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DIE TOTE BLUME: Roman aus der Wendezeit
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DIE TOTE BLUME: Roman aus der Wendezeit
eBook561 Seiten8 Stunden

DIE TOTE BLUME: Roman aus der Wendezeit

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Über dieses E-Book

Vier Ärzte sind miteinander befreundet. Alle Hauptfiguren und einige Nebenfiguren, treten im Laufe der Handlung in gegenseitigen Kontakt. Es ist eine große Gruppe von Männern und Frauen, die sich hauptsächlich bereits kennen und die die Wendezeit, die in diesem Werk an einzelnen historischen Punkten festgemacht wird, auf unterschiedliche Art bewältigen. In einer spannend erzählten Geschichte treten uns moralisierende Bürgerrechtler, etablierte Reformer, radikale Ablehner des Sozialismus, unbelehrbare Betonköpfe, Wendehälse, straffrei bleibende Bonzen und nicht zuletzt die konspirativ arbeitenden Schurken entgegen.
Ein Arzt erlebt durch die Tatsache, dass er sich als Gegner des real existierenden Sozialismus zu erkennen gibt, eine ganze Kette von repressiven Maßnahmen, fällt tief und erhebt sich wieder nach der Wende, ein anderer Arzt wird schon frühzeitig vom Saulus zum Paulus und entdeckt an sich ungeahnte Qualitäten, ein dritter Arzt setzt sich für Reformen ein und macht sich zuletzt stark für die PDS. Ein vierter Arzt verzweifelt fast, als das alte Regime zusammenbricht und der fünfte ist ein Judas mit einer schillernden Persönlichkeit, der zum Schluss auf die Hilfe seines Erzfeindes angewiesen ist.
Eine junge hochbegabte Kunstmalerin bekommt den Auftrag, die Stationen des Kreuzwegs (Jesus) zu malen - Anspielungen auf die ständige Wiederkehr alles Leidens. Einer der Ärzte steht ihr dabei für Jesus Modell. Zwischendurch malt die Künstlerin eine Collage, die sie ins Zuchthaus bringt.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum18. März 2015
ISBN9783732332373
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    Buchvorschau

    DIE TOTE BLUME - Reinhard Bartsch

    Kalt, trocken und klar war der Abend im April. Ludwig, der auf dem Weg zu einer Party war, liebte die reine Luft und die Stille erster Frühlingstage an der noch winterlichen Ostsee, am rauen Weststrand, liebte es, wenn die See still war und die scheinbar ungeordneten, vielzähligen Sterne klar vom Himmel herunter blinkten. Durch ein offenes, schmiedeeisernes Tor, das zum Anwesen seines Vaters, des international renommierten Filmregisseurs der DEFA, Wolf Liebermann, gehörte, lief er durch einen alten, halb verwilderten Park, passierte einen ungepflegten Kiesweg, der leise unter seinen Stiefeln knirschte und der von einer Allee hoch gewachsener Tannen umrahmt war. Anlässlich der Premiere seines neuesten Films, hier oben in seinem Erholungsdomizil gab er diese Party. Bald tauchte vor seinen Augen aus der Dunkelheit die hell erleuchtete Villa auf, ein alter Prachtbau, leicht ramponiert und unzeitgemäß, wenngleich sehr schöne Zierart im Jugendstil aufweisend. Beim Näher kommen an das heruntergekommene Gebäude erinnerte er, der Sohn des Regisseurs, sich wie immer an die herrlichen Tage seiner Kindheit und Jugend, die er hier mit seiner Mutter, die schon lange tot war, verbracht hatte. Im Schatten der Verwahrlosung stehend, präsentierte es sich ihm wie ein Koloss, der sich zu Tode schläft und den das in seinem Innern aufbrausende Getöse eigentlich kalt lässt. Dass ihn jetzt ein neu reicher Protzer, ein vom Regime verhätschelter, linientreuer Filmemacher bewohnte, schien er mit auf Abstand gehender Gelassenheit Todgeweihter zu ertragen, dachte Ludwig und verweilte in Gedanken noch ein wenig bei seinem Vater.

