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Grausam ist die Nacht: Ein Vampirroman
Grausam ist die Nacht: Ein Vampirroman
Grausam ist die Nacht: Ein Vampirroman
eBook326 Seiten4 Stunden

Grausam ist die Nacht: Ein Vampirroman

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Über dieses E-Book

England, 1915: Die zwei jungen Briten Vincent Hurt und Samuel Porter lernen sich an einem Fest kennen und lieben. Doch ihre friedvolle Zweisamkeit ist nur von kurzer Dauer: Beide haben sich für den Militärdienst gemeldet, in den sie wenige Monate nach ihrer ersten Begegnung zusammen eintreten. Es verschlägt sie auf die Schlachtfelder Frankreichs, wo sie den Krieg Seite an Seite an vorderster Front bestreiten. In den Schützengräben lernt Vincent den mysteriösen Soldaten Anton Marinelli kennen, der ihm von Anfang an nicht geheuer ist. Als Anton in Mordverdacht gerät, wird er für Vincent zu einer reellen Bedrohung, die nicht nur ihn, sondern auch Sam in große Gefahr bringt. Zu spät erkennt Vincent, dass Anton kein normaler Soldat, sondern ein unsterbliches Wesen ist, dem jegliches Maß an Menschlichkeit und Mitgefühl schon längst abhanden gekommen ist. Er rettet Vincent während einer eisigen Winternacht zwar das Leben, macht ihn jedoch gegen seinen Willen zum Vampir. Vincent sinnt auf Rache... England, 1955: Die verheerenden Auswirkungen seiner Existenz als Vampir haben Vincent viele Jahre in die vollkommene Isolation Nordschottlands getrieben. Als er sich aus einem unbestimmten Impuls heraus in Richtung Süden begibt, brennt in ihm kaum noch ein Funke an Lebenswillen. Er ergibt sich seinem Schicksal und findet sich völlig verstört in einer Nervenklinik wieder, in der er lange Zeit in einer Art Wachtraum verbringt. Als er daraus erwacht, lernt er den Psychologen James Heywood kennen, der nicht nur Vincents Liebe, sondern auch seine Begierde nach Blut neu entfacht...
SpracheDeutsch
HerausgeberHimmelstürmer
Erscheinungsdatum1. Jan. 2014
ISBN9783863614133
Grausam ist die Nacht: Ein Vampirroman

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    Buchvorschau

    Grausam ist die Nacht - R. Stühlinger

    1.

    James’ Hand kam zu einem abrupten Halt, was einen kleinen, hässlichen Tintenfleck auf dem linierten Blatt hinterließ. Er runzelte die Stirn, stahl einen Blick auf seine Armbanduhr, wo sich der große Zeiger langsam zur nächsten Nummer hin schob. Das Geräusch von Metall auf Papier und die Stille im Zimmer hatten sich zu einer Art statischer Hintergrundmusik zusammengefügt, welche etwas drückend in dem lichten Raum hing.

    Eigentlich war er nicht bereit gewesen, neue Patienten zu therapieren, und nur Marks drängender Tonfall am Telefon hatte ihn überhaupt dazu bewogen, sich des jungen Mannes anzunehmen, der ihm gerade gegenüber saß. Sein alter Studienkollege war völlig überfordert mit der Anzahl der von ihm betreuten Patienten, weshalb er James darum gebeten hatte, ihm ein wenig unter die Arme zu greifen. Mark hatte ihm indes nicht allzu viel über Herrn Hurt erzählt: Er befand sich offenbar in einer depressiven Grundstimmung, deren andauernde Leere ab und an mit aggressiven Ausbrüchen gefüllt wurde, litt unter Albträumen und Fantastereien. Mark beschrieb ihn zuerst als „komplex, dann „chronisch.

    James hatte ihm sein wohl vorhandenes Interesse mitgeteilt, bekundete jedoch gleichzeitig Zweifel daran, ob seine eigenen Ressourcen für einen solch verzwickten Fall überhaupt ausreichen würden. Mark hatte sogleich mit einem entnervten Seufzer reagiert, sowie den Worten: „Mein Lieber, du bist der Richtige für hoffnungslose Fälle."

    Nachdem er seine eigene Praxis in der Stadt geschlossen hatte, wollte James die Arbeit in der Klinik Forest Hill, welche knapp zwanzig Meilen außerhalb Manchesters im Grünen lag, ursprünglich ebenfalls aufgeben. Doch fand er sich nach gut fünf Jahren immer noch an zwei bis drei Tagen pro Woche zwischen seinem Wohnort und dem Hospital hin und her pendelnd.

