder gewachsen, zur rechten Zeit gefällt, zu Balken und Brettern gesägt und behauen, und dann wieder in Hausfassaden, Firstgebälk und Täferungen Gestalt annehmend – ein Schöpfergeschenk, tüchtigen Handwerkern anvertraut.

    Ja, genau. Tüchtigkeit ist die Grundlage für gutes Gelingen. Wie schon gesagt, die Zehnder Holz und Bau AG beschäftigt aktuell fünfzig Mitarbeitende: Holzbautechniker und Schreinertechniker als Projektleiter, Zimmerleute, Schreiner und eben die sieben Lernende. Nicht zu vergessen, die den Büroalltag bewältigenden drei Frauen, die guten Seelen des Betriebs.

    Und so herrscht an der Rümikerstrasse 42 in Hegi, dem Standort des Unternehmens, emsige Betriebsamkeit. In den Produktionshallen gibt es grosszügige Arbeitsplätze. Hier wird gesägt, gefräst, gebohrt und geschraubt, dass es eine wahre Freude ist, zuzusehen. Eine Augenweide pur, aber nicht nur, nein, überall weht einem der unvergleichliche Duft von Holz um die Nase. Im ersten Obergeschoss des mit einer blauen Fassade angebauten Bürotrakts, befindet sich ein geräumiger Aufenthaltsraum, der von den Mitarbeitenden rege benutzt wird, sei es, um sein Znüni Brot zu geniessen, Kaffee zu trinken oder einfach ein bisschen zu plaudern. Markus und Gaby nehmen sich immer eine halbe Stunde Zeit, um die Pause zusammen mit den Leuten zu verbringen, und das von Markus jeden Morgen zubereitete Muesli zu geniessen. Ja, ihr habt richtig gelesen: Markus ist auch in dieser Beziehung ein Meister, und es gibt einige unter den Mitarbeitenden, die von ihrem Schinkenbrot auf eben besagtes Muesli umgestellt haben. Das gehört einfach dazu, denn die Zehnder Holz und Bau AG ist schlicht und einfach eine grosse Familie.

    Zurück in Elsau, im Heim von Markus und Gaby. Markus nippt an seinem Glas und lehnt sich zurück. Gaby sitzt neben ihm am Tisch und lächelt. «Einfach schön, hier», sagt sie. «Und schau, dort über dem Schauenberg, wie der Mond aufgeht.» «Ja, prächtig», antwortet er. Ein letzter Sonnenstrahl stiehlt sich ins Wohnzimmer und malt goldene Punkte auf die Tischplatte. «Verrückt, wie die Zeit vergeht», fährt Markus fort, «schon bald wieder Ende Mai und Arbeit in Hülle und Fülle, und immer dieser Termindruck.» «Nur nicht jammern, mein Lieber», beschwichtigt Gaby. «Das solltest du dich ja längstens gewohnt sein. Du weisst ja, wie’s auf dem Bau zugeht. Und übrigens, nichts wird so heiss gegessen, wie’s gekocht wurde. Schliesslich sollten wir dankbar sein, dass es so gut läuft. Erinnere dich daran, wir hatten auch schon andere Zeiten.» «Du hast Recht, entschuldige …, aber du kennst mich doch, Qualität und Termine einhalten, sind meine grössten Gebote.» «Ja, ja, ich kenne dich», erwidert Gaby mit spitzbübisch anmutendem Lächeln. «Und wenn du Mal eines deiner Gebote nicht halten kannst, dann bist du jeweils förmlich am Boden zerstört.» «Hm …, eigentlich nicht. Es beschäftigt mich einfach. Einen Bauherrn zu vertrösten, ist halt so gar nicht mein Ding.»