    ‚Kaltes Blut‘ hieß dessen Film, den die offizielle Kritik in dem SED Organ ‚Neues Deutschland‘ hoch gejubelt und dem sie sogar die Chance eingeräumt hatten, internationale Anerkennung zu erfahren, beispielsweise in Karlsbad oder in Cannes. Ludwig zweifelte nicht daran, denn bei aller propagandistisch-vordergründiger Stereotypie und Flachheit in seinen Filmen, brachte es sein Vater auch zu sehr feinfühligen, tiefsinnigen und ungewöhnlichen Szenarien. Eine hohe Meisterschaft in seinen Werken konnte man ihm gewiss nicht absprechen, nur war sein Können in den letzten Jahren stark abgerutscht. Seine übertrieben enge Beziehung zum Sozialistischen Realismus hatte aus ihm einen kleinen Demagogen gemacht, obwohl er sich selbst immer als künstlerischer Pädagoge sah, als Vorausdenker für die nach seiner Meinung beste Gesellschaftsordnung auf der Welt. In dieser Beziehung war er absolut nicht tolerant. Bis vor etwa zwei Jahren hatte er, Ludwig, genau so gedacht, aber nach einer schicksalhaften Begebenheit in jener Zeit, hatte sich das bei ihm grundlegend geändert. Ein kurzer Blick noch auf die Citroen, Volvos und Wolgas, die vor der Villa parkten und die im zeigten, welchen Gästen er gleich begegnen würde, stieg er die brüchige Marmortreppe hinauf, öffnete das messingbeschlagene, wurmstichige Portal und trat ein ins Innere des Hauses. Nun stand er in der Diele vor einem stattlichen Trimeau aus der Gründerzeit und betrachtete, während er sich die Kutte auszog, sein nicht gerade frohes Gesicht. Mit gemischten Gefühlen war er hier angekommen. Einerseits freute er sich darauf, seinen besten Freunden zu begegnen, andererseits betrübte ihn die Aussicht, mit seinem Vater in Streit zu geraten, was in letzter Zeit immer häufiger geschah. Mit aufgesetztem Lächeln betrat er schließlich den Festsaal, wo das Licht etwas abgedunkelt worden war, weil gerade auf einer provisorisch aufgestellten Leinwand ein paar Ausschnitte besagten Films gezeigt wurden.

    An mehreren Tischen saßen die zahlreich erschienenen Gäste und blickten anscheinend interessiert auf die Leinwand. Sich orientierend überflog Ludwig mit den Augen die Anwesenden. Er entdeckte Leute aus der Filmbranche, aus Kultur und Politik, sowie Freunde, Bekannte und Nachbarn seines Vaters, der rechts neben der Leinwand saß, dick behäbig und selbstgefällig und der mit belegter Stimme eine Filmszene kommentierte. Neben ihm saßen zwei seiner besten Freunde und eine sehr attraktive Schauspielerin, die eine Nerzstola um die nackten Schultern und Zigarette im rechten Mundwinkel, lässig den Arm über seines Vaters Schulter gelegt hatte. Dicht daneben entdeckte Ludwig den Tisch, an dem seine beiden Freunde mit einer ihm unbekannten jungen Frau saßen. Um zu diesem Tisch zu gelangen, musste er quer durchs Bild laufen, sodass sich sein Profil als Schatten über eine Liebesszene hinweg bewegte.

    „Ah, da kommt ja mein Sohn, wurde er laut von seinem Vater begrüßt, „und schon legt sich sein Schatten über mein Kunstprojekt. Ihr müsst nämlich wissen, dass er in letzter Zeit mein schärfster Kritiker ist. Vielsagend hielt Ludwig den Zeigefinger in die Luft und begrüßte seine Freunde, den etwas älteren Bernd Blaubach, ein blonder, etwas angegriffen wirkender Mann um die Vierzig und den gleichaltrigen, dunkelhaarigen Markus Wendland. Alle drei waren sie Chirurgen, die seit ihrer Studienzeit in Berlin und in Kiew eine sehr vertrauensvolle Männerfreundschaft miteinander verband und die gemeinsam in einem großen Krankenhaus in Berlin arbeiteten. Nun wurde ihm von dem nicht mehr ganz nüchternen Markus die junge Frau pathetisch mit: „Sie ist die Liebe meines Lebens! vorgestellt. Seine Augen glänzten vor Stolz, als er die Frage anfügte: „Ist sie nicht bildschön?

    Tatsächliches war die ihm als Michele Lauterbach vorgestellte Blondine auch nach seinem Geschmack. Mit ihren großen, sehr wachen Augen und den sinnlich geschwungenen Lippen in dem weich gerundeten Gesicht erinnerte sie ihn etwas an Romy Schneider. Die Aufmerksamkeit aller galt nun dem Film und dessen Schöpfer, während die Filmausschnitte liefen, sich mit einigen pikanten und witzigen Geschichtchen, die sich während der Dreharbeiten ereignet haben sollen, wirksam in Szene setzte. Man vernahm, dass der positive Held des Films, ein bekannter DEFA Mime, sich auch außerhalb des Films in die schokoladenfarbene Hauptdarstellerin aus Kuba verliebt und dass beide dessen Gattin in flagranti erwischt habe, dass man auf der karibischen Insel literweise Rum getrunken und anschließend an Durchfall gelitten und dass er selbst mit viel Erfolg Fische unter Wasser harpuniert hätte. Das für einen Lebemann und Egozentriker wie ihn Unvermeidliche, nämlich dass ihm auf Kuba junge Weiber zu Füßen gelegen hätten, hörte man natürlich auch.

    Unterdessen war auf der Leinwand in einem VEB für Computertechnik, ein Arbeitsheld um Erhöhung der Arbeitsproduktivität bemüht, hatte der ideologisch und fachlich bestens ausgerüstete Strahlemann einige bürokratische Hindernisse und sogar eine Fehleinschätzung seiner Gesinnung und seines Leistungsvermögens seitens der Betriebsleitung (nicht der SED) auszuräumen und sich schließlich auf abenteuerliche Weise im sozialistischen Ausland zu bewähren in Havanna, Moskau und anderswo, wobei noch ein Abwerbungsversuch aus dem Westen eine Rolle spielte. Im Übrigen war sehr kunstvoll und diskret Sex im Spiel, neben süßlicher Gefühlsduselei, Hass, Arglist und Brutalität. Beim Betrachten der eindimensional positiv gestrickten Helden und des nicht sehr originellen Tathergangs drehte sich Ludwig der Magen um; und weil er glaubte es sich leisten zu können, platzte er am Ende unaufgefordert mit seiner Meinung heraus: „Dieser Film ist ein Machtwerk!"