    Er hatte sich in der Klinik anfänglich auf die chronischen Fälle spezialisiert; kümmerte sich um jene Patienten, welche seit langem krank waren und schon mehrere Therapien durchlaufen hatten, ohne dass sich eine Besserung einstellen wollte. Diesen Leuten nahm er sich in letzter Zeit jedoch nur noch ungern an, denn ihre augenscheinliche Hoffnungslosigkeit spiegelte etwas in ihm selbst wider, das sich von einem hässlichen Ort tief in seinem Innern langsam in sein Bewusstsein geschlichen hatte, und nun wie eine Giftwolke seinen Geist zu verdunkeln drohte. Obwohl er anderen gegenüber das ungenaue Gegenteil behaupten würde, spürte James allzu deutlich, wie ihn seine Passion für die Psychologie schon lange nicht mehr in der Weise zu erfüllen vermochte, wie all die Jahre zuvor, und seit geraumer Zeit ein Gefühl des Unbehagens in ihm aufkam, wann immer er eine Sitzung mit einem Patienten begann. Die positive Exaltiertheit, welche er normalerweise zu Anfang einer Therapie verspürte, hatte sich im Lauf der Zeit zu einer innerlichen, fortwährenden Anspannung gewandelt. James versuchte mit wechselndem Erfolg, dieses nervöse Übel zu ignorieren und stürzte sich geradezu in die Arbeit – darauf angewiesen war er eigentlich nicht, stammte er doch aus durchaus wohlhabenden Verhältnissen und hatte vor Jahren das Haus seiner Eltern, sowie eine beträchtliche Summe geerbt, wohl aber hatte ihm seine Tätigkeit als Psychologe viele Jahre eine Daseinsberechtigung gegeben und war immens wichtig für ihn gewesen. Auf das viele Geld hätte er gerne verzichtet, wenn es ihm nur in emotionalen Dingen dienlich gewesen wäre. Er hoffte nun, dass er durch das erhöhte Arbeitspensum, welches kaum Zeit für pessimistische Grübeleien übrig ließ, die Passion für seinen Beruf zurückgewinnen würde.

    Mark hatte ihm aufgrund eben dieses oberflächlichen Aufflackerns seiner Leidenschaft Herrn Hurts Akte in die Hand gedrückt, die nun vor ihm auf dem Schreibtisch lag. Er hatte sie nur kurz überfliegen können, bevor der junge Mann das Zimmer betrat, welches James mit Mark für Sitzungen und Büroarbeiten teilte.

    Sein erster Eindruck seines neuen Patienten war der einer ruhigen, in sich gekehrten Person, die ihm zwar die Hand gab, ihm aber kaum in die Augen schaute; der Blick war nach innen gerichtet, die Haltung ein wenig gebückt. Hurts Statur wies etwas Ausgezehrtes auf, das sich in den tiefen Schatten seiner Wangenknochen klar fortsetzte, der Händedruck war jedoch fester gewesen, als James erwartet hatte.

    Er stellte sich kurz vor, wies Herrn Hurt mit der Hand zur Couch im hinteren Teil des Raumes und nahm vis–à–vis von ihm hinter dem schweren, handgeschreinerten Schreibtisch Platz. Einen Schreibblock, sowie einen Füllfederhalter ergreifend, lächelte er ihm aufmunternd zu. „Verzeihen Sie mir, wenn ich etwas unbeholfen vorgehe, nur hatte ich bisher noch keine Zeit, mich mit Ihrer Akte vertraut zu machen. Wie Sie bereits wissen, bin ich auf Wunsch von Doktor Torville zugegen. Ich werde voraussichtlich einmal in der Woche mit Ihnen sprechen und hoffe, dass ich Ihnen eventuell helfen kann. Doch genug von mir ..., lächelte er entschuldigend, „möchten Sie mir vielleicht zuallererst einmal sagen, wie es Ihnen heute geht?

    Hurt war still dagesessen, die Augen nach links zum großen Fenster gerichtet, das einen einlud, die hügelige, wintergrüne Landschaft jenseits der kargen Mauern der Klinik zu betrachten. Das kühle Licht, welches durch die Scheiben herein fiel, ließ sein Haar in brillantem Kupfer aufleuchten. „Ich bin müde, Herr Heywood, das ist alles", entgegnete er, leise, abgeschlagen.

