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Die Kuh kennt keinen Galgen: Kriminalroman
Die Kuh kennt keinen Galgen: Kriminalroman
Die Kuh kennt keinen Galgen: Kriminalroman
eBook347 Seiten4 Stunden

Die Kuh kennt keinen Galgen: Kriminalroman

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Über dieses E-Book

Dass bei Milka Mayrs Teilnahme an einer Drückjagd im Hohenlohischen ein Unternehmer umkommt, lässt ihr keine Ruhe. Dass kurz danach ausgerechnet dessen Wettbewerber bei einem höchst merkwürdigen Unfall das Zeitliche segnet - kann nicht sein. Auch Hauptkommissar Eichert erkennt dies nach Milkas hartnäckiger Einmischung. Nur Täter und Motive lassen sich nicht finden. Erst als Milka sich zu weit vorwagt und selbst in Gefahr gerät, wird klar, wo sie suchen müssen. Weit zurück in der Schwäbisch Haller Historie.
SpracheDeutsch
HerausgeberGMEINER
Erscheinungsdatum12. Feb. 2020
ISBN9783839262580
Die Kuh kennt keinen Galgen: Kriminalroman

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    Buchvorschau

    Die Kuh kennt keinen Galgen - Bernd Gunthers

    Impressum

    Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

    Die Kuh kennt keinen Feiertag (2019)

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    Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

    info@gmeiner-verlag.de

    Alle Rechte vorbehalten

    1. Auflage 2020

    Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

    Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

    Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

    unter Verwendung eines Fotos von: © Tobi R. / photocase.dex

    Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

    Printed in Germany

    ISBN 978-3-8392-6258-0

    Haftungsausschluss

    Personen und Handlung sind frei erfunden.

    Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

    sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

    Kapitel 1

    Er stellte seine Heym SR 30 vorsichtig zur Seite, lehnte den Lauf des Repetierers behutsam an die leicht feuchte, raue Bretterverschalung des Anstands und nestelte die Hustenbonbons aus der Seitentasche seiner olivfarbenen Jagdjacke. Ihn fröstelte. Der späte Oktobermorgen hatte sich gut angelassen. Kühl, nicht kalt. Herbstsonne, die versuchte, den durchscheinend milchigen Hochnebel zu durchdringen. Jetzt, am späteren Nachmittag, kraftlos geworden, hatte sie ihren aussichtslosen Kampf aufgegeben, ließ die Herbstfarben der Laubbäume und Sträucher nur feucht und fahl erscheinen, die hochstehenden Tannen und Fichten kalt und bedrohlich. Unwillkürlich griff er nach der Brusttasche, fühlte den Flachmann, nahm die Hand zögerlich zurück. Die Wirkung des italienischen Grappas wäre nicht von nachhaltiger Dauer. Und heute musste auf seine Hand Verlass sein. Sein beinahe regelmäßiges Mucken mit dem kurzen Schließen des Zielauges beim Abkrümmen des Zeigefingers, über das sich seine Jägerkollegen hinter seinem Rücken ironisch mokierend ausließen, war schlimm genug. Wenn dann vom Zielfernrohr ein Kentucky-Monokel dazu kam, gab es ein süffisant-mitleidiges, nur mühsam unterdrücktes Schmunzeln.

    Heute nicht, hatte er sich geschworen. Heute wollte er es allen zeigen. So, wie er es allen mit seiner prosperierenden Firma bewies. Da lachte keiner. Schon gar nicht, wenn die versammelte Jägervereinigung bei ihrer Weihnachtsfeier wieder seine großzügige Jahresspende dankbar entgegennahm.

    Ein prüfender Blick auf die Uhr – nur eine gute Viertelstunde bis zur Aufbrechpause. Die Treiber sollten sich gefälligst ins Zeug legen. Schließlich war das heute eine Drückjagd. Nicht allein die Treiber ärgerten ihn. Auch der Jagdleiter hatte seinen Zorn entfacht. War wieder typisch für Karl Mahle, dass er ihm den schlechtesten Stand zugewiesen hatte. Absolute Randlage. Karls hanebüchene Begründung, von dort aus habe er den sichersten Kugelfang, war bestenfalls geeignet, sein ausgeprägtes Ego weiter anzugreifen. Aber heute würde das alles keine Rolle spielen. Seine Sau würde, hingestreckt auf der rechten Körperseite liegend, den vordersten Platz der Strecke einnehmen. Er sah sich bereits unmittelbar hinter dem Jagdleiter am Kopf der Strecke stehend, dem Wild in die gebrochenen Lichter schauend, hörte die hinter dem Wild aufgestellten Bläser, erblickte die daneben stehenden Treiber.

