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Über dieses E-Book

In den letzten zweiundzwanzig Jahren hatte sich Martin Steigle in der DSB Bank einen ausgezeichneten Ruf erarbeitet. Dank seiner umgänglichen Art und einer kleinen Portion Glück war er über das Kadernachwuchsprogramm in die Bank gekommen. Mit der Neuausrichtung des Sponsorings hatte er sich im Unternehmen rasch einen Namen gemacht. Dies hatte auch der CEO bemerkt, der ihn als Verantwortlichen für Sonderprojekte in die erweiterte Geschäftsleitung holte. Einige Jahre später stolperte der CEO über dubiose Geschäfte eines seiner Mitarbeitenden und musste den Hut nehmen. Als der Nachfolger nach Bekanntgabe der Reorganisation des Unternehmens Martin Steigle versicherte, er würde vom Stellenabbau nicht betroffen sein, stellte sich das nach einigen Wochen als glatte Lüge heraus. Mit fünfundfünfzig Jahren und mehr als zwanzig Jahren Firmentreue drohte Martin Steigle von einem Moment auf den anderen die Arbeitslosigkeit. Im ersten Moment von dieser Situation überfordert, traf er einen folgenschweren Entscheid, der ihm nicht nur eine bittere Zeit bescherte, sondern seine Familie an den Rand des Abgrunds brachte.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum5. Apr. 2019
ISBN9783952393666
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    Buchvorschau

    Noch 90 Tage - Daniel Thomet

    1. Noch Neunzig Tage

    Die Dämmerung setzte bereits ein. Am Himmel waren nur noch ein paar einzelne Sterne zu erkennen. Eine laue Brise wehte von Nordosten über die Stadt und brachte ein wenig Abkühlung mit sich. Mit zwanzig Grad war es für einen Novembermorgen jedoch deutlich zu warm. Glaubte man den Meteorologen, so war dies seit Beginn der Aufzeichnungen die höchste Temperatur, die je im November gemessen worden war. Seit mehreren Wochen hatte sich ein Hochdruckgebiet über der Schweiz etabliert und sorgte für dieses ungewöhnliche Wetterphänomen. Überall in den Zeitungen war zu lesen, dies sei endgültig ein Beweis für die von Menschen verursachte Erderwärmung. Sollte jetzt nicht endlich ein Umdenken erfolgen, so stünde die Menschheit am Rande des Abgrunds. Zumindest an diesem Morgen schienen diese Schlagzeilen jedoch die wenigsten zu interessieren. Bereits um zwanzig nach sechs Uhr herrschte im Bahnhof Bern reger Betrieb. Die ersten Züge waren vor über einer Stunde eingetroffen und im grossen Verbindungstunnel strebten hunderte von Pendlern ihren Arbeitsplätzen entgegen.

    Martin Steigle war mit einer der ersten S-Bahnen in Bern eingetroffen. Am frühen Morgen waren die Züge noch nicht so überfüllt. Zu den Stosszeiten, wenn die Masse der Pendler sich in Bewegung setzte, quollen die Züge vor Leuten nur so über. Dann war die Reise mit den öffentlichen Verkehrsmitteln eine absolute Zumutung. Es lohnte sich daher etwas früher aufzustehen, um den Arbeitsweg unter akzeptablen Bedingungen hinter sich zu bringen.

    Trotz der speziellen Rahmenbedingungen setzte Martin Steigle für seinen Arbeitsweg auf die Zuverlässigkeit der Bahn. Mit dem Auto in die Stadt zu gelangen, war keine wirkliche Alternative. Die Politiker der Hauptstadt hatten in den letzten Jahren alles getan, um Bern für den Privatverkehr so unattraktiv wie möglich zu gestalten. Sie setzten alle Energie in den Ausbau des öffentlichen Verkehrs, auch wenn in den Stosszeiten die Reisenden das System an den Rand des Zusammenbruchs brachten.

    Nachdem Martin Steigle den Zug verlassen und die Treppe vom Perron in die grosse Verbindungspassage hinabgestiegen war, wandte er sich zu der Haupthalle mit den Rolltreppen, die ins Zentrum führten. Er verliess den Bahnhof jedoch nicht Richtung Stadt, sondern begab sich in die darüber liegende Etage. Dort, ein wenig abseits vom grossen Strom der Passagiere, war ein gemütliches Restaurant, welches bereits ab halb sechs Uhr morgens geöffnet hatte. Als er das Lokal betrat, nickten ihm zwei der Angestellten freundlich lächelnd zu. Die meisten von ihnen kannten den älteren, immer gut angezogenen Herrn in der Zwischenzeit. Wie üblich, war er einer der ersten Gäste. Zielstrebig begab er sich in den hintersten Winkel des Raumes, um sich dort an einen Fensterplatz zu setzen.

    Seit mehr als einem Jahr kam Martin Steigle an mehreren Tagen pro Woche früh morgens in das ruhige Restaurant. Mittlerweile gehörte er zu den Stammgästen. Kaum dass er sich gesetzt hatte, kam auch schon eine der Kellnerinnen auf ihn zu.

    „Hallo Herr Steigle, das Übliche?"

    „Guten Morgen Aurelie. Nein danke, heute nicht das Übliche. Ich hätte heute lieber einen doppelten Espresso."

    Er schien einen Moment zu überlegen.

    „Ach ja, Aurelie, wenn es möglich wäre, hätte ich gerne noch zwei Gipfeli dazu. Danke."

    Die Kellnerin nickte und entfernte sich, um das Bestellte zu holen.