    Sein Vater mochte Ähnliches erwartet haben, denn äußerlich gelassen wirkend, fragte er nur: „Warum, mein Sohn?"

    „Die Helden sind zu Positivismus und Erfolg verdammte Kaltblüter und die realen Konflikte dieser Tage werden nicht dargestellt, antwortete Ludwig mit blitzenden Augen. „Ich stehe zum positiven Helden im Sozialismus, erwiderte ihm sein Vater scharf. „Und du als Parteisekretär der SED müsstest eigentlich wissen, welche Aufgabe die Kunst bei uns hat!"

    Er blickte ihn drohend an, aber Ludwig, genau wissend, wie gefährlich jetzt Widerspruch für ihn werden könnte, blieb standhaft. „Ich weiß genau, Vater, was Kunst in diesem Land leisten müsste aber nicht leistet. „Was leistet sie nicht? Einen Beitrag zur Beseitigung der Lebenslüge…

    „Hören sie auf, Ludwig, sie reden sich um Kopf und Kragen, flüsterte ihm warnend Michele zu aber er achtete nicht auf sie… „an der Verwirklichung von Glasnost und Perestroika und echten demokratischen Verhältnissen mitzuwirken, das wäre gegenwärtig ihre Aufgabe.

    Für die Großköpfigen in diesem Kreis waren ein paar Unwörter gefallen. Erbost wurde Ludwig von einer Frau angegriffen, die, wie er wusste, eine Abteilungsleiterin im ZK war und die zum weiteren Bekanntenkreis ihres Vaters zählte.

    „Still jetzt, Genosse! Merken sie denn nicht, dass sie unsere Ideale beschmutzen?! Für ihre Bemerkungen müssten sie eigentlich aus der Partei ausgestoßen werden", ihr Zorn war echt.

    „Ach, lass ihn doch quatschen, llona, meldete sich da einer der Freunde des Regisseurs zu Wort. „Siehst du nicht, dass er besoffen ist? Dann wandte er sich mit erhobener Stimme an Ludwig.

    „Zu Hause, Genosse, werden wir die Sache klären!"

    „Da gibt’s nichts zu klären, Oberarzt Nowak, die Wahrheit braucht nicht geklärt zu werden!" erhielt er in gleicher Tonlage zurück.

    „Wir brauchen Reformen, das wissen wir alle!"

    Auf dem schönen sehr gepflegten Gesicht Nowaks, eines dunkelhaarigen Mannes Mitte Vierzig, erschien ein ironisches Lächeln. Als erster Oberarzt der Klinik in der auch die drei jungen Freunde arbeiteten, gehörte er wie Ludwig deren Leitung an. Merkwürdig, wie seine dunklen Augen nun zu glühen begannen und er auf die Mertens einen besänftigenden Einfluss zu haben schien, denn auf ihn zugehend, meinte sie beruhigt: „Du wirst das schon machen, Rüdiger." Damit war die Sache abgetan.

    Ludwig hatte das Bedürfnis nach frischer Luft, erhob sich und ging hinaus. Niedergeschlagen zum Himmel aufblickend, fragte er sich, wie das mit ihm weitergehen solle. ‚Ich hasse die Partei und vor allem die engstirnigen Dummköpfe in ihr, aber ich liebe immer noch die Idee des Sozialismus’, dachte er.

    Plötzlich standen Markus und Michele hinter ihm. „Du warst sehr mutig, mein Alter!, sagte Markus, „soviel Mut hätte ich niemals aufgebracht. Ludwig blickte ihn schweigend an. Schlank und groß stand er neben seiner Freundin, einen ganzen Kopf größer als sie, etwas nach vorn gebeugt und mit einem Hauch von Melancholie in den hellen Augen. Er hatte ein markant geschnittenes Gesicht mit einer hohen Denkerstirn, mit einer geraden, langen Nase, mit schmalen, fast immer fest zusammengepressten Lippen und mit einem kleinen, runden Kinn. Als Chirurg war er der Beste von ihnen, doch sein Charakter wies große Schwächen auf. Er war willensschwach, litt manchmal unter Depressionen und trank recht gern ein paar Tropfen zu viel, aber als Freund war er absolut zuverlässig.

    „Ist das nicht sonderbar, wie die unzähligen Sterne scheinbar ungeordnet von da oben herunter glitzern?", fragte Michele mit dem Blick zum Himmel.

    „Es sieht so aus, als wäre das All im Wesentlichen leer und chaotisch, das mag uns ein Sinnbild sein für unser Sein und Denken. Wir glauben, alles zu wissen, aber wir wissen fast gar nichts. Da leuchten uns die wenigen Höhepunkte wie einsame Sterne entgegen", antwortete Markus.

