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Jenseits des roten Teppichs: Meine Biografie zwischen Business und Boulevard
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eBook500 Seiten4 Stunden

Jenseits des roten Teppichs: Meine Biografie zwischen Business und Boulevard

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Über dieses E-Book

Jenseits des roten Teppichs, abseits des Blitzlichtgewitters, fängt das wahre Leben erst an. In seiner Autobiografie gewährt der erfolgreiche Fachzeitschriftenverleger Ulrich Scheele Einblicke in einen Lebenslauf, in dem es nicht immer nur aufwärts ging. Glanz und Glamour der Entertainment-Welt bilden die Kulisse und zugleich das Leitmotiv für familiäre Ereignisse und geschäftliche Abenteuer. Mit Gastauftritten sind unter vielen anderen dabei: Alain Delon, Loriot, Lauren Bacall, Angelina Jolie, Rudi Carrell, Michail Gorbatschow, Astrid Lindgren, Maximilian Schell, Rea Garvey, Gottfried John, Bernd Eichinger und Roger Willemsen.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum27. Nov. 2017
ISBN9783743956506
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    Buchvorschau

    Jenseits des roten Teppichs - Ulrich Scheele

    Eins

    Eigentlich war ich ein Glückskind

    Als ich am 27. März 1946 in Neumünster in Schleswig-Holstein geboren wurde, war der Zweite Weltkrieg zehn Monate vorbei. Deutschland lag zwar in Trümmern, aber mir ging’s prächtig! Meine Mutter beschrieb Jahre später in einem mir gewidmeten Fotoalbum meine damalige Ankunft:

    „Der Dritte im Bunde, Ulrich genannt, kam mit neun Pfund hier ins Erdenland. Der Krieg war aus, die Zeiten schwer, das Brot war teuer, die Kassen leer. Doch Uli war kräftig, gesund und heiter. Wir dankten dem Herrgott. Er half auch weiter."

    Tat er das wirklich? Ich bin mir nicht ganz sicher, ob er mir geholfen hat oder ich mir selbst, ob es die Umstände waren, oder ob ich einfach nur Glück gehabt habe.

    Eines ist gewiss: Eine lange Zeit in meinem Leben hatte ich das Gefühl, dass mir keiner geholfen hat, dass keiner an mich geglaubt hat. Das klingt vielleicht ein wenig bitter, aber es war wirklich nicht immer einfach. Mein Leben verlief viele Jahre lang wie auf einer Achterbahn. Mal hinauf, öfter aber doch hin–unter. Ich fühlte mich lange Zeit als Versager. Mein Tagebuch, das ich mit fünfzehn Jahren begann, trug die Überschrift „Aus dem Leben eines Taugenichts. Trotzdem hatte ich immer ein unerschütterliches Urvertrauen in mir. Ob es Optimismus war oder nur kämpferischer Trotz, der mich nie aufgeben ließ, weiß ich bis heute nicht. Jedenfalls schrieb meine Mutter weiter: „Sein ausgeprägter zäher Wille bot täglich aufs Neue eine harte Pille.

    Keine Frage: Meine Mutter hat an mich geglaubt und mir die Fähigkeit vermittelt, auch selbst an mich zu glauben. „Du schaffst das schon", höre ich sie noch heute liebevoll sagen.

    Schon immer vermochte ich, mich auf den schlimmsten Fall aller Fälle einzustellen. Ich beschloss also, den Krebs zu besiegen und den besten Arzt und die beste Methode zu finden. Dazu brauchte ich schnellstmöglich Informationen aus dem Netz und von Betroffenen, die ich kannte. Mir fiel ein befreundeter holländischer Filmproduzent ein, der mir ein paar Jahre vorher einmal angeboten hatte: „Uli, wenn du mal Probleme hast, ruf mich an. Ich habe das alles hinter mir."