    Er schüttelte die feuchte Kälte ab, versuchte sich zu konzentrieren und fokussierte sein Fernglas auf eine schmale, gelichtete, nach hinten allmählich ansteigende Fläche zwischen den Bäumen. Tote mausgraue Wurzelstücke ragten, wie amputiert, mit ihrem kurzen Stumpf aus der rauen Erde, abgebrochene Äste streuten über den Boden, einzig ein niedriges Grün von Gräsern und Farn leuchtete aus der farblosen Eintönigkeit. Am linken hinteren Buschrand der Lichtung bewegte sich etwas, hob sich farblich vom helleren Grau des Grundes ab. Er griff nach der Heym, stellte die Vergrößerung des Zielfernrohrs ein. Die Entfernung behagte ihm nicht. So um die 50 Meter wären geradezu perfekt gewesen. Das hier, das waren bestimmt 70 oder gar 80. Das dunkle Grau bewegte sich. Jetzt. Komm schon. Mach einen Schritt, ja noch einen – Jahh, das ist er, Hubertus sei Dank keine führende Bache. Das ist sein Keiler. Ein massiges Haupt, das Gewaff weiß blitzend und gut sichtbar, ausgeprägte Haderer, auch Pinsel und Widerrist sind erkennbar. Und jetzt, die Sau in voller Größe, der Pürzel mit deutlicher, langer und schwarzer Quaste. Die musste mindestens ihre fünf Jahre haben. Ein prächtiges Stück mit nach hinten abfallender Rückenlinie, am Widerrist eine deutliche, einem Karpfenrücken ähnliche Erhebung. Ganz ruhig jetzt. Kein Mucken. Die .308 Win.-Munition wird den Rückstoß der Heym mildern. Der Keiler steht. Wie auf einer Doppelseite von »Jagd und Hund«. Genau auf die Stelle knapp unter dem Schulterblatt. Hat er jetzt, scharf im Fadenkreuz. Keine Angst vor dem Knall, sein aktiver Gehörschutz dämpft das Geräusch. Jetzt nur den Finger ruhig durchziehen. Verdammt, die Sau bewegt sich. Schnell jetzt, ja, er muss ihn getroffen haben, gut getroffen sogar. Er greift nach dem Fernglas, will das Schusszeichen sehen. Seine Hand zittert, der Puls pendelt bestimmt um 100. Der Treffer muss tödlich sein. Und dennoch, die Sau bewegt sich, flüchtet. Verdammt, das darf nicht sein. Er kann mit der Nachsuche nicht bis zur Aufbrechpause warten, die muss ohnehin gleich beginnen. Und, weit kann die Sau bei einem Kammerschuss nicht kommen. Er schultert die Heym, nimmt hastig die zwölf Sprossen der Leiter, entfernt den aktiven Gehörschutz, obwohl der leise Geräusche verstärkt, blickt sich prüfend um, als zwei einzelne Schüsse zu hören sind – nichts zu sehen. Mit ausholenden Schritten eilt er auf die Lichtung zu, den Blick abwechselnd auf den unruhigen Boden und wieder nach vorn gerichtet. Noch 30 Meter, mehr nicht. Jetzt an der Tanne vorbei.

