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Später dann in China...: Allgäu-Roman Memmingen
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eBook370 Seiten5 Stunden

Später dann in China...: Allgäu-Roman Memmingen

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Über dieses E-Book

Eine Scheidung, eine Affaire, eine große Liebe.
Nach einem Attentat in seinem Stammlokal findet Sebastian May seine große Liebe in der Oberschwester Jinjin Wang. Beide begeistern sich für ein späteres Leben in der Heimat von Jinjin, aber das Schicksal will diesen Weg nicht mitgehen.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum28. Jan. 2020
ISBN9783347006720
Später dann in China...: Allgäu-Roman Memmingen

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    Buchvorschau

    Später dann in China... - BHW Bernd Heinz Werner

    Kapitel 1

    Ein rationales Ende.

    Wie er aus dem Haus geht, wirft er noch kurz einen Blick auf seine Armbanduhr, es ist zehn vor zehn, das könnte gereicht haben. Zwischen neun und zehn kommt immer der Briefträger, das müsste dann heute bereits geschehen sein. Er geht in alten Hausschlappen, es wird ihn schon niemand sehen, ist aber sonst für den Samstag schon angezogen. Für den Samsag eben, also nicht für das Büro, dementsprechend etwas lässiger. Er trägt Jeans, die deutlich zu tief für sein Alter im Gesäß hängen und eines von diesen schwarzen Baumwollshirts, die er immer im selben Geschäft kauft. Da kennt er sich aus, gute Qualität bei mittlerem Preis, das reicht ihm. Aus den früheren, deutlich modischeren Ansprüchen ist er inzwischen heraus, auch gegen sich selbst. Und gerade heute schon gleich zweimal, es ist ihm heute vieles einfach egal, scheiß drauf.

    Noch vor ein paar Wochen ging es ihm besser, da war seine Welt auch noch einigermaßen in Ordnung. Das ist jetzt anders, er sieht in den Himmel hinauf. Das Wetter an diesem Samstag ist genauso undifferenziert. Es ist Anfang Oktober, der Sommer ist längst vorbei und der Herbst ziert sich. Ein goldener Herbst sieht anders aus, denkt er vor sich hin, gerade hier im Vorallgäu. Die Morgennebel lösen sich zäh und erst gegen Mittag auf, seine miese Stimmung gar nicht. Früher war alles besser, gar alles.

    Er geht zum Briefkasten vorne am Gartenzaun, er sieht schon den Werbemüll aus dem Schlitz herausragen. Er schließt den alten, angerosteten Briefkasten auf und sieht sofort den Brief. Schon am Umschlag und am Fenster des Kuverts, in dem er den Absender erkennt, ist ihm klar: Der Brief ist da. Die letzten Tage hatte er schon auf ihn gewartet, vergeblich. Immer, wenn er abends nachhause kam, schaute er nach, denn er wusste, dass da noch etwas auf ihn zukommen würde, zumindest im Großen und Ganzen, Details mal außen vorgelassen.

    Sebastian May arbeitet nun schon seit mehr als zwanzig Jahren bei der Stadt Memmingen und leitet dort inzwischen das Referat Stadtplanung, von Beruf ist er Dipl. Bauingenieur. Daneben ist er noch Stellvertreter von Adalbert Dreiseitel, dem Behördenleiter des Gesamtreferates 5 Bauwesen. Dreiseitel untersteht auch der Bereich Hochbau, in diesem Bereich arbeitet Sebastian mit Dreiseitel bei bestimmten Projekten eng zusammen.

    Dreiseitel schickt ihn immer dann an die Front, wenn es unangenehm werden könnte, wenn Presseleute anrufen oder auch schon da sind, und zu einem spezifischen Thema eine Auskunft haben möchten.

    Immer geht es dabei nur um politische Themen, kaum um bautechnische Angelegenheiten. Dreiseitel weiß, dass sich Sebastian ganz gut verkaufen kann, dass er intelligent ist und durchaus auch witzig sein kann. Das hilft ihm sehr oft, um aus engen und unangenehmen Diskussionen einen Weg in seichtere Gefilde zu finden.

    Diese Position war zwar nie das erklärte Ziel Sebastians gewesen, aber es hatte sich eben im Laufe der Jahre so ergeben. Ein ordentliches Gehalt, dazu ein verhältnismäßig sicherer Arbeitsplatz, das hatte ihn schon überzeugt und schlussendlich bislang auch davon abgehalten, an Veränderungen beruflicher Art zu denken.