    „Wie ich in Ihren Unterlagen gerade gelesen habe, ist tagsüber keine allzu gute Zeit für Sie, nicht wahr? Könnten Sie mir sagen, woran das liegt?"

    Hurt schaute zu ihm herüber, antwortete jedoch nicht und richtete stattdessen seinen indifferenten Blick wieder auf die Welt hinter der Glasscheibe. In dem Moment fiel James etwas in den klaren, wenn auch melancholischen Augen auf, das vorher nicht da gewesen zu sein schien. Er vermochte nicht zu sagen, was es genau war, aber es machte den Anschein, in direktem Gegensatz zu dem schweigsamen, ruhigen Mann zu stehen, der James gegenüber saß.

    Einige stille Minuten waren danach verstrichen und James war sich bewusst geworden, dass es gegenwärtig wohl nicht viel Sinn machte, noch eine große Anzahl an weiteren Fragen zu stellen. Er nahm stattdessen den Stapel an Blätter zur Hand, die Herrn Hurts Akte formten, tauchte den Federhalter kurz in das schwarze Glas, das zu seiner Rechten auf dem Tisch stand, notierte sich einige Sachen auf seinem Schreibblock, las ein wenig in den Unterlagen. So verstrich die Zeit.

    Er schaute hin und wieder von seinen Notizen auf, lächelte Hurt zu, um ihn zur Kommunikation zu ermutigen, aber nichts kam. Nachdem ihn ein verirrter Tintenklecks auf dem Papier irritiert hatte, warf er einen kurzen Blick auf seine Armbanduhr und entschloss sich, es doch noch mit ein paar Erkundigungen über Hurts Heimat und Kindheit zu versuchen, da bisher so gut wie gar nichts darüber in der Akte stand. Er achtete vorsichtshalber darauf, dass er seinen nächsten Satz simpel und allgemein formulierte: „Könnten Sie mir etwas von sich erzählen? Vielleicht, wo Sie aufwuchsen?"

    Herr Hurt blieb erneut stumm, schloss sogar für einen Moment die Augen. Es sah aus, als ob er versuchte, sich an etwas zu erinnern, was weit entfernt in der Vergangenheit lag, aber was immer es auch war, das gerade seine Gedanken einnahm, er schien es nicht mit James teilen zu wollen.

    So endete ihre Sitzung eine halbe Stunde später, ohne dass sein neuer Patient noch ein weiteres Wort gesprochen hatte, die hellen Augen meistens auf die Landschaft jenseits des Fensters fixiert und James’ Anwesenheit nicht wirklich zur Kenntnis nehmend. Allerdings hatte es den Anschein, dass Hurt weder den Seitentrakt der Klinik, noch die Bäume oder Hügel dahinter betrachtete, sondern etwas, das noch viel weiter weg hinter dem klar umrissenen Horizont lag.

    Sein Händedruck schien beim Abschied nicht mehr ganz so fest, wie er noch zu Beginn der Sitzung gewesen war.

    2.

    Spät nachts lag Vincent auf seinem schmalen Bett, das flackernde Licht der alten Neonröhre über ihm, sein Körper und Geist beide weit entfernt von Schlaf. Er dachte zurück an sein Gespräch am Nachmittag – das erste seit Wochen, mit einem neuer Arzt. Nun, kein Psychiater, sondern ein Psychologe, und somit kein Doktor. Vincent hatte Heywood auch nicht als Psychiater eingeschätzt, dazu fehlte diesem eine gewisse Art gelassener Dickfelligkeit, welche den meisten Menschen, die ein Medizinstudium durchlaufen hatten, geradezu innewohnte.

    Zu Anfang des Gesprächs war Vincent kaum anwesend gewesen und hatte nicht vorgehabt, sich überhaupt auf die Konversation einzulassen, doch neben nervöser Ermattung und schleichender Indifferenz war da, schwach aufleuchtend, eine definitive Art von Aufrichtigkeit in Heywoods Stimme gewesen, der er sich nicht hatte entziehen können. Es war lange her, seit ihm jemand mit solch redlicher Freundlichkeit begegnet war, und Vincent hatte nicht umhin können, sich sein Gegenüber daraufhin genauer anzusehen: Das kantige Gesicht und der graumelierte Bart darin standen im Widerspruch zu großen, schwerlidrigen Augen, welche Sanftheit und Großmut ausstrahlten. Vincent gefielen diese Augen, trotz der Abgespanntheit und einer gelähmten Leidenschaft, welche ebenso klar darin zu sehen waren.