    Martin Steigle legte seinen Aktenkoffer auf den Stuhl neben sich, öffnete ihn und entnahm seine Agenda. Die Seite vom Mittwoch dem ersten Dezember war dicht mit Einträgen gefüllt. Darunter auch einige Notizen, die längst nicht mehr aktuell waren. Eigentlich führte Martin seinen Terminplaner ansonsten immer peinlich genau. In der letzten Zeit hatte jedoch die Disziplin, mit der er die Agenda führte, deutlich gelitten. Fast ein wenig lustlos blätterte er ein paar Seiten zurück und wieder nach vorn.

    Unter den zahlreichen Einträgen stach einer besonders hervor. Rechts neben dem Datum war die Zahl Neunzig eingetragen und mit einem roten Kugelschreiber eingekreist. Dieser Eintrag war aktuell und hatte für Martin eine hohe Bedeutung. Als er sich die Zahl ansah, atmete er einmal tief durch. Noch neunzig Tage und dann war seine Zeit im Jobcenter nach zwei Jahren endgültig abgelaufen. Lars Bickel, sein Berater, würde ihn heute zweifellos daran erinnern. Das Gespräch würde vermutlich nicht angenehm ausfallen. Seinem Berater konnte er deswegen keinen Vorwurf machen. Er ging jeweils mit dem grösstmöglichen Fingerspitzengefühl vor und machte seine Sache in Anbetracht der schwierigen Umstände ausgezeichnet. Martin konnte kaum glauben, dass seit ihrer letzten Sitzung schon wieder zwei Wochen vergangen waren. Die Zeit verstrich einfach viel zu schnell. Stunden wurden zu Tagen, Tage zu Wochen und Wochen zu Monaten.

    Er klappte seine Agenda zu, legte sie zurück in den Aktenkoffer und nahm stattdessen seinen Tablet PC hervor. Ausser dem Termin bei Lars Bickel hatte er heute keine anderen Verpflichtungen zu erfüllen. Der Termin war erst gegen elf Uhr dreissig. Das bedeutete, er hatte noch genug Zeit, um zu lesen oder einige Unterlagen durchzuarbeiten. Nicht gerade seine Lieblingsbeschäftigung, aber immer noch besser, als einfach nur herumzusitzen und zu grübeln.

    In dem Moment trat die Kellnerin an seinen Tisch. Sie brachte den doppelten Espresso und ein Körbchen voll mit Gipfeli. Martin Steigle bedankte sich und nahm einen Schluck des heissen Getränks. Dann lehnte er sich zurück und starrte einen Moment lang gedankenverloren aus dem Fenster. Die letzten Monate waren alles andere als einfach gewesen und auch für die Zukunft sah es nicht gerade rosig aus. Wie in den vergangenen Wochen setzte er immer noch Hoffnungen in seinen Berater. Möglicherweise war es ihm ja in der Zwischenzeit gelungen, eine Lösung für sein grösstes Problem zu finden. Martins Zuversicht war jedoch nicht mehr so gross wie auch schon. Die Aussicht auf eine positive Entwicklung der Dinge, sank von Termin zu Termin. Er würde jedoch keinesfalls einfach aufgeben und sich mit seinem Schicksal abfinden. Solange die neunzig Tage nicht abgelaufen waren, gab es immer noch Hoffnung und an diese Hoffnung klammerte er sich. Nach all den Jahren harter Arbeit in der Firma konnte nicht einfach alles so enden.

    Martin Steigle war fünfundfünfzig Jahre alt. Die letzten achtundzwanzig Jahre hatte er im gleichen Unternehmen gearbeitet. Im Moment konnte er jedoch nicht gerade sagen, dass er darauf besonders stolz war. Nicht nach den Erlebnissen der letzten Wochen und Monate.

    Seine Jugend verbrachte Martin Steigle im Geisshubel in der Nähe von Dürrenbühl. Als mittleres von drei Kindern eines Amtstierarztes, war er in einer eher bürgerlichen und ländlichen Umgebung aufgewachsen. Neben seiner um ein Jahr älteren Schwester Susanne, hatte er auch noch einen jüngeren Bruder. Hanspeter war fünf Jahre jünger als Martin und das Sorgenkind der Familie. Aufgrund einer als Autismus diagnostizierten Verhaltens- respektive Entwicklungsstörung, beanspruchte der jüngste Spross der Familie einen grossen Teil der Aufmerksamkeit seiner Eltern. Dass als Konsequenz davon die beiden anderen Kinder häufig hinten anstehen mussten, war eine logische Folge dieser Situation. Die Auswirkungen zeigten sich unter anderem in Martins schulischen Leistungen. Er war gerade einmal ein durchschnittlicher Schüler, der weder durch negative noch durch positive Ergebnisse besonders auffiel. Wenn er überhaupt eine Vorliebe hatte, so galt diese den mathematischen und den naturwissenschaftlichen Fächern. Sprachen und handwerkliche Fächer hingegen, gehörten nicht gerade zu seinen Lieblingsbeschäftigungen in der Schule.

    Das Erstaunen hielt sich deshalb in Grenzen, als Martin den Sprung in die Sekundarschule nicht schaffte. Die Eltern schrieben dies ohne lange darüber nachzudenken den speziellen Umständen in der Familie zu. Insgeheim machte sich jedoch Martins Vater Vorwürfe. Er bekundete mit der Situation Mühe. Wäre es nach seinem Willen gegangen, so hätte er nur allzu gerne allen Kindern die gleiche Aufmerksamkeit zukommen lassen. Aufgrund der speziellen Situation mit seinem jüngsten Sohn, war er jedoch gezwungen mit Kompromissen zu leben.