    Er ist jetzt 52 Jahre alt, im Juni kommenden Jahres wird er 53, da fängt man nichts Neues mehr an, beruflich zumindest. Privat hingegen sieht er schwierige Veränderungen auf sich zukommen, das bedrückt ihn schon. Nicht so sehr die Schwierigkeiten selbst, sondern vielmehr die noch nicht erkennbaren, alternativen Folgerungen, welche sich aus diesen Veränderungen ergeben werden. Das legt sich bleiern auf seine Schultern, dieser Ballast bedrückt ihn und seinen Atem, er verspürt zunehmend diese Last, das ist ihm unangenehm.

    Jetzt, wo er den Brief in der Hand hält und zum Haus zurückgeht, schlägt die Kirchturmuhr zehn. Das Leben außerhalb der Stadt in dem überschaubaren, ländlichen Vorort Memmingerberg ist für ihn der Ausgleich zu seinem beruflichen Leben mitten in der Stadt, da genügen ihm schon immer die Wochentage im Bauamt.

    Den ganzen Tag über Besprechungen und Sitzungen, Abstimmungen mit Kollegen und Mitarbeitern, auch aus anderen Dezernatsbereichen. Und Protokolle, immer wieder Protokolle und dann noch die Rücksprachen. Solche, die er selbst führen möchte, oder aber andere, die sich an ihn richten. Viel an Kreativität für intelligente Planungsarbeiten selbst bleibt da nicht übrig. Der Job verwaltet ihn, und wenn er ehrlich zu sich ist, belastet ihn das schon lange. Er liebt visionäres Planen und weniger die bürokratische Alltagsarbeit.

    Darunter hatte auch sein Privatleben stark gelitten. Viel zu viel Routine, viel zu viel Alltag, viel zu wenig Ausbruch aus den eingefahrenen Geleisen und viel zu wenig Aufbrüche, hin zu neuen Möglichkeiten.

    Das mittelgroße Haus haben er und seine Frau Katharina, die sich immer gerne als Ina ansprechen lässt, nunmehr schon seit ihrer Heirat angemietet. Früher hatte hier ein Landarzt viele Jahre eine Praxis betrieben und dort auch selbst gelebt. Nach dessen plötzlichem Tod wollte keiner der Erben das Haus selbst nutzen, aber dann auch wiederum nicht verkaufen, es sollte zunächst erhalten bleiben und vermietet werden. Und die Vermieter versprachen sich einiges von einem Mieter, der sich in Bausachen auskennt, da kann vieles selbst gerichtet oder zumindest fachkundig vergeben werden.

    Aber in all den Jahren, es sind inzwischen schon sechzehn an der Zahl, hatte Sebastian lediglich kleine Reparaturen selbst vorgenommen. Zum Mietbeginn hatten beide noch die Überlegung gehabt, das Haus vielleicht später doch noch zu kaufen. Es liegt sehr angenehm, von der Hauptstraße etwas zurückversetzt, eine ziegelgedeckte Garage ist direkt an das Haus angebaut und es gibt ein kleines Holzpodest im Garten unter den Apfelbäumen, den „Tanzboden, wie Katharina immer sagt. Diesen „Tanzboden nutzten beide als Freisitz an warmen Tagen. Aber solche Tage gab es in letzter Zeit immer weniger, weniger wegen des Wetters, vielmehr wegen ihrer doch sehr abgekühlten Beziehung. Die Ehe der beiden durchlebte in den letzten Monaten einen Spätherbst der Gefühle. Beide spürten, dass es dem Ende der Verbindung entgegen ging.

    Das Laub hatte schon begonnen, sich zu verfärben und jeden Tag fiel mehr davon ab, das Gras im Garten ist bereits vom Laub zugedeckt und wenn der Wind bläst, wirbeln die Blätter durch die Luft und sammeln sich in den Ecken zu kleinen Häufchen. Wenn man dann das Laub längere Zeit so liegen lässt, beginnt es unten bereits zu faulen, dann wird die Entsorgung schwieriger. Das gibt für ihn dieses Jahr auch noch viel Arbeit, murmelt er vor sich hin, jetzt, wo er allein in dem Haus wohnt, ganz allein.