    Er spürt einen plötzlichen Schlag, ein heißes Brennen, hört einen lauten Schuss, fühlt heftigen Schmerz – gleichzeitig, alle Empfindungen gestaucht auf die Zeitspanne einer kurzen Sekunde. Er strauchelt, versucht sich abzufangen, stützt sich mit einer Hand an der Tanne ab, rutscht unkontrolliert am Stamm nach unten, verletzt seine Hand an einem hervorstehenden, scharfen Astansatz, lässt die Heym entgleiten und versucht, sich mit dem Rücken an die Tanne zu lehnen. Die Schmerzen irritieren ihn, hindern lähmend seinen Verstand zu begreifen. Er senkt den Kopf, fühlt mit der linken Hand unter seine Jacke, zieht sie langsam zurück und gewahrt ungläubig das Blut auf seinen kalten Fingern, wischt sie in einem Reflex auf dem Waldboden ab. Er muss jetzt aufstehen, muss unbedingt seiner Sau nach, stützt sich mit der linken Hand ab und schreit auf – der Schmerz ist unerträglich. Über seine Augen legt sich ein matter Schleier, er fühlt sich schwach, schließt die Lider. Das Atmen fällt ihm schwer, wird kurz. Sie werden ihn sicher schnell finden. Und seinen Keiler, der kann nicht weit kommen, muss ganz in der Nähe … Morgen wird er nicht im Büro sein, Gabi, seine Sekretärin, weiß Bescheid. Aber danach muss er sich unbedingt um die Weiterentwicklung des Beschichtungsverfahrens kümmern. Sabine hat etwas von einem Besuch gesagt. Was war das noch? Er hat sie vernachlässigt. Aber daran trägt sie doch die Schuld, die alleinige. Eine Teilnahme am späteren Verblasen der Strecke wird ihm kaum möglich sein. Aber seine Sau wird vorn liegen, ganz vorn. Und sein Geheimnis, seine Last, die er seit Jahren mit sich trägt, das alles wird keiner je erfahren. Das Haus in der Herrngasse. Das darf nie aus der Hand der Familie gegeben werden. Hat er das in seinem Testament verankert? Bestimmt. Es kann gar nicht anders sein. Wie könnte er so etwas vergessen. Warum kommt hier keiner und hilft ihm? Und sucht die Sau. Alles ist so still, keine Schüsse mehr, kein Ruf der Treiber zu hören. Alles so still …

    Kapitel 2

    Der alte Wecker auf ihrem Nachttisch meldete sich kurz vor sechs Uhr mit einem batterieschwachen Rappeln, schreckte Milka hoch, obwohl sie bereits seit Minuten wach lag und kritische Details ihrer letzten Marketingkonzeption im Kopf hin und her wälzte. Seit einem guten Jahr hatte sich auf dem Hof viel verändert. Manches befand sich nur auf dem Papier, suchte nach einer soliden Finanzierung. Einiges, in der entscheidenden Erprobungsphase, zeigte erste Knospenbildung – um in der landwirtschaftlichen Sprache zu bleiben. Der Hofladen und der Online-Vertrieb spezieller Produkte, um den sie sich persönlich kümmerte, hatte sich bereits zum Ertragsbringer entwickelt, war weiter am Wachsen – wenn auch noch keine Cash Cow. Milka schmunzelte, als sie erstmals über diesen Begriff gestolpert war. Nein, für die Kühe war sie jetzt nicht mehr zuständig. Dem Rhythmus von inzwischen 15 Jahren in der Landwirtschaft allerdings würde sie sich kaum mehr entziehen können.

    Der hellbeige Lamellenvorhang vor ihrem ins ruhige Grün orientierten Fenster ließ einen ersten Grauschimmer durch, es könnte ein schöner Oktobertag werden. Milka beeilte sich. Ihr Bruder Christoph feierte heute Geburtstag, den 39. Der Dreijahresabstand zu ihr war wieder hergestellt. Die kleine Feier würde heute am späteren Abend sein, wobei der Begriff eine maßlose Übertreibung darstellte. Es war eigentlich nur eine kleine Auszeit, bei der sich alle zu einem Glas Wein zusammenfanden. Aber zumindest ein gedeckter Geburtstagstisch zum Frühstück musste sein, und Bettina, Christophs Frau, war morgens eh mit ihren beiden Kindern Jonas und Laura, die später zur Schule oder zum Bus gebracht werden wollten, stets ausgelastet.