    Ich rief ihn an und war gerührt, wie er mir Mut zusprach und mir dringend riet, umgehend die Biopsie machen zu lassen.

    Das tat ich dann auch und kündigte umgehend meinem langjährigen Urologen, der es nicht für nötig befunden hatte, mich selbst zu biopsieren. Denn eine Biopsie dauert nicht länger als gerade mal eine Viertelstunde.

    Ich war zornig auf diesen Arzt, der nichts weiter im Sinn hatte, als seinem Sohn, ebenfalls Urologe, das dann fällige Honorar zuzuschustern.

    Das Ergebnis der Biopsie zeigte schnell die Schwere meiner Erkrankung. Von zehn Biopsiestanzen war die Hälfte positiv – ein Befund, der weder den Oberarzt rechts der Isar noch den Professor Dr. Stief im Klinikum Großhadern zuversichtlich stimmte. Ohne Operation hätte ich noch maximal zwei Jahre. Man riet mir dringend zu einer Entfernung der Prostata. Wenigstens waren alle anderen radiologischen Befunde negativ und auch die Knochen frei von Metastasen.

    Ein paar Tage später lag ich in Großhadern auf dem OP-Tisch.

    Ich soll ein lieber kleiner Kerl gewesen sein, zumindest in den ersten zwei Lebensjahren.

    Da gab es bereits meine Geschwister Brigitte, sieben Jahre alt, und Hans-Eberhard, vier Jahre alt. Nach mir kamen 1948 die Zwillinge Marianne und Michael auf die Welt. Das war wohl für mich die erste bittere Pille, die ich schlucken musste. Denn auf die bis dahin fast ungeteilte Aufmerksamkeit meiner Mutter musste ich jetzt verzichten. Ab diesem Zeitpunkt war ich für meine Eltern, vor allem für meine Mutter, wohl kein „lieber kleiner Kerl" mehr. Ich war trotzig, widerborstig und lehnte mich auf, wo es ging. Ich suchte Aufmerksamkeit, wo immer es ging. Und die Suche danach hat mich zeitlebens nicht verlassen.

    Meine schulischen Leistungen waren alles andere als zufriedenstellend. Sieben verschiedene Schulen auf vier verschiedenen Internaten lassen erahnen, was ich meinen Eltern zugemutet habe. Und wenn ich dann in den Ferien zu Hause war, gab es nur Ärger. Ich war „frech und ungehorsam", wie mir mein Vater häufig attestierte.

    Dabei wollte ich das gar nicht sein. Ich wollte Aufmerksamkeit. Im Innersten hatte ich einen weichen Kern, war eher auf Harmonie ausgerichtet. Wenn ich allerdings das Gefühl bekam, zu kurz zu kommen, wurde ich renitent und wollte meine Position unbedingt durchsetzen. Meine Eltern wollten mir das jedoch nicht gestatten.

    Sie glaubten, meinen Willen brechen zu müssen. Vor allem mein Vater, dessen oberste Maxime in der Erziehung die Gehorsamkeit war. Und so setzte es viele Male Ohrfeigen, Haus- und Stubenarrest, was meine Bockigkeit häufig noch verstärkte. Und solche Sanktionen trafen mich viel häufiger als meine Brüder. Das war jedenfalls mein Eindruck.

    Eine Woche nach der Operation wurde ich aus dem Krankenhaus entlassen. Ich war zuversichtlich, dass alles gutgehen würde. Doch ich hatte Angst. Würden die Nachuntersuchungen bestätigen, dass wirklich alles raus ist?

    Um sicherzugehen, solle ich mich bestrahlen lassen, riet man mir im Klinikum rechts der Isar – allerdings ohne mir viel Hoffnung zu machen, dass damit das Problem gelöst, der Krebs also besiegt sei. Mein Operateur Professor Dr. Stief bezweifelte sogar den Sinn der Bestrahlung.