    Er öffnet die Haustür und betritt den Flur. Halt: Schlappen abstreifen, hört er unbewusst Katharina ihm zurufen, wie wenn sie da wäre. Aber sie ist vor etwa drei Wochen komplett ausgezogen. Das war Mitte September gewesen, wie die Zeit vergeht. Aber sie war schon seit einem Jahr nicht mehr bei ihm, sie hatte sich eine kleine Wohnung angemietet und kam nur noch gelegentlich zu Sebastian nach Memmingerberg.

    Nicht dass ihn ihr Auszug wirklich überrascht hatte, aber dann doch wiederum schon, just in dem Moment, wo es eben so weit war. Die letzten beiden Jahre waren von schwindender gegenseitiger Sympathie geprägt gewesen. Von Liebe zu reden, hieße die deutsche Sprache zu verdrehen. Man hatte sich zwar immer gegrüßt und sich höflich nach dem Ergehen des anderen erkundigt, aber bei der immer gleichen Antwort schon nicht mehr zugehört. Die Luft in ihrer zwischenmenschlichen Beziehung war entwichen, neue Luft kam nicht mehr hinein und so war es zu erwarten gewesen, dass es zu einem Ende kommen musste.

    Nach dem Öffnen des Umschlages ist es dann auch klar. Seine Frau Katharina will jetzt die Scheidung, eine Anwältin hat die rechtliche Vertretung übernommen und bietet ihm in der Kanzlei Dr. Molfenter & Kollegen in Memmingen am Weinmarkt einen noch zu vereinbarenden Gesprächstermin an. Man wolle zunächst versuchen, eine gütliche Einigung zu erreichen und einen unnötigen Streit vermeiden.

    Gut, Kinder hatten beide nicht, das Haus war gemietet, es waren keine größeren Vermögenwerte vorhanden. Beide hatten ein Auto, er einen BMW 5erTouring, sie einen Mini, beide vom selben Autohaus und beide Fahrzeuge waren schon ziemlich gebraucht, so wie ihre Ehe eben auch. Eine korrodierende Ehe, an vielen Stellen Rostansätze, überall abgenutzter und spröder Lack.

    An einer Fortführung seiner Ehe war Sebastian auch nicht wirklich interessiert, schon gar nicht nach den Vorkommnissen in den letzten zwölf Monaten. Da hatte er viele persönliche Erniedrigungen, aus seiner Sicht auch Beleidigungen, hinzunehmen gehabt. Einen Hass auf seine Katharina empfindet er aber trotzdem nicht, vielmehr aber eine große Gefühlsleere. Manchmal dachte er sich, dass ein Hass auf Katharina vielleicht besser, weil praktischer, wäre, allein, er stellte sich nicht ein. Sein apathischer Gemütszustand war nicht mehr in der Lage, so viel an Energie aufzubringen, um ein Hassgefühl gegenüber Katharina entstehen zu lassen.

    Eine große Entmutigung für ein positives Leben hatte ihn ergriffen, er spürte, dass er mehr dahinvegetierte als dass er wirklich lebte. Dieses letzte Jahr hatte ihm eine Menge an Energie geraubt, sein bedrückender Zustand kam nicht von ungefähr.

    Dazu kam, dass vor zwei Jahren nach einer Routineuntersuchung bei seinem Hausarzt plötzlich ein erhöhter PSA-Wert festgestellt worden war. In früheren Jahren war er sportlich immer gut unterwegs gewesen. Natürlich war Skifahren im Allgäu Pflicht und die Skipisten lagen ja schließlich vor der Haustür. Alle seine Freunde und auch deren Mädels waren im Winter ständig auf den Pisten gewesen, sei es am Fellhorn, am Iseler, am Grünten, oder sonst irgendwo in Tirol.

    Doch seine Katharina fuhr nicht Ski, das lehnte sie ab, so sportlich war sie nicht. Also genoss Sebastian allein mit seinen Freunden die Skifreuden. Katharina war schon immer etwas introvertiert und versank ständig wieder in ihren Büchern. Lesen und immer wieder nur lesen, und dann auch noch immer über das Leben anderer, anstatt das eigene selbst in die Hand zu nehmen und am Leben aktiv teilzunehmen. Darüber gab es immer wieder heftige Auseinandersetzungen zwischen den beiden und später auch den mehr oder weniger vorprogrammierten Streit.