    „Die Ordnung unseres Lebens ist mindestens genau so geheimnisvoll, wie die der Sterne da oben", ergänzte Markus.

    „Sie sollten wissen, Ludwig, dass ich ihre Ansichten teile, erklärte überraschend Michele. „Ich bin eine Bürgerrechtlerin. Bei der Demonstration im Januar zu der Gedenkstätte für Karl und Rosa, wo meine Freunde das Transparent mit dem Zitat von Rosa gezeigt haben, bin ich dabei gewesen. Anschließend hat die Stasi uns verhaftet und verhört. Ich werde das nie mehr vergessen können.

    „Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden", zitierte Ludwig die Luxembourg.

    Michele nickte und stellte plötzlich fest, dass Ludwig einen interessanten Kopf habe, überrascht fragte er: „Wieso?"

    „Mit ihren Gesichtszügen, ihren langen Kopfhaaren und der Form ihres Bartes besitzen sie eine große Ähnlichkeit mit Jesus Christus", antwortete sie.

    „Oh, das hat mir bisher noch niemand gesagt."

    „Du musst wissen, sie ist eine Kunstmalerin und interessiert sich sehr für Gesichter", fügte Markus hinzu.

    Michele sagte, dass sie Ludwig, wenn er zustimme, gern porträtieren würde. Sie brauche einen Jesus, weil sie den Auftrag von ihrer Kirche erhalten habe, den Kreuzweg zu malen. Lachend fragte sie Ludwig, ob er als eingefleischter Atheist dazu der Richtige wäre. Ernsthaft antwortete sie ihm, dass sie das glaube und dass es im übrigen auch einem Atheisten gut täte, sich mit Jesus zu beschäftigen. Nun willigte Ludwig ein ihr Modell zu stehen. Die Frau gefiel ihm immer mehr, aber er bemerkte auch, dass Markus ziemlich betreten drein schaute. Da ihnen kühl wurde, gingen sie wieder hinein.

    Drinnen war die Party in vollem Gange. Der Regisseur hatte es sich nicht nehmen lassen, für den Abend eine bekannte Band zu engagieren. Die spielte gerade den Hit: ‚Yes, Sir, i can Boogie…‘

    Einige Paare strömten zur Tanzfläche, allen voran Rüdiger Nowak, der sich das Superweib, das während der Vorführung vom Regisseur umarmt worden war - sie war die Geliebte des Oberarztes - geschnappt hatte und der nun mit ihr eine kesse Sohle aufs Parkett legte. Sie war eine äußerst attraktive Person, hatte eine zugleich satte und dennoch schlanke Figur, eine üppige tizianrote Lockenpracht aufzuweisen und war in ein knappes Grünes gehüllt. Sie wirkte sehr sexy und hieß für alle nur Nora, ihr Nachname interessierte keinen. Als die beiden tanzten, offensichtlich mit großer Freude, hatte man um sie einen Kreis gebildet und geklatscht. Blaubach, der wie seine beiden Freunde Nowak nicht leiden konnte, sagte verächtlich: „Muss denn dieser eitle Geck immer auf sich aufmerksam machen?"

    Markus forderte seine Freundin zum Tanz auf. Ludwig, der sie beim Tanzen beobachtete, sah, dass sich Markus eigentümlich hölzern bewegte, während Michele zu versuchen schien ihn aus seiner Reserve zu locken. Es gelang ihr nicht, nach zwei Tänzen saßen sie wieder am Tisch.

    „Warum seid ihr denn schon wieder hier?", fragte Bernd Blaubach.

    „Sie wollte es Nora nachmachen, sagte Markus, „aber dazu hatte ich keine Lust.

    „Warum nicht? - „Weil ich nicht ins Schwitzen kommen will, sagte er etwas mürrisch.

    „Sauf’ nicht so viel, dann kommst du nicht so schnell ins Schwitzen", meinte Bernd trocken.

    „Wie wär’s Ludwig, möchtest du mit mir tanzen?, fragte Michele und blickte ihn mit großen Augen an. Verwirrt schaute Ludwig auf Markus. „Was meinst du?

    „Von mir aus, antwortete der nur. „Na, dann los, Ludwig, sagte sie und zog ihn auf die Tanzfläche. Sie tanzte fabelhaft und Ludwig war auch kein schlechter Tänzer, aber er hatte ein schlechtes Gewissen. Ab und zu einen Blick auf Markus werfend, bemerkte er, dass dieser zunehmend Trübsal blies und dass er nun noch mehr trank.

    Wenig später rückte Nora noch einmal ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Da man wusste, dass sie nicht nur eine Schauspielerin war, sondern auch eine Lyrikerin, die erotische Gedichte verfasste, bat man sie nun inständig, etwas davon vorzutragen. Zum großen Vergnügen ihrer Zuhörer hatte sie das schon oft getan und ließ sich nicht lange bitten.

    Anzüglich lächelnd meinte sie, dass sie da etwas wirklich sehr Freches in petto habe. Nur zu gern wollten das ihre Anhänger hören. Nervös kippten sich einige ihre Schnäpse hinunter.

