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Das Turnier der Bleistiftritter: Achtzehn Begegnungen
Das Turnier der Bleistiftritter: Achtzehn Begegnungen
Das Turnier der Bleistiftritter: Achtzehn Begegnungen
eBook122 Seiten1 Stunde

Das Turnier der Bleistiftritter: Achtzehn Begegnungen

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Über dieses E-Book

Klaus Merz zählt zu den bekanntesten Schweizer Literaten. Nun hat die Leserschaft die Möglichkeit, auch eine der etwas verbor-genen Seiten des Autors kennenzulernen, nämlich eine Auswahl seiner Porträts, Reportagen und Essays, die Merz im Laufe der Jahre verfasst hat. Aber auch hier möge man sich nicht täuschen: es sind keine gewöhnlichen publizistischen Texte, sondern in Literatur gesetzte "Begegnungen", wie man sie von Klaus Merz kennt und schätzt. Markus Kutter schreibt in seinem Vorwort dazu: "Zuerst dachte ich: Es gibt den Klaus Merz, der seine hintergründigen und bisweilen hinterhältigen Geschichten schreibt, und daneben den Klaus Merz, der für Redaktoren Texte auf Bestellung verfasst und Reden auf Einladung hält. Also - Belletristik auf der einen, Publizistik auf der anderen Seite. Dann begann ich nach der flüchtigen Durchsicht genauer zu lesen und merkte, dass ich mich völlig verrannt hatte: Das ist kein Autor mit einer Sonn- und Wochentagsseite, es ist immer das gleiche. Und wenn er schreibt, was immer er schreibt, bleibt er auf seinen Schleichwegen. Bei Grimm nachgeschaut: Jemanden hinter die Schliche kommen. Ich möchte Merz hinter die Schliche kommen." Das ist eine Einladung!
SpracheDeutsch
HerausgeberHaymon Verlag
Erscheinungsdatum2. Juli 2013
ISBN9783709975275
Das Turnier der Bleistiftritter: Achtzehn Begegnungen

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    Buchvorschau

    Das Turnier der Bleistiftritter - Klaus Merz

    Kutter

    Hut ab

    Ein Verwandtentreffen in Menziken

    1

    Nach dem Tod meines Vaters sind zwei Hüte auf mich gekommen, ein dunkelgrauer Allwetterhut und ein schwarzer, hochrandiger Nobelfilz. Für Hochzeiten, Staatsbankette, Beerdigungen.

    Mein Vater trug den Eden-Hut nur einmal, zu meiner Konfirmation. Später setzte er ihn noch hie und da auf, wenn er guter Laune war, bevor er ihn schnell wieder in die steife, schützende Schachtel zurücklegte. Mein Sohn und ich setzen diesen Hausgebrauch noch sporadisch fort.

    Vater hatte sich in der Mitte des Lebens endgültig für die Baskenmütze entschieden, denn ohne Kopfbedeckung ging er nie aus. Zu oft hatte er den gnadenlosen Türspruch seines Vetters und Fabrikanten zitiert, der bis zur Schliessung der Hutmacherei über dem Fabrikeingang prangte:

    „Hutlose Lieferanten werden nicht empfangen!"

    Obwohl mein Vater kein Stroh- oder Filzlieferant war, er hätte seinem heftigen Verwandten auch auf offener Strasse nicht ohne Kopfbedeckung unter die Augen kommen wollen.

    2

    Glätterei. Auszeichnerei. Garniererei. Näherei. Die Filzstumpen, vom Wollfilz bis zum Biberhaarfilz, sie wurden in der Glätterei unter Dampf und Hitze in Form gebracht. Aber erst in der Garniererei, im Atelier der Modistinnen, wurde dem anonymen Hut die Seele eingehaucht. Von den schönen, schnellen, den geschmackssicheren Artistinnen.

    In Paris wurden die Ideen geholt und auf den helvetischen Kopf umgedacht. Ein Hut für die Stauffacherin und ein Hut für die verwegene Städterin. Die Putzmacherinnen stellten sich selber vor den grossen Spiegel im Atelier, der sich sanft zu ihnen hinabneigte, so dass der Hut im Mittelpunkt ihres Spiegelbildes stand. Die Kreationen und Transformationen fanden zu einem grossen Teil auf den Köpfen der huttragenden Modistinnen selber statt. Ihre Hüfte, Beine, Füsse hatten bei der Arbeit ganz hinter den Kopfschmuck zurückzutreten. Reiherfedern und Schleier, Strohblumen und Bänder, sie veränderten den billigsten und den teuersten Filz. – Bis der ausländische Konkurrenzdruck, vorab aus Hongkong, und das hektische Auf- und Ab der Hutmode selbst der behäbigen Infrastruktur der Firma zuviel wurden. Nur für die paar letzten Bestellungen im alten Jahr blubbert der Dampfkopf noch.