    Aber auch im Frühjahr und Sommer war es keinen Deut besser. Sebastian hielt sich in diesen schönen Jahreszeiten mit Radfahren fit, Katharina versank stattdessen in ihren Büchern, ihr Verhalten hatte fast schon etwas Provozierendes an sich. Sebastian hielt ihr bis zuletzt zwar immer noch zugute, dass sie von Beruf schließlich Buchhändlerin war und in einer bekannten Buchhandlung in Memmingen arbeitete, wahrscheinlich wird man da so.

    Sebastian hielt sich selbst grundätzlich für gebildet, aber Bücher in Romanform waren nicht gerade sein Gebiet. Über solche Romane dann noch zu sprechen, fiel ihm schwer, er bekam keinen Zugang zu diesem geistigen Metier. Wenn schon Bücher, dann bevorzugte er Bücher mit Themen wie Architektur, Design, Städteplanung oder Materialverwendung. Aber, um über eine solche spezifische Fachliteratur zu reden, fehlte Katharina wiederum die Basis, also gab es schon lange keine gemeinsamen Gesprächsthemen mehr. Vielleicht gerade eines noch, das Kochen.

    Gemeinsam kochen und das Gekochte dann auch gemeinsam verzehren, das war wie ein Wurmfortsatz aus guten Zeiten hängengeblieben. Beide suchten ständig neue Rezepte. Sebastian ging mit dem Einkaufszettel auf den Wochenmarkt oder in den Supermarkt, er liebt die diversen Kochvorbereitungen, wenn alle Zutaten geschnitten werden müssen. Zu Beginn des Kochvorganges mussten zuerst in breiter Front sämtliche Zutaten laut Rezept auf dem Tisch liegen, ebenso auch alle Gewürze und alle Pfannen und Töpfe. Er war auch hier ein Planer und Vorbereiter.

    Dann kochten beide gemeinsam, man hatte sich auf den ersten Samstag im Monat geeinigt, aber es gab immer öfter lautstarke Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der Garzeiten und der Gewürzmengen und überhaupt.

    Diese gemeinsame Kocherei ging einige Zeit noch gut, bis vor etwa einem Jahr. Dann wurden beide plötzlich sehr dünnhäutig und nahmen jede Gelegenheit wahr, dem anderen ständig Vorhaltungen zu machen, nur um dabei selbst Recht zu bekommen. Es wurden ständig Argumente von allen bekannten Starköchen herangezogen, von Lafer über Schuhbeck und Wohlfahrt bis zu Henssler, aber es ging immer nur darum, selbst Recht zu bekommen und dabei den anderen schlecht aussehen zu lassen.

    Diese Art von Kochen war nicht mehr besonders schön, es lief dann auch aus und an den Wochenenden, wo sonst immer die Kocherei gewesen war, aß jeder irgendetwas für sich und vor sich hin, oder man kam erst gar nicht mehr zusammen.

    Dafür nahm der Weinkonsum ganz erheblich zu. Sebastian bevorzugte halbtrockene Weißweine, Katharina erwischte er immer häufiger bei einem preisgünstigen Allerweltrotwein und gelegentlich bei einem Eierlikör, dem „Betthupferl", wie sie es immer bezeichnete.

    Ins Bett hüpfen, zumindest gemeinsam, fand ohnehin nicht mehr statt. Der Grund war damals Katharinas einsame Entscheidung gewesen, getrennte Schlafzimmer einzurichten. Anfangs noch von Katharina mit ihrer logischen Schläue so erklärt, dass sie in ihrem Schlafzimmerchen gerne noch vor dem Einschlafen ungestört in einem Buch lesen wolle. Bei einer Buchhändlerin konnte man das verstehen, aber Sebastian ahnte bereits einen anderen Grund, und als eine zwangsläufige Folge dessen kam dann ja auch der Auszug.

    Das Ergebnis der Untersuchung beim Hausarzt hatte zur Folge, dass dieser Sebastian zur weiteren Beobachtung zu einem Urologen überwies, zu Dr. Jakob Niederegger. Dr. Niederegger war ein bekannter Urologe in Memmingen. Die dort durchgeführten Untersuchungen ergaben aber alle acht Wochen steigende Werte und so kam der Zeitpunkt, an dem Dr. Niederegger zwangsläufig die Entnahme von Gewebeproben als letzte Möglichkeit einer exakten Diagnose sah. Von den fünf entnommenen Proben stellten sich dann zwei als harmlos, aber drei als „positiv" und damit als gefährlich heraus.