    Milkas Augen streiften verstohlen prüfend über den geschmückten Geburtstagstisch, dessen massive, gemaserte Holzplatte am heutigen Morgen, selten genug, von einer weißen Tischdecke mit scharfen Bügelfalten überzogen war. Ihre Mutter Karin war noch früher aufgestanden. Um einen bunten Herbststrauß gruppierten sich, exakt verteilt auf zwölf, auf drei, auf sechs und auf neun Uhr vier dicke Kerzen. Ihre Mutter musste sich beim Alter verzählt haben. Erst mit Vierzig gab es vier. Und das blieb so, bis bei Christophs Alter eine 5 vorn stand. Ihr fiel auf, dass eine der Kerzen heller strahlte, augenscheinlich ein Ersatz für eine der bereits weitgehend abgebrannten.

    Bettina musste früh beim Bäcker in Bühlerzell gewesen sein. Im geflochtenen Korb lagen duftende Mohnbrötchen, leckere Brigel und Krusti, eine Auswahl, die wirklich nicht jeden Tag auf den Mayrschen Tisch kam. Sie selbst hatte gestern einen Gugelhupf gebacken, den sie energisch gegen die drängelnden Kostversuche von Bettinas Kindern verteidigen musste.

    Milka hielt sich aus der plötzlich ausgebrochenen und geburtstagsfernen Diskussion über das Für und Wider eines Angebotskonzepts, das ökologisch orientierten Kunden gegen einen festen Monatsbetrag jede Woche eine Lieferung frischen, saisonalen Gemüses versprach, tunlichst heraus. Sie hatte, auch aufgrund harter wirtschaftlicher Daten, eine eigene Meinung. Und gewöhnlich drückte sie sich unmissverständlich aus, ging keinem Disput aus dem Weg. Aber: nicht hier und nicht jetzt. Da die Diskussion ergebnislos verlief, bröckelte die Runde. Bettina musste die Rangen wegbringen, Milkas Vater Georg, an dem das spezielle Thema ohnehin vorbeiging, hatte bereits zuvor zwei Fluchtversuche unternommen, war aber durch allgemeines Stirnrunzeln ausgebremst worden, und Christoph reichte wenig später ein hingemurmelter Satz, dem nur das Wort Trecker verständlich entnommen werden konnte, um sich auf den Weg zu machen.

    Milka goss sich eine zweite Tasse Kaffee ein, ihre Mutter war dabei, den Tisch aufzuräumen, als Sebastian Wild mit seinem Deutsch Kurzhaar hereinplatzte. Eine merkwürdige Zeit für ihn, wäre da nicht Christophs Geburtstag gewesen.

    »Solltest du an diesem frühen Morgen nicht auf irgendeinem Anstand sitzen und die Fauna beobachten, wenn nicht dezimieren, Sebastian?«, begrüßte Milka den ehemaligen Kreisjägermeister, ohne ihre Überraschung zu verbergen. »Oder willst du Christoph zum Geburtstag …«

    »Himmel«, fuhr Sebastian Wild dazwischen, »den hab ich total vergessen, den Geburtstag meine ich. Das kommt einfach …«

    Jetzt unterbrach Milka, den flehenden Blick des Deutsch Kurzhaar richtig interpretierend. Der wollte was. »Dein Hund hat mich jedenfalls nicht vergessen, was bekommt der? Und du? Einen Kaffee?«

    Sebastian sprach und schälte sich zugleich aus diversen oliv- und grünfarbenen Kleidungsschichten, setzte sogar seinen Hut ab. »Wir haben da ein Problem, und da dachten …«

    »Und wer bitte ist wir?«

    In einem Tonfall, als müsse Milka das doch antizipiert haben, »na ich und der Karl, weil …«

    »Vielleicht Karl Mahle, dein Nachfolger?«

    »Sag ich doch. Weil wir momentan eine Drückjagd planen.« Er griff nach der Tasse, hätte wissen können, dass der Kaffee heiß war.

    »Und?«

    »Und da fehlt uns jemand. Wir brauchen dringend einen weiteren Treiberführer.« Sebastian Wild nickte mehrmals bekräftigend, folgte mit seinem Blick Milka. Der Deutsch Kurzhaar wedelte heftig mit der Rute, Milkas Gang in die Küche richtig interpretierend.

    »Oder eine Treiberführerin, stimmt’s?«, meinte Milka und steckte dem Hund einen Wurstzipfel zu.