    Ludwig, der inzwischen mit Michele am Tisch zurück war, erkannte angewidert in manchen Augen den Glanz der Geilheit. Nora zeigte nun, was sie drauf hatte. Ihre Gestalt reckend, warf sie mit stolzer Gebärde ihren Kopf ein wenig nach rechts und in den Nacken und begann vorzutragen. Unbarmherzig entströmten ihrem Mund die fatalsten Obszönitäten, während sie ihre dicht an die Oberschenkel gepressten Hände langsam zu den Hüften hoch gleiten ließ, dabei ihr Kleid mitnehmend, bis ihr durchsichtiger Slip sichtbar wurde. Sie hatte sehr schöne Beine. Von einer kultischen Liebesorgie war in ihrem Gedicht die Rede und von einer Reihe sadistischer und masochistischer Liebespraktiken. Bei einigen konnte es gefährliche Sehnsüchte wecken, aber was sie da vortrug, war schauspielerisch und stimmlich voll überraschender Effekte. Gurrte, brummte sie eben noch in dunkelsten Tiefen, schwang sie sich schon im nächsten Augenblick auf höchste Höhen hinauf, kreischte hysterisch ihre Lust hinaus, lockte, grollte, drohte und ließ symbolisch die Peitsche kreisen. So verführte sie und stieß ab, glühte und gefror, streichelte und schlug, nichts unerwähnt lassend, was der verklemmten Seelen heimliche Hoffnungen sind. Nach ihrem Vortrag wurde sie namentlich von den Männern stürmisch gefeiert, wenngleich sie nicht nur Bewunderung und blankes Entzücken ausgelöst hatte, sondern auch Entsetzen, Abwehr und Befremden. Danach trug sie noch weitere ihrer Gedichte vor, jedes verfasst in freien Rhythmen und ähnlich frivolen Inhalts. Ludwig fand Nora geschmacklos, aber einige, wie er gleich bemerken sollte, fanden sie wunderbar.

    Wie und wann sie Gedichte schreibe, wurde Nora vom Regisseur gefragt. Da erschien auf ihrem Gesicht ein schelmisches Lächeln und sie antwortete: „Nach einem perfekten Liebeserlebnis, wenn andere das Après mit einer Zigarette genießen, springe ich aus dem Bett und schreibe, denn dann habe ich die besten Ideen. „Sie ist eine Hure von Format, stellte Blaubach leise fest. Dagegen meinte der Regisseur, dass er ihren Arbeitsstil wunderbar fände… „Frischer kann man eigene Erlebnisse nicht zu Kunst verarbeiten, sagte er ernsthaft.

    „Es ist aber unmoralisch, was Nora da macht, gab die Mertens bekannt. „Sicher ist es unmoralisch, sprach Nora lachend, „aber was wollen sie eigentlich? In unseren schlüpfrigen Phantasien sind wir alle unmoralisch. Ja, was wären wir denn ohne unsere Phantasien und Träume, frage ich euch? Sie blickte sich um, schalkhaft und provozierend zugleich und beantwortete schließlich ihre Frage selbst. „Nichts wären wir, behaupte ich. „Denn was nährt mehr unsere Hoffnungen, was hilft uns besser hinweg über traurigen Stumpfsinn und graue Wirklichkeit als unsere Phantasie? Ihr Gesicht nahm plötzlich einen harten Ausdruck an. „Wehe dem armen Tropf, dessen Inneres leer ist von erotischer Phantasie, dem nutzen weder seine Sinne etwas, noch seine Triebwerkzeuge. Sie erntete Gelächter. Indessen konnte sich Ludwig nicht enthalten zu sagen: „Aber ein Mensch, der alle Moral verloren hat, verliert am Ende auch sich selbst." Anschließend verfolgte er das Gespräch zwischen Nowak und der Mertens am Nachbartisch.

    „Ist das nun Kunst oder einfach nur Schweinerei, was diese Nora da zitiert hat, Rüdiger? Nowak, bei solchen Fragen durchaus nicht zurückhaltend, blickte auf ihr Parteiabzeichen und meinte: „Nun ja, es ist ziemlich derbe Erotik, zwar ein bisschen ungewöhnlich, aber wir sind ja nicht prüde, nicht wahr? Charmant lächelnd blickte er sie an, aber dieses Mal widersprach sie ihm energisch. „Nicht prüde hin, nicht prüde her. Das hier war Perversion und Dekadenz in Einem, das passt doch nicht zu uns."

    „Natürlich nicht", beeilte sich Nowak zu versichern.

    „Ich bin für saubere Erotik, verstehst du?", sagte die Mertens und schaute nun sehr hoheitsvoll drein.

    „Das bin ich auch ja wohl", stimmte ihr Nowak zu.

    Warum log er?, fragte sich Ludwig, der von dessen ausschweifenden Lebenswandel und von dessen Verhältnis, das er mit Nora hatte, wusste, was wiederum Ilona unbekannt zu sein schien.