    Bei Männern ab einem gewissen Alter, und Sebastian war schon in so einem Alter, ist ein Prostatakrebs eine unangenehme und auch gefährliche Erkrankung. Selbst lange völlig schmerzfrei, arbeitet er sich in die Breite, streut aggressiv und führt bei zu später Behandlung dem Tode entgegen. Sein Urologe Dr. Niederegger, mit dem er inzwischen ein freundschaftliches Männerverhältnis begonnen hatte, stellte ihn bei seinem letzten Besuch deshalb auch vor die Frage:

    „Herr May, ich erkläre Ihnen heute einmal, welche Behandlungsalternativen wir haben. Nun, wir können den Feind in Ihnen bekämpfen. Da gibt es die Möglichkeit einer sogenannten Chemotherapie, einer Strahlentherapie oder eine Mischung aus beiden. Wir können aber auch Ihren Feind aus Ihrem Körper entfernen, also herausoperieren, was ich bevorzugen würde. Ich kenne da einen guten Spezialisten in einem Nachbarkrankenhaus, da könnten Sie mit gutem Gewissen und Vertrauen die Operation vornehmen lassen."

    Sebastian war unschlüssig, daher fragte er sicherheitshalber nochmals nach.

    „Wenn ich mich zur Operation entschließen sollte, Herr Dr. Niederegger, habe ich dann noch Nachwirkungen zu befürchten? Ich meine, ist nach der Operation alles wieder gut oder brauche ich dann noch weitere Zusatzbehandlungen?"

    Die Antwort von Dr. Niederegger ergab bei Sebastian einerseits eine Zuversicht, andererseits aber eine große Ernüchterung.

    „Wissen Sie, Herr May, in Ihrem jetzigen gesundheitlichen Zustand ist die reine Operation kein wirkliches Risiko. Das Krebsgeschwür in Ihrer Prostata ist noch verhältnismäßig klein, es liegt noch innerhalb des Organs und eine Streuung dürfte noch nicht erfolgt sein. Die Prostata wird also möglichst vorsichtig herausgeschält, aber der Arzt muss dabei versuchen, die darum liegenden Nervenzellen nicht zu beschädigen. Dazu müssen Sie wissen, dass gerade diese Nervenzellen maßgebend für die männliche Erektion sind."

    Sebastian ahnte bereits, was jetzt kommen würde. Er runzelte die Stirn und sah Dr. Niederegger ins Gesicht.

    „Sagen Sie, Herr Dr. Niederegger, was passiert, wenn bei der Operation diese Zellen dann doch in eine gewisse Mitleidenschaft gezogen werden?"

    „Ja, das ist das Problem, denn das erkennt man erst während oder sogar erst nach der Operation. Danach haben Sie dann zwar einen PSA-Wert von Null und damit ist die gesundheitliche Gefahr weg. Wenn Sie sich aber Gedanken hinsichtlich Ihres zukünftigen Geschlechtslebens machen sollten, dann gibt es natürlich noch diverse Gymnastikanwendungen und eben auch die „blaue Chemie, Sie wissen, was ich meine, Viagra-Tabletten oder andere eben. Die helfen heute vielen Männern ab einem gewissen Alter, aber der Sex verändert sich dadurch natürlich grundsätzlich. Von der früheren Spontaneität wird nicht mehr viel übrigbleiben, Sex mit der Partnerin muss dann mehr organisiert werden.

    „Wie meinen Sie das, Herr Doktor?"

    „Na ja, Sie brauchen eine gewisse Vorlaufzeit, bis das Medikament zu wirken beginnt. Es muss zwischen Ihnen beiden dann schon abgesprochen werden, wann man es macht, verstehen Sie?"

    „Nein, noch nicht ganz."

    „Ein vertrauliches Gespräch mit Ihnen und Ihrer Frau Katharina wäre die Voraussetzung, damit Sie beide die Sache verstehen und darauf richtig reagieren. Sex können Sie, das sage ich Ihnen hiermit zu, immer noch haben. Er wird sich aber geregelter, weil geplanter, abspielen. Ich schlage Ihnen vor, dass wir nach der Operation und Ihrer Heilung in meiner Praxis zusammen mit Ihrer Gattin ein vertrauliches Gespräch führen. Ich kann dann Ihrer Frau Katharina im Einzelnen mögliche Hilfen und Tipps geben. Ein gegenseitiges Vertrauen wäre dabei natürlich Voraussetzung."