    Nach etlichen schlaflosen Nächten entschloss ich mich dazu, die Prozedur einer Radiatio über mich ergehen zu lassen. Immerhin lebte ich noch, und Metastasen wurden auch keine gesichtet.

    Ursprünglich waren wir sechs Geschwister. Heute sind wir nur noch zu fünft. Brigitte (1939), Hans-Eberhard (1942), Andrea (1959) und ich, Jahrgang 1946. Von den Zwillingen, Jahrgang 1948, lebt nur noch Michael. Marianne nahm sich mit 24 Jahren das Leben. Sie war manisch-depressiv, lesbisch und hatte in ihrem kurzen Leben auch in Schule und Ausbildung nur Pech, sie entsprach also in keinerlei Weise den Vorstellungen ihres Vaters. Im Alter von dreizehn Jahren wurde sie vergewaltigt.

    Zu meinen Geschwistern habe ich heute kaum Kontakt. Mit meiner ältesten Schwester Brigitte tausche ich mich sporadisch aus. Das Verhältnis zu ihr ist mehr freundschaftlich als geschwisterlich. Wir sehen uns selten, telefonieren aber alle paar Monate. Mit meinem Bruder Michael spiele ich hin und wieder eine Runde Golf nach langen Jahren des Schweigens und der Entfremdung.

    Ich bin der „Dritte im Bunde" der Geschwister, gefühlt habe ich mich aber fast immer wie ein Einzelkind. Brigitte und Eberhard waren mir in meiner Kindheit altersmäßig weit voraus und die jüngeren Zwillinge eher mit sich selbst beschäftigt. Als ich dreizehn Jahre alt war, kam noch eine weitere Schwester zur Welt: Andrea. Auch ein Einzelkind.

    Noch heute höre ich meine Eltern sagen: „Und wenn wir einmal nicht mehr da sind, ist unser größter Wunsch, dass ihr alle zusammenhaltet."

    Leider kam es anders. Nicht alle für einen, wie meine Eltern es sich gewünscht hatten, sondern alle gegen einen. Zum Beispiel gegen mich. Nein, jeder gegen jeden mit wechselnden Fronten.

    Viele Jahre lang war ich nur Zuschauer in der geschwisterlichen Runde. Keiner wollte mehr mit mir „spielen". Wie so oft in meiner Kindheit.

    Eberhard war immer der Gute, der Gehorsame. „Nimm dir ein Vorbild an Eberhard", hörte ich häufig. In der Schule und daheim war mein älterer Bruder so, wie ich nicht sein konnte. Er entsprach den Erwartungen und Hoffnungen meiner Eltern, besonders mit seinen schulischen Leistungen. Das war eine gute Voraussetzung, den immensen Leistungsanforderungen unseres Vaters gerecht zu werden.

    Vater Hans kannte das nicht anders, machte er doch schon mit siebzehn Jahren sein Abitur, wurde früh Offizier und erhielt Anerkennung durch seine sehr erfolgreiche Arbeit als Chef der kommunalen Verwaltung des Landkreises Wiedenbrück, später Gütersloh. Er hatte immer recht, wusste es immer besser – und wenn nicht, was selten vorkam, war er nicht zu sprechen, hatte Wichtigeres zu tun. Eine Diskussion, schon gar nicht auf Augenhöhe mit seinen Kindern oder auch seiner Frau, fand kaum statt. Und wenn, dann hatte das fast immer etwas Belehrendes.

    Erst in seinen letzten Lebensjahren habe ich bei ihm eine gewisse Altersmilde gespürt. Erst da wurde er fähig zuzuhören und stellte hin und wieder auch eine Frage nach dem persönlichen Wohlergehen und wie es beruflich so geht.

    Unsere Mutter war das wohltuende Gegenteil. Sie zeigte sich liebevoll, nachsichtig und verständnisvoll, jedenfalls mir gegenüber, was mit mir nicht immer einfach war. Sie konnte zwar auch aufbrausend bis jähzornig sein, aber sie konnte auch lachen. Sie konnte umarmen, trösten, in den Arm nehmen, streicheln, mitfühlen. Mein Vater konnte das nicht.