    Um ihr zu gefallen? Interessierte er sich für sie? Die Mertens war ja nicht hässlich, von schwacher erotischer Ausstrahlung gewiss, aber das stimmte eigentlich nur zum Teil, nämlich auf ihr Äußeres bezogen. Aber es gibt auch eine Erotik, die aus der Macht kommt, sagte er sich, und diese Frau besitzt Macht, das steht in ihren Augen zu lesen. Plötzlich glaubte er zu wissen, was den Lebemann und Karrieristen an ihr gefiel: die Macht. Hoffte Nowak vielleicht, von ihrer Macht partizipieren zu können? Dann schweifte sein Blick zu den beiden anderen an dem Tischende, plötzlich wusste er, was die Ursache der Freundschaft dieser drei Männer war, die gemeinsamen Interessen und die Ähnlichkeit ihrer Charaktere. Sein Blick blieb an dem Einen haften, der sie alle an Berühmtheit, Einfluss und Lebensart übertraf, an Björn Diefenbach international anerkannter Kunstmaler. Auf den ersten Blick sah man ihm dies nicht an. Er mochte Anfang Fünfzig sein, war dunkelhaarig, an den Schläfen grau meliert und schlank geblieben. Seine Gesichtszüge wiesen eine starke Ähnlichkeit mit denen des Schauspielers Jean Marais auf. Der intensive Blick seiner blauen Augen könnte höchstens einem scharfen Beobachter den Maler verraten. Verstohlen auf Diefenbach weisend, fragte Ludwig Michele, ob sie ihren großen Kollegen kenne. „Nein, antwortete sie, „der ist ein paar Nummern zu groß für mich.

    Diefenbach musste das gehört haben, denn spöttisch lächelnd und leicht den Kopf schüttelnd, blickte er sie an. Michele hielt diesem Blick stand. Das mochte ihn dazu bewogen haben, das Wort an sie zu richten. „Habe ich richtig gehört, wir sind Kollegen?"

    Michele nickte reserviert. Der berühmte Mann machte sie etwas befangen. „Welche Schule?, fragte er. „Die Berliner Schule?

    „Wer war ihr Lehrer?", fragte Diefenbach weiter.

    „Der Maler Hartung, wenn ihnen das etwas sagt. Er ist es noch."

    Die Erwähnung des Malers schien Diefenbach zu erfreuen, denn er lächelte und sprach: „Den kenne ich gut. Einst war ich selbst sein Schüler und nun ist er schon zu Lebzeiten eine Legende geworden. Wie geht es ihm?"

    „Mal gut, mal schlecht, er ist eben doch schon sehr alt, antwortete Michele, die nach den Äußerungen Diefenbachs ihre Reserviertheit aufgab. „Aber unter ihren Händen rappelt er sich immer wieder auf, warf Markus ein.

    „Das freut mich sehr, Kollegin, dass sie sich um den Alten kümmern, sagte der große Meister, dessen Augen Gefühl zeigten und der dadurch Micheles Sympathie gewann. „Hartung und ich, wir liegen auf der gleichen Wellenlänge, deshalb verstehen wir uns ganz gut, berichtete sie, und gab ihm als er sie zum Tanz aufforderte, keinen Korb. Ohne sich um Markus zu kümmern, lief sie mit Diefenbach zur Tanzfläche. Markus trank Schnaps und Bier und starrte wie Bernd Blaubach, der merkwürdig einsilbig war, trübsinnig vor sich hin. Erst jetzt fiel Ludwig auf, dass Bernd bisher kaum ein Wort gesprochen hatte. „Was ist los mit dir, Bernd, du bist heute so still?"

    Ludwig und Markus schauten den Angesprochenen aufmerksam an. Tief durch atmend blickte Blaubach auf, zögerte einen Moment mit der Antwort und meinte schließlich, dass sie sich um ihn keine Sorgen zu machen brauchen.

    „Es ist alles in Ordnung, mir geht es gut", murmelte er, aber sein Gesicht strafte ihn Lügen.

    „Stimmt das wirklich, Bernd?", fragte Ludwig zweifelnd. Unter dem schweren Blick, den ihm Blaubach nun zuwarf, wurde ihm plötzlich ziemlich unbehaglich. Er möchte bitte aufhören, Fragen zu stellen, erwiderte ihm sein Freund und forderte ihn dazu auf, das Thema zu wechseln.

    Markus war es dann, der auf einmal mit heiserer Stimme und etwas lauter als gewöhnlich ins Politisieren kam. Hemmungslos geworden durch den Alkohol in seinem Blut, sprach er nun etwas aus, dass er sich im nüchternen Zustand niemals getraut hätte, zu sagen. „Du hast gesagt, Ludwig, dieses Land brauche Reformen", fing er an. Ludwig nickte.

    „Ich glaube nicht an die Reformfähigkeit des real existierenden Sozialismus, ich nicht, fuhr Markus fort, „ich glaube, dass der Sozialismus große Scheiße ist. Der Sozialismus siegt nicht, sondern siecht - dahinter steht ihr? Er lachte laut und blickte seine Freunde aus glasigen Augen an.

    „Markus, beherrsche dich bitte!, rief Blaubach erschrocken. „Warum denn? Markus schüttelte energisch den Kopf. „Jeder vernünftige Mensch weiß das, alle wissen das, auch die da drüben, die Hexe vom ZK…" Er lachte erneut laut und hemmungslos.