    Sebastian May traf der Blitz. Er und Katharina, sie schlief schon nicht mehr in dem gemeinsamen Schlafzimmer, beim Urologen in einem Gespräch, in dem es um Sex gehen sollte. Also um gemeinsamen Sex und um Anleitungen zum Geschlechtsverkehr, wo sie ohnehin schon kaum miteinander sprachen. Solch ein Gespräch konnte er sich nicht vorstellen, da würde er vor Scham im Boden versinken. Das war für ihn kein guter Vorschlag.

    Nein, das geht nicht, überhaupt nicht, so etwas möchte ich nicht, kapiert das denn der Niederegger nicht? Ist doch nicht so schwer zu verstehen. Sebastian verließ deprimiert die Praxis.

    Zwei Wochen später rief Dr. Niederegger bei ihm im Büro an. Er müsse sich jetzt endlich entscheiden.

    „Die Zeit drängt, Herr May, und mit so einer Erkrankung spaßt man nicht herum, glauben Sie mir, es muss sein. Eine Woche Krankenhausaufenthalt wird ausreichen, soll ich Sie bei meinem Kollegen anmelden?"

    Sebastian willigte am Telefon ein, da er keinen anderen Ausweg aus der Situation sah, denn inzwischen wusste er auch, dass sowohl die chemischen Behandlungen wie auch eine Strahlentherapie vergleichbare Schädigungen an den Nervengeweben hervorrufen können.

    Ein OP-Termin wurde ihm auch telefonisch mitgeteilt, in zehn Tagen solle er einrücken, die schriftlichen Unterlagen würde er noch von dem ausgewählten Krankenhaus erhalten.

    Als dann der Brief des Krankenhauses eintraf, hatte Katharina, die zufällig wieder einmal im Hause war, diesen schon aus dem Briefkasten geholt und ihm ungeöffnet hingelegt. Aber Sie hatte natürlich durch den Absender, das ausgewählte Krankenhaus in Sonthofen, erkannt, dass Sebastian sich wohl einer operativen Behandlung zu unterziehen hatte. Also fragte Katharina:

    „Sag mal, Basti, sie sagte immer Basti, wenn sie etwas verniedlichen wollte, „was ist denn los mit dir? Musst du ins Krankenhaus? Du hast mir zwar mal erzählt, dass du bei einem Urologen bist und dass du irgendeinen Blutwert hast, der zu hoch ist, aber mehr hast du mir nicht erzählt.

    „Wir reden später drüber, ich brauche jetzt erst ein Glas Wein."

    „Ist es schlimm?" Die Frage hörte sich sehr allgemein und wenig interessiert an.

    „Nee, schlimm nicht, Männersache eben. So, wie ihr Frauen auch eure Problemchen habt, so haben wir Männer unsere."

    Sebastian war angefressen, das ganze Thema war für ihn ein einziger Ärger und Katharina gab sich nicht wirklich interessiert.

    „Na gut, dann also später. Du, ich fange gerade ein neues Buch an, mal sehen, ob es mir gefällt. Mein Chef, Alexander Hütter, du kennst ihn ja, hat es mir sehr empfohlen, es geht um eine Trennung nach einer langjährigen Ehe. Viele Frauen machen heutzutage von sich aus Schluss, sie fühlen sich emanzipiert genug, eigene Wege zu gehen. Die heutige Literatur ist voll davon, die Zeiten haben sich total geändert, verstehst du?"

    Natürlich verstand Sebastian, aber allem Anschein nach verstand Katharina die eigene Situation nicht, sonst müsste sie doch die Verbindung zwischen dem Zustand ihrer eigenen Ehe und dem Thema des Buches erkennen. Es blieb ihm nur ein Kopfschütteln übrig.

    Sebastian trank aus seinem Glas, der Wein schmeckte ihm nicht besonders, vielleicht ändert sich das mit dem zweiten Glas. Es war zehn nach sechs Uhr, Appetit hatte er keinen. Wie kann man auch in so einem Zustand ans Essen denken? Nach dem zweiten Glas Wein wurde er etwas lockerer.

    „Ich muss es ihr heute sagen, einfach damit es gesagt ist. Es muss raus, alles, auch das mit dem Sex, vielleicht, je nachdem, wie das Gespräch verlaufen wird. Verdammt, dass gerade mir so etwas passieren muss."