    Die Zukunft von gestern ist tot

    Gestern war das Heute ohne Bedeutung

    Und auch das Morgen hatte keinen wirklichen Sinn

    Seit heute ist gestern vorbei

    Denn jetzt ist das Heute wie morgen

    und das Gestern ist wieder wie heute

    Gestern, heute, morgen ist Zukunft

    mit neuer Vergangenheit.

    Palazzuolo, 1990

    Als ich dieses Gedicht vor fünfundzwanzig Jahren schrieb, konnte ich nicht ahnen, dass mich diese Zeilen einmal beim Lesen mehr bewegen würden als damals, als ich sie erdachte. Doch zurück zu meiner Kindheit.

    Zwei

    Die ersten zwölf Jahre

    Kein artiges Kind

    1948 wohnten wir in Höxter an der Weser. Vater Hans, Studienrat für Mathematik, Physik und Erdkunde, hatte anderes vor, als Schülern den Pythagoras einzubläuen. Schon während des Studiums in München und Marburg hatte er sich in seiner Heimatstadt Bielefeld in den Semesterferien ein abgerundetes Wissen um die Basisarbeit der Kommunalverwaltung verschafft.

    Als Major war er im Juni 1945 aus dem Krieg zurückgekehrt, der ihn nach Russland bis in den Kaukasus geführt hatte, und er wollte wohl, so mein Eindruck heute, mit seinem Organisationstalent und seiner Führungserfahrung in der Verwaltung Karriere machen.

    Nach einer Turbo-Verwaltungslehre als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter in Löhne/Westfalen bewarb er sich als Stadtdirektor in Höxter, wurde von der britischen Militärverwaltung als entnazifiziert eingestuft und erhielt den Job.

    Wir wohnten zunächst am Ziegenberg/Wilhelmshöhe mit herrlichem Blick über die alte Fachwerkstadt am Rande der Weser. Das Wort „Weser" war auch das erste Wort, das ich sprechen oder eher lispeln konnte.

    Woran ich mich erinnere? Ich war wasserscheu, wollte nicht in der Zinkwanne gebadet werden und habe mich wohl heftig gewehrt. Bruder Eberhard musste auf Geheiß meiner Mutter von draußen mit einem Stock ans Fenster schlagen, damit ich gefügig wurde. Zitternd vor Angst ließ ich die Prozedur über mich ergehen. Das ist die allererste Erinnerung in meinem Leben. Ich glaube, ich war nicht einmal drei Jahre alt.

    Meine Mutter hatte nur dann Ruhe, wenn ich mit meinem Vater unterwegs war. Er war inzwischen Amtsdirektor geworden und unter anderem für ein paar kleine Gemeinden dafür zuständig, nach den kriegsbedingten Schäden staatliche Leistungen der Daseinsvorsorge wiederaufzubauen wie zum Beispiel Wasser- und Stromversorgung, Krankenhaus und Feuerwehr.

    So erinnere ich mich, wie ich dann in seinem klapprigen, ungeheiztem Dienst-Volkswagen mit 35 PS auf dem Rücksitz saß, strohblond mit blauen Augen und einem Scheitel, der dank der Haarspange, die mir Mutter verpasst hatte, immer korrekt saß. Ich erfuhr als Knirps an der Hand meines Vaters hautnah, dass er wichtig und bedeutend war. Auf jeden Fall stand er immer im Mittelpunkt. Und ich durfte stolz danebenstehen, auch wenn ich natürlich nicht verstand, was da besprochen wurde.