    »Richtig«, bestätigte Sebastian und nahm, jetzt vorsichtig, einen weiteren Schluck. »Wir werden zwei Treibergruppen haben, so vier bis fünf Treiber jeweils. Eine führe ich, da sind einige Auswärtige dabei, die andere du. Schließlich hast du im Frühjahr deinen Jagdschein abgelegt und kennst dich im Gebiet bestens aus. Optimale Voraussetzungen also. Gib mir bitte, bitte keinen Korb.«

    »Gib es zu, Sebastian, du hast Karl bereits meine Zustimmung signalisiert.« Milka musterte ihn, wollte seine Reaktion genau ablesen. Sein grauer Schnurrbart, den er sich seit Kurzem zugelegt hatte, wurde heute ergänzt durch graue Bartstoppeln, die morgendliche Rasur war anscheinend ausgefallen. Seine 67 Jahre sah man ihm nicht an. Sein volles Gesicht war gebräunt, wettergegerbt von seinen regelmäßigen Streifzügen durch Wald und Flur. Jetzt wich er Milka aus, blickte einigermaßen verlegen auf seinen Hut mit der Eichelhäherfeder, deren Außenfahne eine wunderbare Zeichnung hellblauer und dunkler Streifen zeigte, die Innenfahne ein warmes Grau unterschiedlicher Schattierung.

    »Ja schon«, druckste er herum.

    »Hab ich mir gedacht. Und wann soll das sein?«

    »Heute Nachmittag.«

    »Echt jetzt? Das ist nicht dein Ernst?«

    »Was heißt ›echt jetzt‹?«

    »Entschuldige, hab ich von Laura übernommen. Kennst du nicht.«

    Sebastian Wild streichelte seinen Deutsch Kurzhaar, der nach Verzehr des Wurstzipfels, es war gerade mal ein Schnapp, in aufmerksamer Sitzposition neben seinem Herrchen auf Action wartete, und suchte zu Milkas stiller Erheiterung verzweifelt nach überzeugenden Argumenten. »Wir könnten unsere Wildsalamilieferung an euren Hofladen um, mhm, na ja, sagen wir um 30 Prozent erhöhen.«

    »Das hattest du uns bereits vor vier Wochen zugesagt, Sebastian – und nur in Prozent hört sich das toll an«, konterte Milka trocken, wollte den Onkel ihres Freundes Paul, Kriminalhauptkommissar in Schwäbisch Hall, andererseits nicht im Regen stehen lassen. »Also gut, und wann und wo soll das heute losgehen?«

    »Ich hab dir den Jagdablaufplan mitgebracht.« Im Begriff, in seiner Jagdtasche aus braunem Nubukleder zu suchen, winkte Milka ab: »Gib’s mir später.«

    »Um 14.00 Uhr beginnt die Einweisung durch den Jagdleiter, du solltest also mindestens eine Viertelstunde zuvor da sein. Bekleidung muss ich dir nicht erklären. Machete mit Griff und Lederriemen, Stock und Handy, und denk an die Handschuhe gegen Brombeerverhaue. Alles Weitere, auch Warnweste, Druckverbände, Trinksystem und so erhältst du bei der Einweisung.«

    »Pistole zum Selbstschutz?«

    »Ich bring dir meinen Revolver Kaliber 357 mit. Ich nehm dann entweder meinen Repetierer oder den altbewährten Krieghoff Drilling.«

    »Gut, und wo genau muss ich hin?«

    »Zur Jagdhütte an der Sauklinge, westlich Dörrenzimmern. Dort findet auch die Einweisung statt.«

    »Hm, hat sich der Golfclub beim Mahle beschwert, weil die Schwarzkittel wieder mal die Grüns umgepflügt haben?«

    »Nix da. Die haben einen Elektrozaun gezogen. Seither ist weitgehend Ruhe.« Sebastian Wild wollte seinem Hund beruhigend über den Kopf streichen, griff aber ins Leere. Angesichts anhaltender Tatenlosigkeit hatte der Platz gemacht und schielte mit einem Auge nach dem schwarzen Haus- und Hofkater der Mayrs, der nach einer strapaziösen nächtlichen Mäusejagd friedlich in seinem Korb in der Zimmerecke döste. Man kannte und akzeptierte sich, schließlich wusste der Deutsch Kurzhaar, dass es sich nicht um ein jagdbares Wild handelte. »Du leitest eine Wehr mit fünf Treibern, ich ebenfalls. Wir werden wohl um die neun oder zehn Jäger sein, einige davon kommen von auswärts.«