    Heywoods Frage nach seiner Herkunft lag ihm jedoch auch jetzt noch schwer auf dem Magen. Unzählige Jahre hatte er damit verbracht, sich von seinen Gefühlen zu befreien; ihnen keinen Wert mehr zu erteilen. Im Zuge dieser absoluten Distanzierung hatte er die ersten achtzehn Jahre seines Lebens fast gänzlich verloren. Da war nicht wirklich etwas konkretes – nur abrupte Bilder, die sich überschnitten, wie ein Kaleidoskop, gefertigt aus unzähligen Splittern, welche zusammengefügt seine Kindheit ergaben: Da war der Duft von frischer Hefe, der an einem sonnigen Sonntagmorgen in seine Nase stieg; der brennende Schmerz eines geschrammten Knies und Mutters kühler Atem auf der verletzten Haut; die hellen Sommernächte, in denen er Maikäfer mit den bloßen Händen zu fangen versuchte ... Da war vieles, doch vermochte Vincent die Worte nicht zu fassen, um davon zu erzählen. Es war, wie wenn man Schatten einfangen wollte – die Erinnerungen verflüchtigten sich, sobald er intensiver daran zu denken versuchte. So ließ er sich stattdessen durch sie hindurch treiben wie auf einem Floss und war in seinem Herzen froh, wenigstens eine Ahnung davon zu haben, wer er als kleiner Junge und heranwachsender Mann gewesen war.

    Diejenigen Erinnerungen hingegen, welche er für immer ausmerzen wollte, schienen resistent gegen jegliche Mittel, die er eingesetzt hatte, um sie zu vernichten. Sie begannen etwa ein Jahr, bevor er nach Frankreich gegangen war, um im Ersten Weltkrieg an der Seite von zig tausend Männern zu kämpfen. Nach dem Schulabschluss hatte er auf dem Bauernhof gearbeitet, der seit Generationen seiner Familie gehörte, und sich darauf vorbereitet, sein Zuhause zu verlassen und wie so viele vor ihm freiwillig und mit aufrichtigem Stolz im Herzen zum Militärtraining aufzubrechen. Es war eine Ehre und eine Pflicht, für das Königreich in den Krieg zu ziehen. So jedenfalls dachte er damals.

    Es war im März des Jahres 1915 gewesen, als er Samuel Porter kennengelernt hatte. Das jährliche Frühlingsfest fand trotz aller Widrigkeiten statt, und auch wenn es nicht annähernd so ausgelassen und heiter zu und her ging wie die Jahre zuvor, wurde trotzdem getanzt, gesungen und getrunken. Die Häuser waren mit Blumen geschmückt, die Mädchen kleideten sich in bunte Röcke, im ganzen Dorf hing der Geruch von Fleischpasteten und Apfelstreuseln. Abends erstrahlten Lichterketten in den Bäumen vor der großen Scheune, und mit den fortschreitenden Stunden sahen sich die jungen Frauen und Männer zusehends in der Mehrzahl, währendem sich die ältere Generation in die Dorfkneipe zurückzog.

    Die Moral der Leute schien weitgehend intakt, und jene Burschen, welche alt genug waren, fieberten ihrer militärischen Ausbildung und dem ersehnten, späteren Einsatz wenigstens an diesem Tag ohne allzu große Vorbehalte entgegen.

    Während die Musiker in der Scheune gerade eine Pause einlegten und Vincent an einem Krug Bier nippte, zog jemand plötzlich und geradezu ungeduldig an seinem Hemdärmel. Aus seinen Augenwinkeln heraus erkannte er seine jüngere Cousine Annabel, drehte sich um, um sie spaßeshalber zu schelten und sah sich, neben einer strahlenden Cousine, unvermittelt einem ihm unbekannten, jungen Mann gegenüber, der ihn schüchtern anlächelte.

    „Vincent, das ist Sam. Ihr kennt euch noch nicht, oder? Sam wohnt in der Stadt, ist das nicht aufregend?"

    Annabel, mit einiger Mühe den tadeligen Abstand zwischen sich und Sam zu wahren versuchend, war sichtlich von ihm hingerissen, was angesichts seines jungenhaften Aussehens nicht überraschte. Sam lächelte wieder, diesmal verlegen, hob prompt sein Glas mit Apfelwein an den Mund, um die Emotion zu überspielen.