    Gaby schenkt noch etwas Rotwein nach, nippt an ihrem Glas und räuspert sich nach einer kleinen Pause. «Habe übrigens heute Morgen ein riesiges Kompliment von einem Kunden erhalten.» «Kompliment …?» «Ja, er hat mir zum Jubiläum unserer Firma gratuliert und war ganz begeistert von der Holzpendeluhr, die wir an der Messe in der Eulachhalle ausgestellt haben.» «Das freut mich. Wurde auch schon einige Male darauf angesprochen. Aber erinnerst du dich noch, das war schon eine knifflige Sache. Ist mir heute noch ein Rätsel, wie die Mitarbeiter darauf kamen, so etwas Kompliziertes und Aussergewöhnliches auszuwählen.» «Also mich erstaunt das keineswegs. Zu einem Hundertjahrjubiläum gehört doch einfach etwas Aussergewöhnliches. Und es war doch spannend mitzuverfolgen, wie dieses Kunstwerk entstand.» «Sicher! Zum Glück hatten wir Unterstützung von diesem Eberhard Reinstadler, diesem Holzuhrenbauer aus Sulden. Und Mathias Rohner und Adrian Kundert haben uns gezeigt, was aus Holz alles gebaut werden kann.» «Das kann ich nur unterstreichen. Trotzdem, einige hitzige Diskussionen zwischen den beiden, habe ich im Aufenthaltsraum mitbekommen, und es wurde mir schnell klar, dass dieses Projekt doch einiges an Kopfzerbrechen bereitet.» «Ja, ja, die beiden bewegten sich an den Grenzen ihrer Kunst», pflichtet Markus schmunzelnd bei. «Angefangen hat’s ja schon bei der Auswahl der Hölzer, und der eigentliche Knackpunkt war die Einstellung der Uhr. Das hat den Beteiligten sicher einige schlaflose Nächte bereitet. Aber ich kenne meine Männer, die lassen sich nicht so einfach ins Bockshorn jagen. Und schliesslich funktionierte dieses Vorzeigestück aufs Beste.» «Auf jeden Fall hat diese Holzpendeluhr mächtig Eindruck gemacht. Für mich ist sie das wahre Glanzstück unserer hundertjährigen Firmengeschichte. Bin sehr stolz.» «Ich glaube, das können wir Alle sein. Aber nicht nur das. Wir können auch dankbar sein, dass uns so etwas gelungen ist. Und es gibt noch etwas, auf das wir mit grosser Dankbarkeit zurückblicken können. Ich meine den Wendepunkt vor zwölf Jahren, als du und ich den Bereich ‘Holz und Bau’ in eigener Regie übernahmen, und Hansjörg und Ingrid den Holzhandel und die Planungs- und Generalbautätigkeit in eigener Hand weiterführten.» «Ja, ja, ich erinnere mich noch gut», sinniert Gaby. «Am Anfang war das schon noch eine echte Zitterpartie. Aber heute weiss ich, es war die richtige Entscheidung für alle Beteiligten.» «Das unterstreiche ich in jeder Hinsicht», bekräftigt Markus mit einer ausholenden Armbewegung. «Doch weisst du, was mir schon aufgefallen ist? Weil die beiden Betriebe ihren Standort in unmittelbarer Nachbarschaft haben und beide den Namen Zehnder tragen, meinen die meisten Leute, dass wir zusammengehören.» «Wenn’s weiter nichts ist», bemerkt Gaby und macht sich daran, das Geschirr abzuräumen, «lassen wir sie ruhig im Glauben, denn ein Stück weit haben sie ja auch Recht. Wir sind zwar zwei eigenständige Unternehmen, doch wir haben ein gutes Miteinander.»

    Iberg

    Die Geburt eines Menschen ist etwas Einzigartiges, und dies trotz der schier unzählig winzigen Geschöpfe, die Tag für Tag das Licht der Welt erblicken. Die einen sprechen von einem Geheimnis – von einem göttlichen Geschenk gar, andere erklären im Brustton der Überzeugung, dass Geburt, oder besser gesagt Fortpflanzung nichts mehr als ein biologischer Vorgang sei. Ja, von Geheimnis könne schon gar nicht die Rede sein, denn von der Befruchtung einer weiblichen Eizelle über die Zygote bis hin zum fertigen Menschlein, sei die Wissenschaft über jedes Detail informiert, und daraus jedes Mal eine Geheimniskrämerei zu machen, sei nun einfach nicht am Platze.

    Sei, es wie es sei. Doch eines weiss ich mit Bestimmtheit: Als Konrad Zehnder im Jahre 1874, als zweiter Sprössling der Bauernfamilie Konrad und Barbara Zehnder in Iberg zur Welt kam, waren Schwangerschaft und Geburt im Denken und Erleben der Menschen noch weitgehend Gottgegeben. Nicht umsonst nannte man das Gedeihen von neuem Leben im Mutterleib ‘in guter Hoffnung sein’, und das sagt eigentlich schon alles, man hoffte auf Gott, dass alles gut gehen werde. Damals gab’s noch keine Ultraschall-Untersuchung, und offenbar, ob es ein Knabe oder Mädchen ist, wurde es erst, wenn das kleine strampelnde Wesen in den Händen der Hebamme lag.

    Und so begab es sich auch bei Zehnders in Iberg, dieser kleinen beschaulichen Aussenwacht südlich von Winterthur. Der kleine Konrad wurde von der Hebamme mit geübtem Griff beider Hände aufgehoben, bekam einen Klaps auf den Hintern, begann zu schreien, wurde dann gewaschen und gewickelt, der Mutter in die Arme und dann in die bereitstehende Wiege gelegt. Doch kein Mensch konnte an diesem Tag ahnen, geschweige denn noch wissen, dass dieser Konrad einmal Gründer der im Jahr 2019 hundertjährig gewordenen Zehnder Holz und Bau AG werden würde. Also doch: Menschwerdung, aufwachsen, das Leben gestalten und etwas erschaffen, ist und bleibt ein Stück weit ein Geheimnis. Daran haben auch die grossen Aufklärer der Menschheit: wie Voltaire, David Hume und Immanuel Kant nur wenig ändern können. Menschenwissen ist Stückwerk, eingebunden in Raum und Zeit. Und der Versuch, diese Grenzen zu übersteigen, gehört oftmals nur ins Reich der Fantasie.