    »Wer ist dabei?«

    »Muss ich auf die Liste sehen. Die beiden Brüder Nagel, der Steiner, Mahle natürlich – steht alles auf dem Ablaufplan.« Er griff erneut nach seiner Jagdtasche und holte einige gefaltete Seiten heraus. »Auch das Revier ist eingezeichnet – da stoßen übrigens zwei zusammen.«

    »Gut, Sebastian. Und jetzt lass mich bitte noch etwas arbeiten, ich werde zeitig da sein. – Und wenn dir draußen Christoph über den Weg läuft – denk dran …«

    Ein dünner Hochnebel ließ den Sonnenstand nur ahnen, als Milka Mayr bei der Jagdhütte eintraf. Sie war nicht die Erste. Diverse Kombis, SUVs und Pick-ups standen bereits auf dem Parkplatz, weiter vorn erkannte sie Sebastians neuen, silberfarbenen Kodiaq. Sie fuhr ihren Karoq bis knapp an die Abgrenzung, entnahm ihre Ausrüstung und wollte gerade abschließen, als Adolph Nagel seinen E-Klasse Kombi neben ihr abstellte. Allzu viel wusste sie nicht von ihm. Etwa 64 Jahre alt, kinderlos und Inhaber eines erfolgreichen mittelständischen Unternehmens im Bereich der Metallverarbeitung und Teilefertigung für die Autoindustrie. Und Oldtimer-Fan. Daher kannte man sich auch. Allerdings lagen Welten zwischen Milkas 1964er Käfer, Zwölfhunderter Maschine, der sich, allen Unkenrufen Christophs und ihres Vaters zum Trotz, im Endstadium der Restaurierung befand, und seinem 59er Jaguar XK 150 DHC Cabrio in Carmen red mit beigen Ledersitzen.

    Wie stets trug er seine dünnen, graublonden Haare mit einem Präzisionsscheitel akkurat kurz geschnitten, sodass die Kopfhaut durchschimmerte. Seine Augenbrauen gleicher Farbe fielen auffallend kurz aus, die randlose Brille reichte weit über die Brauen hinaus. Seine kleine Nase wahrte gehörigen Abstand zu dem schmallippigen Mund. Die rosa Gesichtsfarbe vermittelte den Eindruck, als wäre er bereits eine gute Stunde auf Pirsch gewesen. Sie tauschten einige belanglose Sätze über die bevorstehende Drückjagd und die für Juni nächsten Jahres geplante Langenburg Historic aus, bis Adolph Nagel dem Kombi sämtliche Ausrüstung entnommen und abgeschlossen hatte. Gemeinsam gingen sie auf die Hütte zu. Milka fiel auf, dass alles, was Adolph Nagel trug, so aussah, als trete er soeben aus der Umkleidekabine eines Jagdausstatters. Nur, dass Etiketten und Preisschild fehlten.

    Die Jagdhütte, in massiver Blockbauweise errichtet, schmiegte sich lang gestreckt in die hintere Ecke einer gelichteten Fläche, die von einem hohen Baumbestand eingefasst wurde. Die dunkelbraune, beinahe schwärzliche Farbe der Rundholzstämme zeugte, ebenso wie die Holzschindeln des geneigten Dachs, von einer langjährigen Bewitterung. An der wettergeschützten Seite stapelten sich Brennholzscheite bis unter die Fenster, deren hölzerne Klappläden geöffnet waren. Dahinter, vom Haus abgesetzt, stand ein hölzerner »Galgen«. Hier würde später das Wild, an den Haken hängend, aufgebrochen. Eine Gruppe von mindestens zwölf Personen, Jäger und Treiber, stand bereits auf der vorgebauten Veranda, die sich in L-Form um Front- und eine Giebelseite erstreckte.