    Es war auch die Zeit, in der ich langsam verstehen lernte, dass ich nur einer von fünf Geschwistern war. Mein Vater hatte sechs Schwestern, meine Mutter zwei Geschwister. Sie war schon mit vierzehn Jahren Halbwaise und hat sehr unter ihrer Stiefmutter gelitten. Bis auf Oma Scheele lebten meine Großeltern nicht mehr.

    So feierten wir alle zusammen in Höxter als Großfamilie am 31. Dezember in das Jahr 1952 hinein.

    1952 war ein wichtiges Jahr für die Familie Scheele und ein neuer Anfang, der es in sich hatte. Vater Hans war nämlich kurz zuvor in geheimer Abstimmung vom Kreistag des Landkreises Wiedenbrück für zwölf Jahre zum Oberkreisdirektor gewählt worden und sollte sein Amt am 1. Februar antreten.

    Ich erinnere mich an einen Möbelwagen, vollgepackt mit unseren Möbeln – nicht viele – aus der Dienstwohnung im Amt Höxter-Land. Es war in der Karwoche vor Ostern im März 1952. Auf der mehrstündigen Fahrt nach Wiedenbrück durfte ich im Fahrerhäuschen neben meiner großen Schwester Brigitte sitzen. Der Rest der Familie war bereits in Wiedenbrück, um den Umzug vorzubereiten. Vater Hans war schon in Amt und Würden.

    Was da alles um meinen sechsten Geburtstag herum geschah, habe ich natürlich nicht verstanden. Alles war neu und aufregend. Es war der Einzug in ein Paradies. Und ich bekam meine erste Lederhose. Und die Stadt Wiedenbrück feierte mit einem großen Festzug ihr tausendjähriges Bestehen.

    Auf einem ehemaligen Burgareal (zum ersten Mal datiert um das Jahr 1250) mit sechs Hektar Größe, umgeben von einer Umflut mit einem riesigen Fischteich und ungezählten Laub- und Nadelbäumen lag das Amt Reckenberg, das Landratsamt samt Dienstwohnung in einem zweigeschossigen Gebäude mit barockem Walmdach, neun Fensterachsen, Freitreppen und Portalen, errichtet um 1730.

    Gegründet wurde der Landkreis 1816, und als erster Landrat fungierte ein gewisser Ludwig von Schele (!).

    Und hier würden wir wohnen.

    Mutter Maria erwartete uns mit einem glücklich strahlenden Gesicht an der Eingangsfreitreppe und lud uns zur ersten Führung ein. Es roch überall nach frischer Farbe.

    In einigen Zimmern waren noch Maler und Schreiner mit kleineren Arbeiten beschäftigt. Parkettleger schlossen die letzten Lücken im Wohnzimmer, während schon die ersten Möbel auch in unsere Kinderzimmer getragen wurden.

    Alles war einfach groß und überwältigend.

    In jedem Zimmer gab es eine Klingel mit Verbindung zur riesigen, fast herrschaftlichen Küche mit zentralem Kohleherd und Zugang zur Speisekammer. Die Deckenhöhe der Zimmer machte mich kleinen Knirps noch kleiner, und beim vorsichtigen, ängstlichen Entdecken des Kellers mit seinen dicken Mauergewölben erschauderte ich: kaum Licht, Feuchtigkeit, der Geruch von Moder, dazu tropfende Wasserleitungen und eine große Waschküche mit Auffangbecken für Regenwasser, denn Waschmaschinen gab es damals noch nicht. Unheimlich. Es war wie in einem unterirdischen Verlies.

    Welch befreiendes Aufatmen dann beim Gang nach draußen in den schier unendlich großen parkähnlichen Garten. Unser neues Zuhause! Genannt: der Reckenberg.

    Unsere Familie bewohnte die linke Hälfte des Gebäudes, für das Landratsamt war die rechte Hälfte reserviert. In dieser Umgebung konnten wir Kinder uns richtig austoben.