    Bei seinen Schulkollegen war Martin akzeptiert, mehr aber auch nicht. Die Führungsrolle in der Klasse hatten andere inne. Zumindest wurde er aufgrund seiner Grösse und Kraft nicht ausgegrenzt. Nach einem oder zwei Gerangel sahen die Kampfhähne der Klasse rasch einmal ein, dass es nicht gesundheitsfördernd war, sich mit ihm anzulegen. Er brachte deshalb die Schulzeit ohne zu brillieren aber auch ohne nennenswerte Probleme hinter sich. Als es im achten Schuljahr schliesslich um die Berufswahl ging, waren seine Aussichten nicht eben rosig. Die Abklärungen bei der Berufsberatung ergaben, dass eine handwerkliche Ausbildung oder ein Beruf in der Natur einem Büroberuf vorzuziehen wären. Die Analyse der Berufsberaterin stützte sich dabei in erster Linie auf einige Tests, sowie die ungenügenden Noten in den Sprachen in seinen Zeugnissen. Martin hatte an dieser Schlussfolgerung gar keine Freude. Er hatte weder Lust auf einen Handwerksberuf, noch wollte er seine Lehre bei jeder Witterung im Freien verbringen. Nachdem er sechs Schnupperwochen in verschiedenen Berufen hinter sich gebracht hatte, stand für ihn fest, nur eine kaufmännische oder eine technische Ausbildung kamen für ihn in Frage. Gegen alles andere stemmte er sich vehement. Erst als er mehr als siebzig Bewerbungen geschrieben und ebenso viele Absagen erhalten hatte, kamen ihm erste Zweifel, ob sein Entschluss wirklich richtig war. Möglicherweise musste er auf seinen Entscheid zurückkommen, selbst wenn es ihm völlig gegen den Strich ging.

    In dieser für Martin ungemütlichen Situation kam ihm sein Vater zu Hilfe. Dank seiner Beziehungen konnte er seinem Sohn, trotz der nicht gerade überzeugenden Noten in den Sprachen, eine kaufmännische Lehrstelle in der Gemeindeverwaltung vermitteln. Als er Martin die freudige Botschaft überbrachte, sprach er ihm gleichzeitig auch ins Gewissen. „Ich wäre dir dankbar, wenn du dir während der Lehre Mühe geben würdest. Es hat mich viel Überzeugungskraft gekostet, dir diese Stelle zu besorgen und ich habe mich dafür verbürgt, dass du dich einsetzen wirst."

    Martin nahm sich die sachliche und ohne Emotionen vorgetragene Ermahnung zu Herzen. Er arbeitete vom ersten Tag an hart, liess sich nicht unnötig ablenken und brachte so die Lehre ohne grössere Schwierigkeiten hinter sich. Dennoch war er froh, als die Ausbildung nach drei Jahren vorüber war. Mit einer viereinhalb als Abschlussnote lag er im hinteren Mittelfeld. Immerhin hatte er die Prüfung bestanden, was nicht auf alle in seiner Klasse zutraf. Zwei seiner Kollegen mussten die Prüfung wiederholen und deren Lehrmeister waren darüber alles andere als begeistert. Sein Lehrmeister zeigte sich dankbar, dass er die Prüfung erfolgreich abgeschlossen hatte. Trotzdem gab es für ihn jedoch keine Möglichkeit einer Weiterbeschäftigung nach der Lehre. Nicht aufgrund seiner Leistung oder weil man ihn nicht geschätzt hätte. Ganz im Gegenteil. Als stiller und zuverlässiger Mitarbeiter war er bei allen Angestellten der Gemeinde äusserst beliebt gewesen. Die Erfahrungen mit dem ersten Lehrling seit Jahren, waren aus Sicht der Verantwortlichen in der Gemeinde positiv ausgefallen. In der Gemeindeverwaltung entschied man sich deshalb, erneut einem Schulabgänger eine Chance zu geben, die kaufmännische Lehre zu absolvieren. Zumindest kam die Gemeindeverwaltung Martin entgegen, indem sie ihm eine Beschäftigung bis zur Rekrutenschule anbot, was dieser dankbar annahm.

    Nach der Rekrutenschule war er gezwungen, sich eine neue Stelle zu suchen. Ein kaufmännischer Lehrabschluss in einer Gemeindeverwaltung schien zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht gefragt zu sein. Damit besass er nicht die besten Karten auf dem Arbeitsmarkt. Obwohl der junge Berufsmann, wie schon für die Lehrstelle, dutzende von Bewerbungen schrieb, stand er auch neun Monate nach Ende der Lehre immer noch ohne Anstellung da. Bei Martin begannen sich erste Zeichen von Frustration einzustellen.