    Konrad, der Zweitälteste, wuchs zusammen mit seinen drei Geschwistern Anna, Elise und Jakob auf. Das kleine Bauerngehöft am Rande der Weilers Iberg war sein Zuhause. In der winzigen Mansarde unter der einen Dachschräge und über dem Wohnzimmer mit dem grossen Kachelofen, befand sich seine Schlafstatt. Ein Refugium ganz für Konrad allein, bis neun Jahre später ein zweites Bett für seinen Bruder Jakob in den Raum gestellt wurde.

    Die Familie Zehnder war zum grössten Teil Selbstversorger. Im Stall standen zwei Milchkühe, und manchmal – in einem Holzverschlag an der Wand – tummelte sich auch ein Kälbchen, das bis zum Verkauf an den Metzger aufgezogen wurde. Zwischen Kuhstall und Remise befand sich die Boxe von Cornelius, dem Ardenner Kaltblut, der für die schwere Arbeit auf Hof und Feld zuständig war. Ein gutmütiger Brauner mit weisslicher Mähne und buschigem Behang über den Hufen. Konrads Zuneigung zu diesem Arbeitstier war sprichwörtlich. Beinahe täglich umhegte er ihn mit Striegel und Bürste, mistete die Boxe aus, streute frisches Stroh, streichelte liebevoll über die sich wie Samt anfühlenden Nüstern und reichte ihm einen halben Apfel. Aber weiss der Kuckuck, warum der Name dieses Pferds Cornelius lautete. Auf Deutsch bedeutet dies ja ‘Horn’ oder sogar ‘der Gehörnte’, und das ist wirklich schwer nachvollziehbar für mich.Vater Zehnder erwarb ihn von einem Kyburger-Bauer unter diesem Namen, doch Konrad Junior nannte ihn einfach Corny, das passt besser zu ihm, meinte er. Doch halt – ich habe noch weiter recherchiert: Da gab’s Mal einen Schutzpatron für das Vieh mit Namen Cornelius; vielleicht sollte dies die Bestimmung von ihm sein.

    Zum Hof gehörte schliesslich auch ein Hühnerhof mit emsig pickendem und gackerndem Federvieh und einem stolzen Hahn. Eine Katzenfamilie durfte natürlich nicht fehlen, die immer, wenn gemolken wurde, wie auf Kommando sich vor der Stalltür versammelte und darauf wartete, dass der Bauer die zwei dort stehenden Schälchen mit frischer Milch füllte. Und da war auch Bläss, der Appenzellerhund, der Wachhabende, doch schon ein bisschen in die Jahre gekommen, und meistens halt ein Schläfchen vor seiner Hütte neben dem Stall haltend.

    Im grossen Garten vor dem Haus wuchsen Kohl, Zwiebeln, Karotten und Lauch. In Reih und Glied standen daneben einige Johannisbeersträucher und darüber entlang des Gartenzauns rankten Brombeeren. Doch Mutter Barbaras ganzer Stolz waren die mit grosser Sorgfalt gehegten zwei Blumenbeete. Mit der Schneeschmelze im März streckten da schon die Schneeglöckchen und Primeln ihre Blütenköpfe ans Licht, dann folgten die Osterglocken und Tulpen, und im Herbst konnte man die Farbenvielfalt der Astern bestaunen. Nicht selten bewunderten Sonntagsspaziergänger diese Pracht und hielten mit Barbara jeweils einen kurzen Schwatz. Über den Abhang in Richtung Kollbrunn erstreckte sich ein ansehnlicher Kartoffelacker und daneben wuchsen einige Reihen Runkelrüben. Bis hinauf zum ‘Sessel’, diesem heute noch beliebten Aussichtspunkt von Iberg, gab’s einen kleinen Obstgarten; Apfelbäume mit Berner Rosen, Goldparmänen und Sauergrauich, und einen prächtigen Birnbaum mit ‘Kaiser Alexander’.

    Ja, bei Zehnders war dafür gesorgt, dass jeden Tag etwas auf den Tisch kam. Zu hungern brauchte niemand. Und jedes Jahr kurz vor der Adventszeit wurde das übers Jahr gemästete Schwein geschlachtet. Dann hingen Speckseiten und Dauerwürste in der Rauchkammer des Kamins, und weitere Fleischstücke wurden gesalzen und in grossen Steinguttöpfen eingemacht.

    So gingen die Jahre ins Land. Doch eines habe ich noch nachzutragen: Im Geburtsjahr von Konrad, also 1874, erhielt unser Land eine Totalrevision der Bundesverfassung. Darin wurden einige Neuerungen, unter anderem das Referendumsrecht – ein wichtiger Aspekt der direkten Demokratie – verankert.

    Konrad ging gerne zur Schule, zuerst nur einige Schritte entfernt in die Primarklassen im Schulhaus von Iberg, und dann, eine gute halbe Stunde zu Fuss, in die Sekundarschule von Seen, dem südlich gelegenen Vorort von Winterthur. Seine Lieblingsfächer waren Naturkunde, Geschichte und Geografie. Was es da nicht alles zu entdecken gab! Stets lag ein Buch aus der Schulbibliothek auf seinem Nachttisch, mit Geschichten über die grossen Weltentdecker David Livingston, James Cooke und Vasco da Gama, um nur Einige zu nennen. Ja, Konrad wollte

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