    Annabel schien indes nicht wirklich auf eine Antwort aus, sondern fuhr sogleich in ihrem üblichen Singsang weiter: „Ach, ich würde so gern einmal nach Manchester, ich war doch noch nie von hier weg ... All die modisch gekleideten Leute, die Frauen mit ihrem knallroten Lippenstift und teurem Parfüm... So etwas könnte ich mir nie leisten, auch wenn ich zehn Jahre jeden Penny sparen würde."

    Vincent, nun direkt neben seiner Cousine stehend, rollte die Augen und Sam, der ihn mit betretener Miene angeschaut hatte, schmunzelte diskret. „Annabel, meine Liebe, meinst du nicht, dass du Sam in Verlegenheit bringst?"

    Eine frische Röte sprang in die Wangen des blonden Mädchens, sie drehte sich augenblicklich zu Sam hin und entschuldigte sich hastig, ohne ihm dabei in die Augen zu blicken: „Oh je, das wollte ich nicht. Ich Plappermaul vergesse mich nur manchmal ... Wahrscheinlich wäre es besser, wenn ich ein wenig frische Luft schnappen gehe ... Da hinten seh’ ich Margaret, ich geh’ mal zu ihr. Bis nachher, ja?" Die Frage, keineswegs von rhetorischer Natur, war an Sam gerichtet, welcher jedoch nur höflich mit dem Kopf nickte. Annabel, nun mit hochrotem Kopf, lächelte nervös und verschwand dann in der Menge.

    „Sie kann einen manchmal etwas ermüden", sagte Vincent, als sie außer Sicht war.

    „Ach, schon gut, entgegnete Sam, der belustigt und doch auch etwas erleichtert schien. Während er einen erneuten Schluck von seinem Getränk nahm, schaute ihn sich Vincent ein wenig genauer an: Sam war ein wenig kleiner als er selbst, mit schmaleren Schultern und zarten Händen, welche zu einem Violinisten oder Maler passen würden. Der dreiteilige Anzug, den er trug, war aus feinem Stoff, aus seiner Westentasche lugte die silberne Kette einer Taschenuhr. Sein braunes Haar, sorgfältig nach hinten gekämmt, und seine ebenso dunklen Augen, von dichten Wimpern umkränzt, ließen Vincent unvermittelt an Dinge wie Kiefernzapfen und Kastanien denken. Er räusperte sich unweigerlich. „Manchester, ja? Studierst du auch?

    Sam schluckte den Apfelwein hinunter, schüttelte den Kopf. „Nein, nicht mehr. Außerdem habe ich mich für den Dienst gemeldet."

    „Bist du denn auf Besuch, oder hast du dich einfach nur nach Saint’s Den verirrt?", scherzte Vincent und fragte sich im selben Moment, ob er sich nicht etwas Originelleres hätte einfallen lassen können.

    „Ach nein, wir haben entfernte Verwandte hier und meine Mutter meinte, ich sollte noch ein wenig die Landluft genießen, bevor ich gehe, das ist alles", lachte er gütig.

    „Und dein Vater?"

    Sam zuckte bei der Frage ein wenig zusammen und in seiner Stimme lag frischer Schmerz, unter einer falschen Gleichgültigkeit begraben, als er antwortete: „Er war Teil von Kitchener’s Army; er fiel bereits letztes Jahr an der Front."

    „D–das war sehr dumm von mir, entschuldige bitte", stotterte Vincent, den Blickkontakt zu Sam vorübergehend meidend.

    „Mach dir keine Gedanken darüber. Wir sind alle sehr stolz auf ihn, meine Familie und ich. Mutter arbeitet jetzt in einer Munitionsfabrik, meine zwei Geschwister sind noch sehr klein. Die Schule musste ich aus finanziellen Gründen abbrechen. Ich hätte mir schon längst eine Arbeit gesucht, doch Mutter wehrt sich vehement dagegen. Sie meint, ich sei noch zu unerfahren ... Aber Erfahrung kann nur derjenige machen, der das Leben auch anpackt, nicht? Deshalb habe ich mich auch beim Militär gemeldet. Sie war bestürzt und hat es mir auszureden versucht, aber ... Er brach unvermittelt ab, seine Wangen erröteten. „Jetzt bin ich selber wohl etwas ermüdend, entschuldige. Das ist eigentlich nicht meine Art ...