    Erneut kam ihm in dieser Situation sein Vater zu Hilfe. Im Gegensatz zu der Lehrstelle konnte er dieses Mal seinem Sohn keine Stelle als kaufmännischer Angestellter vermitteln. Er hatte jedoch aufgrund seiner Beziehungen eine andere Möglichkeit gefunden, um Martin zu helfen. Unter den Betrieben, die in sein Gebiet als Amtstierarzt fielen, befand sich auch ein Gestüt einer ehemaligen Schulfreundin. Isabelle Rüegger hatte nach einer Erbschaft vor einigen Jahren ein heruntergekommenes Gestüt erstanden. Mit sehr viel Enthusiasmus, einer grossen Liebe zu Pferden und einem hohen persönlichen Engagement, baute sie das heruntergekommene Gestüt wieder auf. Das erste Jahr verbrachte sie den grössten Teil der Zeit alleine auf dem Gestüt und renovierte das Haupthaus sowie die drei Nebengebäude mit den ersten vier Pferdeboxen. An den Wochenenden kamen regelmässig Freunde und Bekannte, um in Fronarbeit am Wiederaufbau mitzuhelfen. Viele brachten wiederum Freunde mit und so kam eine beachtliche Anzahl an Leuten zusammen, die mithalfen das Gestüt wieder zum Leben zu erwecken. Als Lohn gab es jedes Jahr ein grosses Sommerfest, an dem alle dabei waren, die das Gestüt in irgendeiner Form unterstützt hatten. Neben vielen anderen, waren auch Martins Eltern unter den Helfern. Es dauerte zweieinhalb Jahre bis die Arbeiten soweit fortgeschritten waren, dass Isabelle Rüegger die ersten Pferde in Pflege nehmen und die ersten Mitarbeitenden einstellen konnte. Damals begann sie sich auch mit dem eigentlichen Aufbau des Gestüts und der Pferdezucht zu befassen. Es vergingen jedoch noch einmal einige Jahre, bis sie das erste Tier verkaufen und damit auch mit der Pferdezucht etwas Geld verdienen konnte.

    Als Martin Steigles Vater mit seiner Anfrage an Isabelle Rüegger gelangte, umfasste das Team des Gestüts bereits siebzehn festangestellte Personen, wobei ausser ihr niemand ein volles Pensum hatte. Obwohl ihr damit genügend Personal zur Verfügung stand, stellte sie Martin aufgrund der Freundschaft zu seinen Eltern ein. Sie konnte ihm zwar nur gerade den Lohn eines Praktikanten zahlen, dafür hatte Martin jedoch wieder eine Beschäftigung mit geregeltem Tagesablauf und das war alleweil besser, als zuhause herumzusitzen.

    Die körperlich anstrengende Arbeit bereitete dem an Bürotätigkeiten gewohnten Martin am Anfang mehr Mühe, als er erwartet hatte. Zudem musste er zuerst lernen, wie man mit Pferden umging. Auf dem elterlichen Hof hatten sie neben den vier Kühen, ein paar Hühnern, drei Gänsen und einem Hund auch zwei Ponys, für deren Betreuung seine Schwester verantwortlich war. Er hatte sich wenig bis gar nicht für die beiden Reittiere interessiert. Keine optimalen Voraussetzungen, um in einem Gestüt zu arbeiten.

    Mit wenigen Ausnahmen waren auf dem Gestüt nur hochdotierte Sport- und Zuchtpferde untergebracht, die eine besonders sorgfältige und intensive Pflege benötigten. Martin durfte deshalb in den ersten Monaten nie alleine mit den Pferden arbeiten. Zuerst verrichtete er nur Hilfsarbeiten, wie etwa den Stall auszumisten, das Sattelzeug zu pflegen und bei der Bewirtschaftung der Weiden zu helfen. Erst nach einem halben Jahr durfte er erstmals in Begleitung einer der erfahrenen Pflegerinnen die Pferde an der Longe führen. Obwohl diese Arbeit eigentlich eintönig und alles andere als herausfordernd war, machte ihm der direkte Umgang mit den Tieren deutlich mehr Spass, als ihre Ställe auszumisten. Bald einmal stelle er zu seinem Erstaunen fest, wie unterschiedlich die Charaktere der einzelnen Tiere waren. Entsprechend individuell mussten sie auch behandelt werden. Er versuchte deshalb herauszufinden, welche Eigenheiten die einzelnen Pferde besassen und wie er diese Merkmale im Umgang mit ihnen zu seinem Vorteil nutzen konnte. Ab diesem Zeitpunkt begann ihm die Arbeit noch mehr Spass zu machen. Im gleichen Mass wie er das Vertrauen der Pferde erlangte, konnte er auch immer mehr Arbeiten selbständig ausführen.

    Dann kam der Tag, an dem er das erste Mal im Sattel auf dem Rücken eines der Pferde des Gestüts sass. Isabelle Rüegger war höchstpersönlich anwesend, als er sich mit leichtem Zögern und einer gehörigen Portion Respekt in den Sattel hievte. Mit der achtzehn jährigen Hannoveraner Stute Luly de Bartolet, hatte sich Isabelle für ein gutmütiges Pferd entschieden, dass auch Anfängern wenig Problem bereitete. Nicht ganz eine Stunde liess sie Martin mit dem Pferd in der Halle Runden drehen. Obwohl er nicht die geringste Ahnung vom Reiten hatte, stellt er sich nicht einmal so ungeschickt an. Während der Übungseinheit liess sich Isabelle nicht anmerken, ob sie mit der Leistung ihres Mitarbeiters zufrieden war. Nach der Stunde überlegte sie jedoch auch nicht lange, bevor sie das weitere Vorgehen festlegte: „Dafür, dass du keine Reiterfahrung hast, stellst du dich gar nicht mal so übel an, hielt sie zu Beginn ihrer Ausführungen fest. „Damit du jedoch alleine mit den Pferden arbeiten kannst, braucht es noch einige Reitstunden. Zudem wirst du wie alle anderen eine Parcoursprüfung ablegen müssen. Das heisst, es wartet noch einiges an Arbeit auf uns. Ab sofort wirst du jeweils drei Mal die Woche trainieren, damit du spätestens in sechs Monaten die Prüfung ablegen kannst.

    Martin war überrascht. Einerseits sah er den Reitstunden mit gemischten Gefühlen entgegen, andererseits hatte bisher noch niemand von einer Prüfung gesprochen. Nachdem Isabelle wieder gegangen war, fragte er deshalb seine Kollegin, was es mit der Parcoursprüfung auf sich habe.