    Er sprach leise mit sich selbst um sich etwas zu beruhigen, der Wein begann ihn ein wenig zu entspannen, er schenkte nochmals nach. Sex war für ihn immer wichtig gewesen und seine Katharina war zumindest zu Beginn ihrer Beziehung auch sehr offen dafür. So zweimal die Woche, mindestens, hatten sie Sex. Im Bett, manchmal sonntags am Morgen, sonst abends, aber auch mal irgendwo, wo es dann schnell zur Sache ging. Vorspiel war zwar notwendig, das hatte er gelernt, war aber nicht so seine Sache, musste halt sein. Tut Katharina erkennbar gut, sie kam dann ganz anders und grunzte wie ein kleines Ferkel. Das gefiel ihm.

    Aber mit der Zeit hatte die Lust begonnen, einen abnehmenden Mond um sich aufzubauen, die Libido verkroch sich mehr und mehr und wollte nur noch selten heraus. Da schien es ihm normal zu sein, dass der Sex zwischen ihnen beiden eingeschlafen war. Er hatte sich eine Auszeit genommen, sozusagen. Time out, sagt man im Sport.

    „Ina, er wollte ihr schmeicheln, „könntest du mir jetzt zuhören, wir müssen etwas besprechen, bitte, hörst du mich?

    Katharina kam von nebenan in die Stube, in der einen Hand das Buch und einen halben Apfel in der anderen.

    „Erzähl, aber mach es kurz, in dem Buch geht gerade die Post ab, die gehen wild aufeinander los, die Trennung läuft bereits auf vollen Touren. Das war eine gute Empfehlung von meinem Chef, das muss ich ihm gleich morgen sagen, er kennt meinen Geschmack."

    „Also, hör zu, Katharina, und vergesse mal kurz dein Buch. Ich muss kommende Woche ins Krankenhaus nach Sonthofen, die haben eine Spezialabteilung für Prostataoperationen. Weißt du, meine Prostata hat sich einen Krebs eingefangen, der muss raus. Eine Woche Aufenthalt soll ich einrechnen, dann noch eine kleine Nachbehandlung bei meinem Arzt, dann ist es gut und vorbei."

    Katharina las nebenher in ihrem Buch, es musste da wirklich spannend zugehen, sie sah kurz auf. Man sah ihr an, dass sie lieber weiterlesen würde.

    „Prostata, aha, das ist doch bei euch Männern irgendwo bei der Blase. Wird herausgenommen, soso, wahrscheinlich nur ein kleiner Eingriff, wird schon gutgehen, ich besuche dich dann mal."

    Die kapiert wieder einmal gar nichts, denkt sich Sebastian, ein Ärger kommt in ihm auf. Weiber sind bisweilen einfach nicht zu verstehen, so, wie jetzt zum Beispiel.

    „Ja, aber, so ein Eingriff hat vielleicht Folgen, verstehst du, Nachfolgefolgen, meine ich, und die betreffen dann uns beide. Da hat mir mein Arzt angeboten, dass wir dann gemeinsam bei ihm in der Praxis ein Aufklärungsgespräch führen können, also nach der OP."

    Nun war es heraus, ein gemeinsames Gespräch beim Urologen, er verspürte seinen steigenden Unwillen gegen das, was er da gerade von sich gegeben hatte.

    „Jetzt geh erst mal ins Krankenhaus und komm wieder gesund zurück. Dann sehen wir schon, wie es weitergeht, das mit dem Gespräch kann man immer noch machen. Übrigens, das Buch gebe ich dir, sobald ich es ausgelesen habe. Diese Ehe ist hinüber, die ist fertig. Das musst du lesen, du solltest ohnehin mehr lesen, das erweitert den Horizont ungemein, glaube mir."

    Ich brauche keine Horizonterweiterung, verdammt noch mal, dachte Sebastian, was ich brauche ist Verständnis für meine Situation, und auch mehr Zuneigung, oder zumindest Zuspruch, oder Hilfe. Und nach der OP sicher noch viel mehr.