    „Nicht so laut, Markus!", warnte ihn Ludwig.

    „Sprich wenigstens russisch!, drängte Bernd. Letzteren Rat befolgte Markus, weiter ätzende Kritik übend. Unmöglich sei es, das System zu vermenschlichen, prophezeite er düster in jener Sprache. Glasnost und Perestroika würden scheitern und ihr großes Idol Gorbatschow werde man in die Wüste schicken, genau so wie man es seinerzeit in Prag mit Dubscheck gemacht habe. Aber dann sagte er etwas, das ihm zum Verhängnis werden sollte. „Nein, Freunde, behauptete er, „der Sozialismus hat ausgedient, er gehört auf den Müllhaufen der Geschichte. Was wir brauchen, ist die Marktwirtschaft und die parlamentarische Demokratie." Er schwieg und kippte sich einen großen Doppelkorn in den Mund.

    „Du musst wahnsinnig sein, Markus, flüsterte Blaubach. „Wenn das, was du eben gesagt hast, von einem Gummiohr gehört wurde, bist du erledigt.

    „Na wenn schon, dann stelle ich eben einen Ausreiseantrag", meinte der Angetrunkene, dessen Interesse offenbar weit mehr seiner auf der Tanzfläche sich mit Diefenbach amüsierenden Freundin galt, als den Warnungen seiner Freunde und dessen Miene sich plötzlich verfinsterte. Seinem Blick folgend, sah Ludwig, dass sich Michele gerade Arm in Arm mit Diefenbach nach draußen begab und dass sie ihrem lachenden Gesicht nach zu schließen, sehr guter Dinge zu sein schien. Ohne zu wissen warum, ärgerte sich auch Ludwig darüber.

    Er hatte genug von der Party. Markus schien voll zu sein und Bernd war nun in tiefe Melancholie gefallen. Er machte den beiden den Vorschlag, die Party zu verlassen und sie willigten ein. In getrübter Stimmung begaben sie sich in die Nacht hinaus. Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her, bis Blaubach das Wort ergriff. „Vorhin, als ich dir, Ludwig, auf die Frage nach meinem Befinden nicht antwortete, wollte ich euch das Fest nicht verderben, aber jetzt kann ich es ja sagen… Er unterbrach sich, blieb stehen und schaute sie traurig an. Im Licht des Vollmondes wirkte sein Gesicht eingefallen und leblos… „Vor einigen Tagen wäre ich beinahe an einem schweren Hustenanfall erstickt. Als er endlich vorbei war, klebte Blut, das aus der Lunge kam, in meinem Taschentuch. Ich ließ mich vom Chefarzt untersuchen, und der diagnostizierte ein Karzinom, faustgroß und inoperabel. Morgen gehe ich zur Chemotherapie. „Tschernobyl!, entfuhr es Ludwig. Bernd nickte. „Ja, Tschernobyl.

    Kapitel 2

    Operationsbereit hatte Doktor Markus Wendland seinem Team den Rücken zugekehrt und die schwermütigen Augen aus einem der hohen Fenster des OP’s auf ein winziges Stück wolkengrauen Himmels gerichtet, dem einzigen Stück Natur über hohem Gemäuer, das er zu sehen bekam; und er fühlte, wie gut seine momentane Gemütsverfassung zu dem äußerem Erscheinungsbild passte und stand wie erstarrt und schwieg. Da sich seine Mitarbeiter, zwei junge Frauen und ein Mann, ebenfalls ausschwiegen, bekam die Stille etwas Bedrückendes, aber niemand wagte es, diesen Zustand zu beenden. Er schien wohl auch ihnen irgendwie der Situation angemessen, denn sie wussten natürlich, warum Wendland so niedergedrückt war. Der erste Oberarzt hatte schon dafür gesorgt.

    Man wartete nicht lange auf den Fall, der dem Team telefonisch angekündigt worden war, denn nur wenige Minuten nach dem Anruf erschien unten am Haupteingang ein dunkelgrünes Fahrzeug, ein mit roten Kreuzen auf weißem Rund kenntlich gemachter Sankra der Grenztruppen, bog schnell in den zur Rettungsstelle führenden Weg ein und kam dann direkt unter dem OP zum Halten. Kurz darauf öffnete sich die Hintertür des Wagens und beförderten zwei Soldaten hastig die auf einer Trage liegende und in Militärdecken gehüllte Person nach draußen und schließlich in die Rettungsstelle hinein. Sekunden später waren die Sanitäter zurück, um dann eiligst davonzufahren.