    „Das ist keine grosse Sache", antwortete sie ihm. „Du musst zweimal einen kleinen Springparcours innerhalb einer festgelegten Zeit und mit möglichst wenigen Fehlern absolvieren. Danach folgt ein Geländeritt in Begleitung einer der Pferdepflegerinnen oder von Isabelle. Auch hier darfst du möglichst keine Fehler machen. Wenn du in den nächsten Monaten aber gut arbeitest, sollte das eigentlich kein Problem sein.

    Die Pflegerin sollte mit ihrer Voraussage Recht behalten. Es dauerte keine sechs Monate, bis Martin die Prüfung ohne jegliche Probleme ablegen konnte. Danach teilte ihm Isabelle Rüegger mit, dass er ab sofort selbständig die Betreuung von Pferden übernehmen könne und nicht mehr wie bis anhin jeweils unter Aufsicht einer der Pferdepflegerinnen arbeiten müsse. „Ich bin sehr zufrieden mit dem, was du bisher geleistet hast. Sei dir aber bewusst, du trägst nun die alleinige Verantwortung für die Betreuung der dir zugewiesenen Tiere. Geh damit verantwortungsbewusst um und hol dir lieber einmal zu viel Rat bei deinen Kolleginnen und Kollegen, als einmal zu wenig."

    Die Abläufe auf dem Gestüt änderten sich nach der erfolgreich absolvierten Prüfung für Martin nicht gross. Sie folgten einer festen Routine, die sich vor allem an den Bedürfnissen der Tiere orientierte. Er erhielt zwei Pferde zugeteilt, für deren Betreuung und Pflege er nun alleine zuständig war. Martin gewöhnte sich rasch an die neue Verantwortung. Obwohl sich viele Arbeiten irgendeinmal wiederholten, brachte doch fast jeder Tag etwas Neues. Man konnte nie genau wissen, welche Überraschungen warteten. Gerade das machte jedoch für ihn die Arbeit auf dem Gestüt so spannend und abwechslungsreich.

    Mit Isabelle Rüegger hatte er nicht viel zu tun. Er sah sie öfters an den Anlässen, wie etwa den regelmässig stattfindenden Gestütsfesten, als im Rahmen seiner täglichen Arbeit. Martin war deshalb erstaunt, als ihm eine seiner Kolleginnen eines Tages mitteilte, die Chefin möchte ihn sprechen.

    „Wir hatten bisher nie richtig Gelegenheit uns zu unterhalten, eröffnete sie das Gespräch in ihrem kleinen Büro, dass mit Akten und Unterlagen vollgestopft war. „Wie gefällt dir die Arbeit mit der neuen Verantwortung?

    „Es gefällt mir sehr gut. Zu Beginn hatte ich mit der körperlichen Belastung ein wenig Mühe, aber in der Zwischenzeit macht die Arbeit mit den Pferden richtig Spass."

    „Das merkt man. Ich habe nur positive Rückmeldungen erhalten und bin mit dir und deiner Arbeit sehr zufrieden. Es freut mich zu sehen, wie schnell du lernst und wie gut du mit den Tieren zurechtkommst. Sie dachte einen kurzen Moment nach. „Du bist nun schon beinahe zwei Jahre bei uns. Von deinem Vater weiss ich, dass du eigentlich nur so lange bleiben wolltest, bis du eine kaufmännische Anstellung gefunden hast. Inzwischen würde ich mich jedoch sehr freuen, wenn du auch weiterhin bei uns bleibst. Ich habe mich deshalb gefragt, ob du nicht einen Teil der administrativen Aufgaben des Gestüts übernehmen könntest. Dieser Teil gehört nicht gerade zu meiner Lieblingsbeschäftigung und ich wüsste deine Unterstützung zu schätzen. Was meinst du dazu?

    Martin musste nicht lange überlegen. „Ich würde gerne bei den administrativen Aufgaben mithelfen."

    „Gut, dann lass uns gleich anfangen. Ich muss die Buchhaltung abschliessen und habe dabei ein paar Probleme, die ich nicht alleine lösen kann."

    Martin war begeistert, auch wenn er versuchte sich das nicht anmerken zu lassen. Die neue Aufgabe bot ihm die Möglichkeit, seine Kenntnisse aus der Lehre erstmals auch in der Praxis anzuwenden. So konnte er wertvolle Erfahrungen sammeln, die ihm sicher einmal von Nutzen sein würde. Im Moment passte jedoch alles so gut zusammen, dass solche Überlegungen noch in weiter Ferne lagen.

    In den nächsten Monaten befasste er sich vorwiegend mit der Buchhaltung und den administrativen Aufgaben, welche die Führung eines Gestüts so mit sich brachten. Er stürzte sich mit viel Begeisterung und Elan auf die neue Herausforderung. Dank seiner guten Auffassungsgabe dauerte es nicht lange, bis er die Arbeiten selbständig im Griff hatte.

    Nach der Erweiterung seines Aufgabengebiets dachte Martin inzwischen nicht mehr daran, sich eine andere Stelle zu suchen. Was ursprünglich einmal als Überbrückungsjob gedacht war, entwickelte sich je länger je mehr zu einer Beschäftigung auf unbestimmte Zeit.

    Trotz der langen Präsenzzeiten und der körperlich harten Arbeit, war die Stimmung auf dem Gestüt selten schlecht. Isabelle Rüegger hatte bei der Auswahl ihres Personals grössten Wert darauf gelegt, Mitarbeitende auszusuchen, die möglichst gut in die Gruppe passten. Sie sorgte zudem für eine familiäre Stimmung und versuchte diese zu fördern, wo immer sie nur konnte. Für Martin war das ein zusätzlicher Grund, weshalb er den Job mittlerweile so sehr mochte.