    Vincent lachte und legte ihm eine Hand auf die Schulter, aber just in dem Moment wurde ihm klar, dass er Sam erst gerade kennengelernt hatte und dieser eine solche Geste als zu intim auffassen könnte. Es war besser, in so einer Situation übervorsichtig zu sein, und so zog er seine Hand wieder zurück. „Was ... was hast du studiert? An der Schule, meine ich", haspelte er und hoffte, dass Sam seine wachsende Beklemmung nicht bemerken würde.

    „Literatur war mein Hauptfach. Shelley, Dickens, Keats ... Das Übliche halt ...", entgegnete er mit überspieltem Bedauern in der Stimme. Er vermisste diesen Teil seines Lebens offensichtlich sehr.

    Vincent schluckte wieder. Da war ein klarer Klassenunterschied, der sich in Sams Kleidung, seiner Ausbildung und seiner Art zu sprechen, bemerkbar machten. Vincent kam sich daneben wie ein grober Bauernlümmel vor. Seine anfängliche Freude ob der neuen Bekanntschaft hatte sich stetig zu einem Gefühl der Betretenheit gewandelt und es fiel ihm immer schwerer, spontan und humorvoll zu bleiben.

    Nachdem sie sich eine Weile weiter unterhalten hatten – über Vincents Arbeit auf dem Hof, den Krieg, ihre Familien – fühlte Vincent mit einem Male, dass er sich zurückziehen sollte, eher er nochmals eine dumme Bemerkung von sich gab, oder Sam einmal zu oft am Arm berührte. Er war sich seiner Gefühle und seines Verhaltens plötzlich überdeutlich bewusst, und weil er den Jungen nicht noch mehr in Verlegenheit bringen wollte, musste er den endgültigen Rückzug antreten. Er meinte, jedenfalls anfänglich, eine gegenseitige Zuneigung gespürt zu haben, doch war er sich nicht sicher, ob er sich dies nicht einfach nur aus einer verzweifelten Emotion heraus einredete.

    Bisher war er immer sehr vorsichtig gewesen, was seine wahre Natur betraf: Er hatte mit den anderen Jungen über Mädchen geredet und die eine oder andere geküsst, allerdings lediglich aus einem Empfinden heraus, dass dieses Verhalten einer Normalität entsprach, zu der er, wie er schon lange mit einer klaren Bestimmtheit wusste, nie gehören würde. Bisher hatte es wohl Schwärmereien in seinem Leben gegeben, doch nichts ernsteres. Nichts, wie das, was er momentan fühlte.

    So trank er den Rest seines Biers in einem Zug und entschuldigte sich dann unter einem Vorwand nach draußen, wo er, jegliche Blickkontakte meidend, hastig zur Rückseite der großen Scheune lief, in der das Fest stattfand, und erst einmal einen tiefen Atemzug tat. Sams Anwesenheit hatte ihn völlig verunsichert und er war froh, einen Moment für sich zu haben, weg vom Lärm und dem Trubel um ihn herum. Er zündete sich mit zitternden Händen eine Zigarette an, flickte das Zündholz auf den Boden und hatte kaum den ersten Zug getan, da hörte er eine Stimme hinter sich.

    „Versteckst du dich?"

    Er drehte sich um und sah, wie Sam ihm gerade entgegenkam.

    „Ach wo, hab’ nur ein bisschen frische Luft gebraucht."

    Sam steckte seine Hände in die Hosentaschen, die Augen zusammengekniffen, nach unten gerichtet. „Ich dachte, vielleicht lag es an mir. Ein blöder Gedanke, was?" Er blickte unvermittelt auf und lächelte etwas verlegen.

    Vincent zog den Rauch seiner Zigarette tief in seine Lungen hinab. Da war dieser Junge, den er vor nicht einmal einer Stunde das erste Mal getroffen hatte, mit rehbraunen Augen und einem Lächeln, das ein komisches Gefühl in seiner Magengrube auslöste; der mit leiser Stimme redete und in dessen Anwesenheit sich Vincent wie ein Tölpel vorkam; dessen frisches Gesicht in der klaren Nacht immer schönere Züge annahm und das er gerne küssen würde.