    Viele Nachmittage verbrachte ich mit unserem Gärtner Venhaus, der für den Park verantwortlich war. Er muss wohl schon damals weit über sechzig Jahre alt gewesen sein, hatte ein Glasauge, sprach plattdeutsch, was ich natürlich nicht verstand, und sein ständiger Begleiter war sein weißer Hund „Spitz". Gärtner Venhaus verrichtete schon seit mehreren Jahrzehnten seinen Dienst auf dem Reckenberg. Und es hieß, er habe als junger Mann noch bis zum Krieg den früheren Landräten das Essen in Livree in weißen Handschuhen serviert.

    Wie in vielen katholischen Gemeinden gab es auch in Wiedenbrück die jährliche Fronleichnamsprozession. Das war auch für mich ein ganz besonderes Ereignis, denn eine der Prozessionsstationen befand sich auf der ehemaligen Festungsbrücke zum Reckenberg. Schon Wochen davor begannen die Vorbereitungen für den Altaraufbau. Die einzelnen Teile wurden aus dem Keller des Landratsamts geholt, neu gestrichen und dann am Tag zuvor zu einem Ganzen hergerichtet. Geschmückt wurde alles mit einem Meer aus frischen Pfingstrosen und Unmengen von frisch geschnittenem, gehäckseltem Schilf aus dem Reckenbergteich. Am Prozessionstag selbst durfte ich oberhalb des Altars in einem Baum sitzen und eine kleine Glocke läuten, sobald der Prozessionszug in Sicht war. Ich war mächtig stolz!

    Als ich vor ein paar Jahren einmal wieder den Reckenberg besuchte, entdeckte ich noch verschiedene kleine Holzleisten und Nägel in meinem ehemaligen Kinderhochsitz.

    Auch bei den vielfältigen Gartenarbeiten war ich ein neugieriger, hilfsbereiter Begleiter unseres Gärtners. Ich hatte einen kleinen, grün gestrichenen Bollerwagen, in den ich frisch gemähtes Gras, gejätetes Unkraut oder geschnittene Buchsbaumreste für den Abtransport zum riesigen Komposthang deponierte.

    Zu den Privilegien des Hausherrn auf dem Reckenberg, in diesem Fall war das mein Vater als Oberkreisdirektor, gehörten auch die Fisch- und Angelrechte in der „Tiefe", wie der fast fußballplatzgroße Teich hinter unserem Haus genannt wurde. Dort tummelten sich Karpfen, Hechte und Aale. Und so mancher davon landete bei uns auf dem Tisch.

    Mein älterer Bruder Eberhard baute im Sommer mit seinen Freunden ein kleines Floß, getragen von Wasserkanistern. So schipperten wir dann quer über die „Tiefe", nicht ohne hin und wieder im brackigen Wasser ein Bad zu nehmen.

    Im Winter war die „Tiefe" sehr oft zugefroren. Wenn das Eis dick genug war, traf sich hier die halbe Jugend der Stadt zum Schlittschuhlaufen oder Eishockeyspielen, bis es dunkel wurde. Es war eine Zeit, in der es in Wiedenbrück in einigen Straßen noch Gaslaternen gab, die bei Einbruch der Dunkelheit manuell angezündet wurden.

    Es gab noch keine Kühlschränke. Das Kühleis wurde ebenso wie die Kohle per Pferdewagen gebracht.

    Es war eine unbeschwerte, glückliche Zeit.

    „Was willst du denn einmal werden, Ulrich?"

    Kein Wunder, dass ich als Kind auf diese Frage wie aus der Pistole geschossen antwortete: „Oberkreisdirektor!" Denn auf dem Reckenberg war ja alles da, was ein Jungenherz schneller schlagen ließ: Rasen zum Fußballspielen, Bäume zum Klettern, kleine Baum- und Buschgruppen, um Räuber und Gendarm zu spielen, die Umflut und die Ems in der Nähe zum Schwimmen, und häufig im Winter Schnee in Hülle und Fülle, um Schneeburgen und Schneemänner zu bauen.