    Die Arbeit mit den Pferden erforderte eine gewisse Flexibilität, was die Arbeitszeit anbelangte. So kam es öfter einmal vor, dass die Arbeitstage zwölf und mehr Stunden dauerten, bis alle Pferde versorgt, alles aufgeräumt und auch die letzte Aufgabe erledigt war. Isabelle Rüegger besass in solchen Momenten ein gutes Gespür für die Situation. Wenn beispielsweise aufgrund von Witterungsbedingungen eine Spätschicht eingebaut werden musste, feuerte sie oft spontan den Grill an. Dann wurden nach getaner Arbeit ein paar Würste gebraten und auch einmal eine gute Flasche Wein geöffnet. Daneben organisierte Isabelle regelmässig Gestütsfeste für die Angestellten und die Freunde des Betriebs. An diesen Festen lernten sich die Mitarbeitenden besser kennen, was für den betrieblichen Alltag von grösstem Nutzen war.

    In einem weiteren Gebäude hatte Isabelle Rüegger neben der Pferdezucht einige Mietboxen eingerichtet. Damit baute sie sich ein zweites Standbein als zusätzliche Einnahmequelle auf. Die Angebotspalette reichte von der einfachen Vermietung einer Box mit Verbrauchsmaterial wie Stroh und Futter, bis hin zu einem Vollservice inklusive Bewegung, Ausritt und Training der Pferde. Isabelle hatte das Angebot spezifisch auf Besitzer von Sport- oder Zuchtpferden ausgerichtet. Entsprechend waren die Preise in einer Klasse, welche die meisten Hobbypferdehalter von vornherein abschreckte. Zudem hielt Isabelle von Beginn an die Anzahl Mietboxen tief. Dadurch konnte sie nicht nur einen hohen Leistungsstandard bezüglich Unterbringung und Pflege garantieren, sondern hatte immer eine volle Auslastung. Das sprach sich in Fachkreisen schnell herum. Die Plätze in ihrem Gestüt waren äusserst gefragt. Es gab eine lange Warteliste und Isabelle hätte die Boxen problemlos zweifach oder dreifach belegen können. Ein Grund mehr der Philosophie treu zu bleiben und den hohen Qualitätsstandard ihrer Dienstleistungen unter allen Umständen aufrecht zu erhalten.

    Die hohen Preise brachten jedoch auch hohe Ansprüche mit sich und einzelne Kunden hatten sonderbare Vorstellungen davon, was alles im Dienstleistungspaket inbegriffen sein musste. Das führte auch zu Spannungen, wenn unzufriedene Kunden ihren Unmut an den Mitarbeitenden ausliessen. Isabelle hatte deshalb die strikte Anweisung erteilt, dass beim geringsten Ansatz von Problemen die Chefin zu rufen sei. Diese Anweisung hing bewusst auch an allen Infobrettern, um die Kunden über das Vorgehen zu informieren. Inzwischen gab es kaum mehr Kunden, die nicht direkt auf Isabelle Rüegger zugingen, wenn es Probleme gab. Martin kannte diese Regel nicht. Er war erst nach deren Einführung ins Gestüt gekommen. Zudem hatte er normalerweise nichts im Kundenbereich zu tun. Durch seine Tätigkeit in der Administration des Gestüts, war es jedoch nur eine Frage der Zeit, bis sich der erste Kunde in Abwesenheit von Isabelle Rüegger an ihn wandte. Das erste Mal kam er sich etwas verloren vor und hatte keine allzu gute Figur abgegeben. Mit der zunehmenden Anzahl von Kundengesprächen stieg jedoch auch seine Sicherheit und bald einmal hatte er auch diese Aufgabe zur Freude seiner Chefin im Griff.

    Martin lernte durch die neue Aufgabe auch einige der Pferdebesitzer persönlich kennen. Darunter befand sich auch eine junge Bernerin, die ihr Pferd im Gestüt eingestellt hatte und deren Bekanntschaft eher auf aussergewöhnlichem Weg zustande gekommen war. Jasmin von Ried, so hiess die sportliche Frau, war die Besitzerin eines fünfjährigen Araber Zuchthengstes mit Namen Agadil. Sein Stammbaum wies ihn als Nachfahren des Vollblut Arabers Abu Afas aus. Ein Umstand, der einem Gütesiegel für die Pferdezucht gleichkam. Aus dieser Zuchtlinie waren mehrere Spitzenpferde hervorgegangen, die im internationalen Pferdesport höchst erfolgreich gewesen waren. Agadil war mit etwas mehr als fünf Jahren noch jung und hatte noch einige gute Jahre als Zuchthengst vor sich.