    Er drehte sich halb weg von Sam und hoffte, dass dieser den Blick in seinen Augen nicht bemerkt hatte, stotterte dennoch ein wenig, als er schließlich entgegnete: „V–vielleicht ist es besser, du gehst wieder zurück. Ich b–bin ein schlechter Einfluss, weißt du."

    „Das glaube ich nicht", lachte Sam sacht, lehnte sich mit dem Rücken an die Scheunenwand neben Vincent und blickte zum klaren Sternenhimmel hinauf. Seine Schulter berührte Vincents Oberarm, doch machte er keine Anstalten, zur Seite zu rücken; es schien fast, als ob er bewusst den Kontakt, die Nähe zu Vincent suchte. Dieser betrachtete wiederum Sams Profil aus den Augenwinkeln heraus. Er spürte eine gespannte Kräuselung in der Atmosphäre, ein gegenseitiges Gefühl von Antizipation. Nach einem letzten, nervösen Zug an seiner Zigarette ließ er sie auf den Boden fallen und tilgte die Überreste mit seinem Schuh.

    „Es ist wirklich schön hier. Ich wünschte, ich könnte ein wenig länger bleiben ..."

    Er hatte den Satz kaum beendet, da drehte sich Vincent zu ihm hin und küsste ihn sanft. Sein Herz klopfte wild gegen seinen Brustkorb und er betete darum, dass ihm Sam nicht ins Gesicht schlagen oder zornig davonlaufen würde. Doch stattdessen spürte er, wie dessen Körper nach einem Augenblick der Anspannung auf wundersame Art nachgab, wie eine Welle, die am Strand auf einen Felsen trifft.

    Er berührte Sams Wange, zog ihn mit der anderen Hand näher zu sich. „Ich dachte ich würde einen Narren aus mir machen, wenn ich dich küssen würde."

    Sam lachte gutmütig. „Närrisch wärst du nur gewesen, wenn du es nicht getan hättest."

    3.

    Als James das Büro an diesem Spätnachmittag betrat, stand Herr Hurt bereits am Fenster, seine Körperhaltung ein wenig entspannter wirkend als bei ihrem ersten Gespräch, was James Zuversicht gab. Er hatte inzwischen dessen Akte gründlich studiert und sich dazu entschieden, direktere Fragen zu stellen, um so hoffentlich bald das Eis brechen zu können. Schon die Woche zuvor hatte er – hinter scheinbarer Leere – einen Funken in den Augen seines Patienten gesehen; einen Wunsch, mehr Stricke in die Außenwelt hinaus zu werfen und so wieder Teil dieser Sphäre zu werden.

    „Wie ich Ihrer Akte entnehmen konnte, geben Sie an, im Ersten Weltkrieg gekämpft zu haben ... James schaute von seinen Notizen auf. „Dann müssten Sie ja bereits um die sechzig Jahre alt sein, nicht wahr?

    Herr Hurt antwortete nicht sofort. Er war sichtlich in Gedanken versunken gewesen, drehte sich nun ein wenig weg vom Fenster, wo er immer noch verweilte, und blickte zu James herüber. „Bitte, nennen Sie mich Vincent. Dieses ‚Herr Hurt’ lässt mich ganz alt fühlen."

    James lachte zunächst, doch als er sah, dass Hurt keinesfalls gespaßt hatte, sanken seine Mundwinkel prompt in seriösen Ernst zurück.

    „Um auf ihre Frage von vorhin zurückzukommen: Vertrauen Sie nicht allzu sehr auf das, was Sie vor sich sehen", sagte Vincent schlicht.

    „Könnten Sie es mir vielleicht zu erklären versuchen? Ich würde es gerne verstehen."

    Vincent seufzte kaum merklich, schritt durch den Raum und nahm auf dem langen Sofa Platz. Es schien, als ob er jeglicher Fragen bereits überdrüssig war. James realisierte im selben Moment, wie seine eigene Indifferenz gegenüber seiner Profession innerhalb kürzester Zeit

    erste Brüche in ihrer harten Oberfläche erlitten hatte: Er sah sich beim Studium von Herrn Hurts – Vincents – Unterlagen mit einer aufkeimenden Neugier konfrontiert, welche in diesem zweiten Gespräch eine direkte Fortsetzung fand, doch musste er Vorsicht walten lassen, um in seinem scheinbar wiedergefundenen Enthusiasmus nicht allzu forsch zu werden. Die Brücke, die Verbindung zu seinem Patienten, schwankte momentan noch bedrohlich, weswegen er kurzerhand das Thema

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