    Und ich erinnere mich noch an den 4. Juli 1954. Es war mein Namenstag. Da fand das Endspiel um die Fußballweltmeisterschaft statt. An der Hand meines Vaters stand ich mit vielleicht hundert weiteren Gästen im Gasthof Zur Glocke und versuchte im dichten Gedränge ein Bild vom winzigen Fernseher in weiter Entfernung zu erhaschen. Wir konnten nur ahnen, wie die Tore fielen. Und der Jubel war grenzenlos, als der Schlusspfiff ertönte.

    Es war eine glückliche Kindheit, in die auch mein erster Hubschrauberflug fiel. Ich war knapp zehn Jahre alt. Von der Firma Persil wurden mehrere Rundflüge verlost, und ich weiß nicht, wie und warum: Jedenfalls saß ich auf einmal mit Fräulein Kösters, der Sekretärin meines Vaters, an einem Sonntagnachmittag in einem Hubschrauber und durfte einen Rundflug über die Stadt machen. Was für ein Anblick, was für ein Erlebnis!

    Nach dem Rundflug über Wiedenbrück mit dem Hubschrauber, 1955

    Wenn Vater Hans da war, war er der dominante Mittelpunkt der Familie. Aber er war so in seine neuen Aufgaben vertieft, dass wir seine Präsenz eher selten spürten, obwohl sein Büro ja gleich nebenan lag.

    Unsere Mutter war das eigentliche Zentrum der Familie. Sie war für alles zuständig. Sie hörte uns zu, tröstete und munterte uns auf. Ob sie selbst diese Zeit als eine besonders schöne empfunden hat? Ich wage es zu bezweifeln.

    Nur zu deutlich erinnere ich mich, wie sie mit einem gepackten Koffer weinend in der Dunkelheit auf der großen Freitreppe stand. Sie wollte uns verlassen, weil sie sich mit der Erziehung ihrer fünf Kinder überfordert und von ihrem Mann völlig allein gelassen fühlte. Damals war ich zu jung, um alles zu verstehen, was zwischen meinen Eltern ablief. Aber ich ahnte, dass etwas Schlimmes geschehen sein musste. Weinend und bibbernd vor Kälte stand ich im Schlafanzug zusammen mit meinen älteren Geschwistern draußen, und wir versuchten Mutti davon abzuhalten zu gehen.

    Für meinen Vater gab es nur seine Arbeit, der er mit Fleiß, Pflichtgefühl, Hingabe, Ehrgeiz, aber auch mit Rigorosität gegenüber seiner Familie nachging. Erst kam der Job und dann lange, lange nichts. Die Familie empfand er eher als störend. So jedenfalls nahm ich es damals wahr.

    Ich kann mich nicht erinnern, dass mein Vater mich als Kind jemals in den Arm genommen hat. Habe ich jemals auf seinem Schoß gesessen? Falls ja, dann weiß ich es nicht mehr. Hat er jemals versucht, uns Kindern etwas beizubringen? Das konnte er nicht, denn er hatte selbst keine Hobbies. Sein Beruf war für ihn alles. Er forderte von sich Leistung, und von allen anderen auch – vor allem von seinen Söhnen. Was er gern tat? Wenn wir jüngeren Kinder im Bett lagen und das Licht erloschen war, kam er manchmal, um uns vom Krieg, von seiner Verwundung und von seiner langen Flucht aus Russland zurück nach Bielefeld zu erzählen.

    Mit fünf Kindern hatte meine Mutter damals alle Hände voll zu tun. Dennoch gab es fast immer ein liebevolles Nachtritual nach dem Zähneputzen, wenn der Schlafanzug angezogen war. Das Licht erlosch. Nur die Tür stand einen Spalt weit offen …

    Ich liege in meinem Kinderbett. Mutti deckt mich zu. Und sie beginnt wie fast jeden Abend mit dem Abendgebet: „Müde bin ich, geh zur Ruh’, schließe beide Äuglein zu … Und nun schlaf schön und träum süß!"