    Obwohl der Hengst eigentlich ein pflegeleichtes Tier war, hatte er eine kleine Macke, die ihn neben seiner Abstammung zusätzlich von den anderen Pferden in der Mietstallung abhob. Sein kleines Problem bestand darin, dass er nicht jeden in seinem Stall duldete und seine Box so verteidigte, als sei dies das Schloss eines Prinzen. Sobald sich jemand seiner Box näherte, den er nicht in seiner Nähe haben mochte, versuchte er die Person aus der Box zu drängen. Zwei Pferdepflegerinnen hatten sich deshalb bereits geweigert, weiter mit dem Hengst zu arbeiten. Das hatte einige Diskussionen ausgelöst, da es die Planung für den Kundenbereich nicht einfacher machte. Dass Martin überhaupt in die ganze Geschichte verwickelt wurde, war reiner Zufall. Auf dem Rückweg von einer Arbeit auf einer der Weiden des Gestüts, nahm er aufgrund des regnerischen Wetters die Abkürzung durch die Mietstallung, in der neben anderen Pferden auch Agadil stand. Schon bevor er auf der Höhe von Agadils Box angekommen war, hörte er eine der Pferdepflegerinnen aufgeregt sprechen. Er ging weiter und wurde Zeuge, wie sich seine Kollegin mit dem Hengst abmühte. Agadil drückte die junge Frau an die Boxenwand und versuchte sie durch die Tür aus der Box zu drängen. Der Hengst stellte sich dabei ziemlich geschickt an. Er liess sich auch durch die Gegenwehr der Pflegerin nicht von seinem Ziel abbringen. Seinen Unmut zeigte er nicht nur durch Schnauben und Stampfen, sondern durch mehr oder weniger sanfte Kopfstösse, mit denen er seine Widersacherin aus der Box vertrieb. Danach wehrte er jeden Versuch ab, wenn sie die Box wieder betreten wollte. Martin überraschte das Verhalten des Hengstes dermassen, dass er stehen blieb und nach den ersten Kopfstössen des Pferdes gegen die Pflegerin versuchte, beruhigend auf Agadil einzuwirken. Erstaunlicherweise reagierte der Hengst sofort auf seine Gegenwart. Er beruhigte sich wieder und liess die Pflegerin sogar wieder in die Box, damit sie ihre Arbeit beenden konnte.

    Das Vorkommnis sprach sich in Windeseile bei den Pflegerinnen herum und als es das nächste Mal wieder ein Problem gab, erhielt Martin im Büro einen Anruf. Der Bitte um Hilfe kam er gerne nach, zumal er auch dieses Mal keine Probleme hatte, den Hengst zu beruhigen. Damit hatte Martin von einem Moment auf den anderen eine zusätzliche Aufgabe, der er sich von nun an widmen durfte.

    Die Anekdote um Agadil wurde schnell auch auf Kundeseite herumerzählt und es dauerte nicht lange, bis auch Jasmin von Ried davon erfuhr. Nachdem sie die ganze Geschichte gehört hatte, wollte sie sich im Büro von Isabelle Rüegger persönlich über dem Vorfall erkundigen. Im winzigen Vorraum stand eine Theke, wie man sie in kleinen Hotels als Rezeption antraf. Darauf befand sich neben einem Ständer mit Prospekten, einem Telefon, einem runden Behälter mit ein paar Kugelschreibern auch eine Klingel, auf die man mit der Handfläche schlagen konnte, um auf sich aufmerksam zu machen. Neben der Klingel stand ein Schild mit der Aufschrift: Bitte zuerst klingeln! Erfolgt keine Antwort: Telefon Nummer hunderteinundzwanzig anrufen. Jasmin von Ried betätigte die Klingel. Der Ton war noch nicht verklungen, als Martin aus den hinteren Räumen nach vorne kam. „Guten Tag, was kann ich für sie tun?"

    „Hallo, ist Frau Rüegger da?"

    „Bedaure, nein. Sie hat einen Termin auswärts und ist erst morgen früh wieder anwesend. Kann ich ihnen möglicherweise helfen?"

    „Nein, ich denke kaum. Ich möchte die Angelegenheit direkt mit Frau Rüegger besprechen. Können sie ihr vielleicht ausrichten, ich wäre da gewesen und hätte sie gerne einmal gesprochen. Es geht um mein Pferd und die Probleme die es in letzter Zeit verursacht hat."

    „Das werde ich gerne tun, Frau….?" Martin sah die junge Frau fragend an, was bei Jasmin von Ried ein leichtes Stirnrunzeln auslöste. Sie hatte den jungen Mann noch nie gesehen, obwohl Agadil schon drei Jahre im Gestüt war. Bisher hatte sie noch nie jemanden anderes als Isabelle Rüegger in den Büroräumen angetroffen. War sie einmal nicht anwesend, so waren die Räume verschlossen.

    „Wer sind sie eigentlich? Ich habe sie hier noch nie gesehen."

    Martin entging der leicht arrogante Unterton in der Stimme der jungen Frau nicht. Eigentlich mochte er Menschen nicht, die auf andere herabsahen und sie mit Geringschätzung behandelten. Sein Lächeln wirkte deshalb leicht aufgesetzt, als er ruhig antwortete. „Mein Name ist Martin Steigle. Er sah die junge Frau herausfordernd an. „Würden sie mir nun auch ihren Namen nennen, damit ich ihre Nachricht Frau Rüegger weitergeben kann?

    „Komisch, dass ich sie hier noch nie gesehen habe, Herr Steigle. Ich habe mein Pferd bereits seit drei Jahren auf dem Gestüt und dachte, dass ich jeden Mitarbeiter und jede Mitarbeiterin kenne."

    „Da muss ich ihnen leider widersprechen. Wenn sie mich nicht kennen, so kennen sie nicht jeden Mitarbeiter des Gestüts. Möglicherweise liegt es daran, dass ich mit einer Ausnahme nie in den Mietstallungen anzutreffen bin. Er hielt kurz inne. „Wenn sie keine Nachricht für Frau Rüegger haben, dann entschuldigen sie mich bitte. Ich habe noch Arbeit, die dringend erledigt werden muss. Er nickte kurz und wandte sich zum Gehen.

    „Von welcher Ausnahme sprechen sie?"

    „Ich verstehe nicht was sie meinen?" Martin schien etwas verwirrt.