    3

    Ein Enkel des verstorbenen Patrons, der einzige Hutmacherlehrling seit fünfzehn Jahren in der Schweiz, wird von seinem Vater, meinem Coucousin Hans, mit den letzten Aufträgen und dem Zusammenräumen der Fabrik betraut. Er angelt für mich eine goldgerahmte Fotografie von 1953 vom Nagel. Sie zeigt seinen schwergewichtigen Grossvater als strahlenden Fabrikanten, den leiblichen Erben an seiner Seite, inmitten der fünfzigköpfigen Belegschaft. Alle Damen und Herren tragen ausnahmslos Hut. Der Geschäftsausflug führt sie nach Genf, um ein wenig welsche Luft zu atmen - als wäre es der Äther über Paris. Aber dorthin fuhr ihr Patron jeweils allein, um in Sachen Mode ständig à jour zu sein.

    Fünfunddreissig Jahre später räumt sein Enkel die alteingesessene Firma auf dem Land endgültig zusammen. Der Grossvater ist seit zwölf Jahren tot. Das NOW auf der T-Shirt-Brust möchte der junge Berufsmann aber nicht als ein Apocalypse Now für jegliche Kopfbedeckung verstanden wissen. Er denkt vielmehr an einen etwas schmaleren Neuanfang im Dienste des Hohspitzes aus Filz oder Stroh. Vielleicht in der Stadt, wo es mehr Köpfe hat.

    4

    Der Ehemann der letzten Näherin hat vor Jahren auch noch im Betrieb gearbeitet, in der Spedition. Dann kam die Kurzarbeit. Er wechselte die Stelle und trat vermehrt als Alleinunterhalter auf. Seine Frau blieb bei den Hüten.

    Auf ihrem langen Arbeitstisch liegt der Brief eines zweiundneunzigjährigen Musiklehrers, der den Rand seines nicht mehr ganz salonfähigen Hutes gerne erneuert hätte. Er bietet dafür eine Zierschrift von 1870 an, dreifarbig, die er vermutlich noch als letzter schreibe. Man solle ihm Namen und Geburtsjahr eines geliebten Menschen nennen, damit er mit seinem Werk beginnen könne.

    Hans nimmt den renovierten Hut prüfend vom Tisch und ist zufrieden mit dem neuen Rand. Draussen beginnt es zu schneien.

    5

    Kurz vor Weihnachten vernehme ich, dass auch mein anderer Coucousin und Freund der frühen Jahre, seines Zeichens Bankdirektor und ehemaliger Hutmacher, für einen Tag an seinen ursprünglichen Wirkungsort zurückkehre, um für den Eigenbedarf noch ein paar Filze zu ziehen.

    Hinter beschlagenen Scheiben, zwischen den rauchenden Dampfköpfen kommt es zu einem letzten Verwandtentreffen in den alten Sälen. Die Fabrik mit den beiden griechischen Gipsköpfen im Giebelfeld ist bereits eingerüstet. Der Käufer des sterbenden Betriebes, ein benachbarter Bar- und Nachtclubbesitzer, steht schon auf dem Baugegerüst und schwingt selber den Pinsel. – Vom Hut zur Haut? Nein, er wird vermieten. Und später wohl abreissen, um neu zu überbauen.

    6

    „Man muss den Filz ziehen, solange er noch heiss ist." Der das sagt, ist vermutlich der einzige helvetische Bänker, der sich am wirklichen Filz die Finger schon verbrannt hat.

    Unter seiner ein wenig aus der Übung geratenen Hand entsteht ein dunkelgrauer Borsalino. Mir verspricht er einen Panamahut, wie Fitzcaraldo ihn trug. Und hinter den Gesprächen über Hüte steht plötzlich auch unsere Kindheit wieder da, die wir zu einem grossen Teil dem Jordan entlang verbracht haben, so nannten wir den Fabrikkanal.