    Meine Mutter pflegte besonders die katholischen Feiertage: Weihnachten, Ostern, Pfingsten, Fastenzeit und die Geburts- und Namenstage. In der Osternacht wurde im Garten das traditionelle Osterfeuer entfacht. Äste und Braken hatte Gärtner Venhaus im Laufe des Winters zu einem mehrere Meter hohen turmähnlichen Gebäude zusammengestellt.

    Nachbarn kamen hinzu, man wärmte sich am Feuer bei noch wenig frühlingshaften Temperaturen. Um Mitternacht läuteten die Glocken von St. Ägidius das Osterfest ein, und kurze Zeit später kam der örtliche Männergesangsverein vor unsere Haustür, um das Auferstehungslied zu singen. Zur Belohnung gab es dann einen „Kurzen" aus der Schnapsflasche.

    In der Adventszeit saßen wir kleineren Kinder vor dem verschlossenen Wohnzimmer und sangen Adventslieder in aufgeregter Erwartung auf das Christkind und natürlich vieler Geschenke. Und am Heiligen Abend wurde vor der Bescherung ein Krippenspiel inszeniert. Natürlich gehörte auch Hausmusik dazu. Brigitte spielte Geige, Eberhard Cello und Mutti begleitete auf dem Klavier. Später habe auch ich ein wenig Cello gelernt, aber leider nie die richtige Disziplin zum Üben aufgebracht. Das galt auch für vergebliche Versuche, Trompete zu spielen. Immerhin entdeckte ich dadurch meine Leidenschaft für klassische Musik. Und die Liebe zur klassischen Musik gehörte zu den wesentlichen Geschenken, die mir meine Eltern mit auf meinen Lebensweg gaben. Dafür bin ich ihnen auch heute noch dankbar.

    Die ersten vier Jahre in Wiedenbrück waren auch meine ersten vier Jahre in der Schule. Beim Seifenkistenrennen lernte ich meine Mitschülerin Angelika kennen, ein dunkelhäutiges Besatzungskind. Oft kam sie mit anderen Kindern zu uns in den Garten. Unser Lieblingsspiel war die „Vogelhochzeit". Wir sangen mit verteilten Rollen und fühlten uns wie große Schauspieler. Aufregend war es, wenn der Zirkus in die Stadt kam und wir Jungen beim Aufbauen zuschauten und inständig hofften, dass unsere kleinen Hilfsdienste mit einer Freikarte belohnt wurden.

    Das Märchen „Peterchens Mondfahrt" im Bielefelder Stadttheater hat mich fasziniert. Was Theater bedeutet, war mir bis zu jenem Zeitpunkt nicht klar gewesen. Umso intensiver ist heute noch meine Erinnerung. Ich fühlte mich irgendwie wie im Schlaraffenland. Das war eine neue Erfahrung für mich. Meine Fantasie führte mich in eine Märchenwelt, die mich alles um mich herum vergessen ließ. Ich träumte oft vom Schlaraffenland.

    In diese Zeit meiner Kindheit fiel auch mein erster Kinobesuch. Es wurde Disneys „Die Wüste lebt gezeigt, und wir waren mit der ganzen Familie da. Auch der Film „Die Trappfamilie gehört zu meinen ersten Kinoerinnerungen.

    Als Oberkreisdirektor war Vater Scheele auch oberster Chef der Kreispolizeibehörde. Und wenn dann nach der Weihnachtsbescherung unsere Mutter mit den Mädchen das Abendessen vorbereitete, besuchten wir Jungen mit unserem Vater verschiedene Polizeistationen des Landkreises, um mit einem kleinen Präsent Weihnachtsgrüße zu überbringen. Es war immer eine eigenartige Stimmung, die Straßen waren menschenleer, manchmal

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