    Karl Mahle, Kreisjägermeister und heute Jagdleiter, löste sich aus der Gruppe, als er Milka und Adolph Nagel bemerkte, die gerade die drei Stufen zur Veranda nahmen. Sein rundliches Gesicht strahlte unter grauschwarzen Haaren, mit seinem alpenvorländischen Schnurrbart konnte Sebastians Schnauzer noch nicht konkurrieren. Seine Figur ging gerade so als beleibt durch – mit einer durchgehenden Körperwölbung, die ein offen stehender, grauer Loden-Parka unschwer erkennen ließ. »Sebastian hat mir berichtet. Ich freue mich ganz außerordentlich, Frau Mayr, dass Sie eingesprungen sind. Ohne Sie hätten wir jetzt ein großes Problem.« Die Begrüßung fiel überschwänglich aus, Milka nickte nur, während der Kreisjägermeister sich bereits an ihren Begleiter wandte. »Adolph, ich freue mich riesig, dass du dich aus deinem Betrieb lösen konntest. Ich weiß, wie schwer dir das fällt.« Da Adolph Nagel eher schmal und schlank gebaut war, gab es bei der herzlichen Umarmung keine unüberwindbaren Schwierigkeiten. Milka wusste, warum Karl Mahle eine nahezu überbordende Freundlichkeit an den Tag legte: Adolph Nagel zählte zu den großzügigsten Spendern der Jägervereinigung.

    Es brauchte eine gute Viertelstunde, die Milka nutzte, ihre Treiber kennenzulernen und in die Besonderheiten der aktuellen Jagd einzuweisen, bis Karl Mahle zur Sicherheit alle Jagdscheine überprüft hatte, die Anwesenheitslisten für Treiber und Schützen mit Unterschriften versehen waren und er mit seinem Heldenbariton die versammelte Gesellschaft, inzwischen zehn Treiber und neun Jäger, für seine Begrüßung zur Ruhe bringen konnte.

    Milka, im Kreis ihrer Treiberwehr, folgte aufmerksam den ausführlichen Informationen und Verhaltensregeln. Wichtige Daten, so auch die Jagdzeiten, die Dauer der Aufbrechpause und Telefonnummern für Notfälle waren auf der Standkarte verzeichnet.

    Nach einem herrschaftlichen Rundblick über »seine Häupter« holte Karl Mahle bühnenreif zum Epilog aus. »Nachdem wir alle nun auch den Uhrenvergleich hinter uns haben: Lassen Sie uns heute kräftig Strecke machen beim Schwarzwild. Frischlinge, Überläufer, nicht-führende Bachen und Keiler. Und bitte keine führende Bache und schon gar nicht die Leitbache! Kam das an?« Den Pflichten entsprechend ging der Kreisjägermeister auf die umfangreichen Sicherheitsbestimmungen ein. In das aufkommende Gemurmel, die Regelungen waren hinreichend bekannt, donnerte Mahles Stimme: »Und denken Sie dran: Das Schießen in Richtung der Treiberwehren ist absolut verboten! Führt zum sofortigen Abbruch der Jagd, da kenne ich keine Gnade. Eine selbstständige Nachsuche ist nicht erlaubt! Sie kennzeichnen nur den Anschuss! Und während der Aufbrechpause gilt: Hahn in Ruh! Ich wünsche uns allen einen erfolgreichen, unfallfreien Jagdtag.« Er holte tief Atem. »Nach dem Jagdhornsignal ›Aufbruch zur Jagd Halali‹ bitte alle Schützen bei Sebastian Wild und Milka Mayr einfinden. Bei Fragen weisen sie die Stände ein und informieren über den Schussbereich.«

    Sebastian Wild hatte Vorsorge getroffen und Milka einen Plan für ihren Treiberbereich zugesteckt, die Wechsel erläutert. Milka kannte das Gebiet, von der Topografie und vom Bewuchs her nicht unproblematisch. Kleine Einschnitte und niedriges, dicht gewachsenes Gehölz würde ihren Weg immer wieder schwierig gestalten. Einer ihrer Treiber, Peter Ulrich, führte einen rot-braunen Deutschen Jagdterrier. Sein Signalgeschirr mit angenähter Handynummer passte farblich. »Nur anrufen kann man ihn nicht«, meinte er ironisch, als Milka die Warnweste musterte. Es ging los.