    Einige Jahre nach dieser Zeit nimmt dann der ausgelernte Hutmacher als erster den Hut und zieht in die Welt hinaus, schult um. Die Flüche seines polternden Onkels und Fabrikanten verhallen nur allmählich im Rücken des Abtrünnigen. Zurück bleibt Hans. Aber da ist das Glück schon aufgebraucht.

    Schneewittchens Sohn

    Wir dürfen nie vergessen,

    dass wir Königskinder sind.

    (nach Martin Buber)

    1

    Kurz nach Ostern trafen wir auf Lukas-Emanuel. Er war’s, musste es sein, vollständig verheilt, wie wir sahen: Schneewittchens Sohn. Umgeben von lauter verzauberten Frauen, spielte er auf dem Bandoneon neben dem rauchenden Grill einen Marsch. In den Pausen las ich aus seinem Gesicht die ebenmässigen Züge seiner verstorbenen Mutter heraus. Unsere Kinder verdrückten sich Richtung Rummelplatz.

    Wie aufgeregt war ich doch damals gewesen, als wir unter den roten Kapuzen, alle sieben, aus dem finsteren Tann auf die Bühne stolperten, auf den schmalen Schultern Schneewittchens gläsernen Sarg. Sorgfältig balancierten wir die neue Kindergärtnerin vor dem schweigenden Saal hin und her. Auf den vordersten Stühlen im Parkett die turnerisch Untalentierten, sie atmeten hörbar und machten sich, ausser Programm, schon parat, um die Bühne zu entern und den erstickten Engel zu retten.

    Da trat unser Elektromonteur und Barrenmeister an den durchsichtigen Schrein. Seine gebügelten Kunstturnerhosen steckten in schwarzen Stiefletten und über die breiten Schultern des Königsohnes floss blutrot das Cape. Er hob seine Braut kurzerhand aus dem Sarg, warf den vergifteten Apfel in die Kulissen und stemmte die Schöne in den Lindenblütenhimmel hinauf. Das Publikum tobte.

    Kaum ein Jahr später kam Lukas-Emanuel auf die Welt, tirilierend, wie es hiess. Wir hatten ausgezwergt, schlugen wieder Purzelbäume, machten Spagate, hüpften, zähmten die Schaukelringe.

    2

    Nur Kürsteiner schaffte es nie, die paar Batzen für den Eintritt in die Kindervorstellungen zusammenzusparen.

    Kürsteiner war pockennarbig und hatte zehn jüngere Geschwister. Die Dachtraufe seines Elternhauses, eine windschiefe, gestrandete Arche, stiess mit ihren Ecken in die Gemüsebeete hinab. Wenigstens gediehen die Kartoffeln gut, und die Winterhilfe lieferte Klamotten. Kürsteiner stank. Auf dem Fussballfeld mieden wir ihn. Er besass nicht einmal einen eigenen Ball und bestand, zum Glück für ihn, jeweils nicht lange darauf mitzuspielen, applaudierte hinterm Tor, wenn wir siegten.

    Dann verliessen wir den Rasen, stiegen von der Turnhallenbühne herab und verloren auch ihn aus den Augen. Wir machten Matura, Karriere, eigene Kinder und kehrten nach längeren Auslandsaufenthalten zum Eiersuchen erstmals wieder ins Dorf zurück. Da stoppte er uns und liess uns warten.

    Es war tatsächlich Kürsteiner, in Uniform, der auf der orange markierten Kanzel im Zentrum der heikelsten Kreuzung stand. Er liess erst die Alten passieren, Frauen mit Kindern, die Linksabbieger, gab Handzeichen, grüsste und schichtete die Geschenke der Vorüberziehenden rund um den Inselrand sorgsam auf. Schaumweine wurden ihm durchs offene Wagenfenster hinaufgereicht, Nougateier an bunten Schleifen, Kuchen, die Osterglocken. Kürsteiner schwamm in Zuneigung und regelte gleichzeitig den Verkehr. Der zuverlässigste und gescheiteste Hilfspolizist am Ort, vernahmen wir später, die Verwandtschaft rühmte.

    Kürsteiner war kurz vor Weihnachten von einem Zwölfzylinder vom Podest gefegt worden, ein Beckenbruch, und zu Ostern endlich wieder auferstanden.

    Wir rutschten im Schrittempo an ihm vorüber, mit leeren Händen. Er erkannte uns, legte die Hand an den Mützenrand. Wir erblassten vor soviel Milde im breiten Gesicht, fühlten uns klein in den grossen Polstern und zugleich ungemein erleichtert durch das freundliche Handzeichen des

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