    Katherina wandte sich ab und ging wieder zurück. Sebastian hatte auch keine Lust mehr, das Gespräch fortzusetzen, warum auch, es hatte ohnehin alles keinen großen Sinn mehr. Er fühlte sich allein gelassen, der einzige, der seine Situation verstand war wohl Dr. Niederegger

    Die OP verlief planmäßig. Schnitt, Entfernung, Nachbehandlung, die üblichen Blasenübungen für das Zurückhalten des Urins usw. Er kam nach neun Tagen wieder nachhause, noch ein wenig geschwächt, die normale Nachsorge bei Dr. Niederegger, dann wieder ins Bauamt. Nur Dreiseitel wusste von der Prostataoperation, für die Kollegen war er in einem Kurzurlaub ohne Ehefrau gewesen, was ohnehin niemanden groß interessierte.

    Zu dem vertraulichen Gespräch mit Dr. Niederegger kam es aber nie, denn Katharina hatte seine Abwesenheit benutzt, sich eine eigene kleine Wohnung zu nehmen. Ein paar Möbel hatte sie sich besorgt, ihr Chef, Herr Hütter, dieser blöde Lackaffe, hatte ihr geholfen, die Möbel aufzustellen und das Appartement einzurichten.

    „Es ist für mich wie ein Jungmädchentraum, kuschelig und aufgeräumt und ich bin allein, verstehst du, ganz allein und ich kann machen was ich will. Kannst mich ja manchmal besuchen, ich müsste es nur vorher wissen."

    Beide waren auseinander, das war jetzt klar. Zwei einzelne Leben, zwei einzelne Interessensbereiche, zwei Autos, jetzt noch zwei Wohnungen, das gemeinsame Kochen war schon lange eingeschlafen und der gemeinsame Sex ohnehin. Die Luft war jetzt ganz einfach raus, beide hatten einen Plattfuß in ihrer langjährigen Beziehung. Was sollte denn da noch ein Gespräch bei seinem Urologen bewirken? Als er das mit Dr. Niederegger bei seinem nächsten Untersuchungstermin erläuterte, sah dieser seinen Patienten lange und ernst an. Aber dann hatte er Sebastian doch das erste Rezept für eine Packung mit Viagra-Tabletten ausgestellt, man weiß ja nie, meinte Niederegger. In eine Apotheke in der Stadt oder im Ort selbst traute sich Sebastian aber nicht hinein. Leute, die ihn kannten, könnten ihm da eventuell begegnen, das wollte er nicht. Dr. Niederegger kam ihm da sehr hilfreich entgegen:

    „Wenn Sie nicht zur Apotheke gehen wollen, kann Ihnen das auch meine Rezeptionistin besorgen, reden Sie mit ihr, die macht das auch für andere Patienten."

    Am nächsten Tag nach Feierabend konnte Sebastian in der Praxis die blauen Hilfsmittel abholen. Versteckt verwahrte er sie im Bad auf und las erst einmal den Beipackzettel und auch die Empfehlungen für eine Anwendung. Auf Nebenwirkungen wurde hingewiesen, ja, muss man halt sehen.

    Einmal, und nur zum Versuch, hatte er eine Tablette genommen, aber nichts geschah. Da aber in der Anleitung stand, dass man sein Glied animieren müsse, versuchte er es und zusehends wurde es größer, und, wenn schon mal dabei, machte er weiter und bekam zu seiner Überraschung einen Orgasmus vom Feinsten. Dabei tat es ihm in diesem Moment ganz besonders gut, dass Katharina nicht mit beteiligt war, er hatte zum ersten Mal Sex ohne sie.

    Das war die Lösung schlechthin, genauso wollte er es künftig beibehalten, so könnte es gehen. Eine Teilhabe von Katharina an einem gemeinsamen Sexleben schloss er von nun an strikt aus. Es hat sich ausgebumst, liebe Katharina, nix mehr mit Vorspiel, aus und vorbei, basta. Er war selbst überrascht, wie wohl es ihm auf einmal bei diesem Gedanken war.

    Dann, vor sechs Wochen, als Sebastian Feierabend machte und nachhause fahren wollte, machte er noch einen kleinen Abstecher in seiner Stammkneipe im Ort, dem Bit am Berg, um mit dem Wirt, der inzwischen sein Freund Michael, genannt Mikel, war, ein Bierchen zu trinken.

    Da hatte er schon eine gewisse Vorahnung. Mikel war übrigens der einzige, dem Sebastian von seinem Viagra-Thema erzählt hatte. Es schien, als ob Mikel für ihn Verständnis aufbringen könnte.

    Das Bit am Berg war früher einmal in Memmingerberg

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