    Gewöhnlich genoss Milka einen Streifzug durch den Wald, am liebsten im Frühjahr oder wie jetzt im Herbst. Die Luft, die alle paar Meter neue Aromen bescherte, die Farben und Farbschattierungen, der Wechsel von tristem Braungrau unter den Fichten zum satten Grün in einer kleinen gerodeten Fläche, das vielfältig von Sträuchern, Schlehen, Himbeeren, Haselnuss und Wacholder, von Disteln, leuchtenden Fliegenpilzen und hochschießenden Trieben unterbrochen wird. Und jetzt: nichts von alledem. Obwohl sie sich eher langsam vorwärts arbeiten würden. Das Wild sollte bewegt, nicht in Panik versetzt werden. Bewegt in Richtung der Wechsel. Milka gab genaue Anweisungen und Vorgaben an die Treiber. Es galt, sich auf die vor ihnen liegende Umgebung zu konzentrieren, rechtzeitig auf Unterholz, Hindernisse oder Sträucher zu achten. Und nicht die Kontrolle über die Treiber zu verlieren. Die Treiberwehr musste sich in einer Linie bewegen, immer wieder aufeinander zu und voneinander weg gehen, um Wild nicht zu überlaufen. Langsam und ruhig, mit dem Stock auf Erde und Büsche schlagen, gegen Bäume klopfen. Ab und zu gab Milka das Kommando »Richtung«. Trotz aller Umsicht gelang es Milka nicht, all ihre Treiber ständig im Auge zu halten. Je nach Gelände betrug der Abstand zwischen ihren Treibern bis zu 40 oder 50 Meter. Auch Peter Ulrich verlor sie mehrmals. Ihm hatte sie, wegen seines Hundes, die einfachere Wegstrecke zugewiesen.

    Milka blickte auf ihre Uhr. Reichlich Zeit bis zur Aufbrechpause. Die war mit kurzen 30 Minuten angesetzt und verdiente ihren Namen eigentlich nicht. Das Wild würde nicht vom Schützen aufgebrochen, sondern lediglich geborgen und dann mit einem Hänger zum Streckenplatz gebracht werden. Sie arbeitete sich, den linken Arm gebeugt und schützend vor ihr Gesicht haltend, gerade durch einige dornenbewehrte Sträucher, als der Knall erster Gewehrschüsse zu hören war. Sie kreuzten einen Wanderweg, Milka bemerkte die in einiger Entfernung am Wegrand positionierten Warnschilder. Weit entfernt, ebenfalls den Weg kreuzend, meinte sie, Sebastian Wild mit seiner Truppe zu erkennen. Peter mit seinem Hund musste ihnen am nächsten sein. »Weiter!«, gab Milka ein lautes Kommando. Sie führte ihre Treiberwehr jetzt über leicht abschüssiges Gelände bis zum nächsten Forstweg, prüfte erneut die Uhrzeit. Perfektes Timing. Die Schüsse verhallten. Ruhe. Bergungs-, nicht Aufbrechpause, sagte sich Milka. Kurz danach kam ein Pick-up mit Hänger vorbei, hielt kurz und verteilte ein Vesper.

    Die Jagd war zu Ende. Milka traf mit ihrer Treiberwehr beim Forsthaus ein, nahezu zeitgleich mit Sebastian und seiner Truppe. Es war kühl geworden, die Dämmerung eingebrochen. Milka drängelte ein wenig, um sich an der Feuertonne aufzuwärmen, sah zu, wie die ersten Hänger mit dem erlegten Wild eintrafen. Die Nachsuche würde noch dauern. Sebastian organisierte das Aufbrechen des Wilds.

    Richard Nagel, Adolphs Bruder, vielleicht vier oder fünf Jahre jünger, strubbelige Blondhaare, ein grauer Bartanflug um das kantige Kinn, kam mit einer großen Tasse dampfenden Eintopfs auf Milka zu. Nun ja, sie war heute das einzige weibliche Wesen der Jagdgesellschaft. Sie zeigte die Andeutung eines Lächelns: »Vielen Dank, das tut jetzt sicher gut. Waidmannsheil.«

    »Danke, war bescheiden heute – zumindest für mich. Ihre Treiber haben mir nix Gescheites vor den Lauf gebracht.«

    Noch vor wenigen Jahren hätte

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