    „Sie haben gesagt, dass sie mit einer Ausnahme nie im Kundenbereich arbeiten. Welche Ausnahme meinen sie."

    „Wie sie bereits festgestellt haben, kennen wir uns nicht. Zudem legt Isabelle höchsten Wert auf Diskretion. Ich kann Ihnen deshalb keine Auskunft geben."

    „Geht es um Agadil?"

    Martin hatte sich schon wieder umgedreht und hielt mitten in der Bewegung inne. „Warum kommen sie gerade auf dieses Pferd?"

    „Mein Name ist Jasmin von Ried. Ich bin die Besitzerin von Agadil."

    Das hatte Martin nicht erwartet.

    „Eigentlich bin ich gekommen, um von Isabelle zu erfahren, was vorgefallen ist. Aber in dem Fall können sie mir die Geschichte ja gleich selber erzählen. Sie neigte den Kopf leicht zur Seite. „Hätten sie trotz der dringenden Arbeit nicht einen Moment Zeit? Ich würde ihnen gerne einen Kaffee offerieren. Dann können sie mir erzählen, was geschehen ist.

    Martin zögerte nur kurz. „Ich denke, das lässt sich einrichten. Ich habe heute noch keine Pause gemacht."

    In der nächsten Stunde erzählte er Jasmin von Ried, zuerst von der Begegnung mit Agadil und als dieses Thema erschöpft war, entwickelte sich ein interessantes Gespräch, bei dem beide kaum merkten, wie schnell die Zeit verging. Je länger das Gespräch dauerte, umso mehr wich die anfängliche Skepsis einer Art Sympathie, die durchaus auf Gegenseitigkeit beruhte.

    Die folgenden Monate traf man Jasmin von Ried öfters einmal auf dem Gestüt an. Sie nutzte jede sich bietende Möglichkeit, um nach Agadil zu sehen. Ungefähr zwei Wochen nach ihrem Treffen mit Martin Steigle hörte sie bei einem ihrer ausserplanmässigen Besuche bereits von weitem jemanden sprechen. Die Stimme kam ihr bekannt vor. Als sie die Box von Agadil erkennen konnte, sah sie Martin Steigle bei ihrem Pferd stehen. Er hatte sie nicht bemerkt, da er zu sehr mit Agadil beschäftigt war. So blieb Jasmin stehen und schaute ihm einfach zu.

    „Na, mein Freund, du scheinst ja heute gut gelaunt zu sein."

    Der Hengst schnaubte und warf den Kopf kurz nach oben.

    „Hast du wieder die Pflegerinnen geärgert? Martin drängte Agadil sanft ein wenig zur Seite, damit er das alte Stroh mit der Gabel besser erreichen konnte. Der Hengst liess sich das gefallen, ohne die geringste Reaktion zu zeigen. „Habe ich dir eigentlich schon einmal gesagt, was für eine süsse Besitzerin du hast?

    Jasmin musste schmunzeln. Das konnte ja interessant werden.

    Agadil wieherte kurz und warf erneut den Kopf in die Höhe.

    „Was, du bist nicht einverstanden? Ich sage dir, sie ist nicht nur hübsch, sondern auch noch blitzgescheit. Du weisst gar nicht wie viel Glück du hast, mein Freund. Nicht jeder Hengst hat so eine sexy Klassefrau als Besitzerin wie du."

    Erneut musste Jasmin schmunzeln. Martin Steigle wäre wohl nicht allzu erfreut gewesen, hätte er gewusst, dass sie ihn beobachtete. In dem Moment sah sie, wie Agadils Ohren sich hin und her bewegten Er schien zudem mehrfach mit dem Kopf zu nicken. Hätte Jasmin nicht schon seit Jahren mit Pferden gearbeitet, sie hätte geschworen, Agadil habe den Äusserungen von Martin kopfnickend zugestimmt. Sie schüttelte leicht den Kopf. Dann sah sie Martin Steigle weiter bei seiner Arbeit zu. Er fand sie also blitzgescheit und sexy. Das war bei weitem nicht das schlechteste Kompliment, welches sie in den letzten Jahren erhalten hatte. Sie fühlte sich geschmeichelt und stellte gleichzeitig überrascht fest, dass ihr das gefiel und das wiederum, gefiel ihr ganz und gar nicht.

    Trotz ihres noch jugendlichen Alters hatte Jasmin von Ried klare Vorstellungen, was ihren zukünftigen Partner anbetraf. Zweifellos hatten ihre Eltern diese Haltung beeinflusst, auch wenn Jasmin nicht einmal ansatzweise so extreme Ansichten besass, wie etwa ihre Mutter. In einem Punkt stimmte sie jedoch mit ihr überein. Sie wollte keinesfalls nur einen biederen Durchschnittstypen als Freund und wenn er noch so gut aussah. Ihr künftiger Partner musste sie als Persönlichkeit herausfordern und ihr intellektuell wie kulturell ebenbürtig sein. Zudem sollte er auch beruflich Erfolg haben und ihr einen gewissen Status bieten können, auch wenn sie ihren Lebensunterhalt selber verdienen wollte. Martin Steigle war ein sympathischer Typ, der sich ausgezeichnet mit Pferden verstand. Sie mochte ihn schon wegen seines professionellen Umgangs mit Agadil. Seine ruhige und besonnene Art hatte sie beeindruckt. Mehr als das gab es jedoch nicht. Zumindest sagte sich Jasmin das immer wieder, während sie Martin und Agadil noch einen Moment beobachtete, bevor sie sich wieder auf den Heimweg machte.

    Auch Martin konnte zuerst mit der etwas schnippischen Art der jungen Pferdebesitzerin nicht viel

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