    Ein paar Minuten danach wurde die Schwerverletzte in den OP geschoben. Grund für Wendlands Team in Bewegung zu geraten, während er noch immer reglos am Fenster stand. Erst nach den Worten des Anästhesisten: „Es kann losgehen, Wendland!, ging er schleppenden Schrittes an den Tisch und nahm seine Arbeit auf. Ein junges Mädchen, kaum dem Schulalter entwachsen, lag mit einem blutgetränkten Druckverband oberhalb des Venushügels leicht in sich gekrümmt auf dem OP-Tisch. „Sauerei, knurrte Wendland und befahl, den Verband zu lösen. Nachdem dies geschehen war, spritzte ihm eine Fontäne hellroten Blutes entgegen. Schnell drückte er die Handfläche seiner Rechten auf die große Einschusswunde, aus der das Blut floss und ließ sich ein Skalpell geben. Er schnitt und drang dann sehr schnell mit stumpfen Instrumenten zu der verletzten Arterie vor, um sie abzuklemmen und zu vernähen. Alles verlief schweigend. Das Team war so gut aufeinander eingespielt, dass es zwischen ihnen kaum eines Wortes bedurfte, höchstens hin und wieder eines knappen Befehls. Nur einmal sprach er voller Bitternis einen ganzen Satz. „Es ist fast unmöglich sie zu retten; ihre Mörder hätten dann ganze Arbeit geleistet."

    Weil Wendland wusste, dass ihm nach seinen Äußerungen auf Liebermanns Party die fristlose Entlassung drohte, sah er keinen Grund mehr, seine Gefühle und Gedanken zu verbergen. In drei Tagen würde die Leitung des Krankenhauses unter Führung des ärztlichen Direktor, Professor Krüger, über ihn zu Gericht sitzen, ein Disziplinarverfahren eröffnen, das hatte ihm Ludwig angekündigt.

    Die angerissene Arterie zu schließen, war ein Werk von Minuten gewesen. Viel länger brauchte der Chirurg um die anderen weit schlimmeren Verletzungen, die das Geschoss angerichtet hatte, chirurgisch zu behandeln. Große Teile des Dünndarms waren zerrissen, und der infektiöse Darminhalt in den sterilen Bauchraum geflossen. Also kürzte er an entsprechender Stelle den Darm, vernähte ihn und säuberte und desinfizierte, so gut es ging den Bauchraum. Da die rechte Niere bis zur Unkenntlichkeit zerfetzt war, musste er sie entfernen, das galt auch für ein paar Splitter des Beckens, die das Geschoss abgerissen hatte, bevor es oberhalb des Steißbeins, an der Lendenwirbelsäule stecken geblieben war. Letzteres war das Allerschlimmste, was es angerichtet hatte, aber von Ausmaß und Schweregrad der Verletzungen ließ sich Wendland nicht beirren. Stunde um Stunde verrann, in denen er Schwerstarbeit leistend, einen schier aussichtslosen Kampf um das Leben des an der Mauer angeschossenen Mädchens führte. Einmal stand sie wirklich auf der Kippe. Ihr Herz hatte ausgesetzt, aber auch dieses schwierige Problem meisterte der Chirurg mit einer Adrenalinspritze direkt in den Herzbeutel.

    Irgendwann schaute der Leiter der chirurgischen Klinik, Chefarzt Heidenreich in den OP herein und erkundigte sich nach dem Fall. Da war Markus bereits bei den Nähten und wusste, dass das Mädchen zumindest den Tisch lebend verlassen würde. Mit knappen Worten gab er Auskunft, während sein Chef ihm über die Schulter zuschaute.

    „So, so, ein Bauchschuss, murmelte Heidenreich, der im nächsten Jahr das Rentenalter erreicht hatte, „damals im Krieg habe ich solche Fälle oft operiert.

    „Wieso damals im Krieg, Stefan?, sprach da sein Chirurg. „An der Mauer ist immer noch Krieg, und zwar ein ganz gemeiner, gegen Wehrlose.

    Seufzend sprach Heidenreich: „Dir ist wirklich nicht zu helfen, Markus. Du machst es einem verdammt schwer, ein gutes Wort für dich einzulegen."

    „Aber er hat recht", ließ sich der Anästhesist vernehmen, der am Kopf der Verletzten mit seinen Geräten hinter einem Schirm saß.

    „So ist’s recht, Theo, Markus steckt bis zum Hals in der Kacke, und du unterstützt ihn noch!", warf ihm Heidenreich vor. Dann verließ er grollend den Saal. Nach sechs Stunden anstrengender Arbeit hatten es Wendland und sein Team geschafft.

    „Letzte Naht!, rief Wendland, dem Anästhesisten zu verstehen gebend, dass er die Narkose absetzten konnte. Erst, nachdem das Mädchen verbunden worden war und zum Abtransport auf die ITS bereit stand, schaute Markus in ihr blasses, beinahe noch kindlich wirkendes Gesicht und fragte den jetzt neben ihm stehenden Anästhesisten Dr. Theo Wagner, der der Chefarzt der ITS war: „Womit hat es dieses arme Geschöpf verdient, dass man sie so grausam misshandelt hat? „Sie war leichtsinnig, Markus, sie hat den Todesschuss riskiert, antwortete Wagner, ein sportlicher Typ, dessen Alter schwer zu schätzen war und von dem Markus nur wusste, dass er leidenschaftlich gern Tennis spielte und dass er wegen seines Humors im ganzen Krankenhaus sehr beliebt war.

    „Trotzdem Theo, ist es nicht ihr Recht dorthin zu gehen, wo sie hin will?"

    Wagner zuckte die Achseln. „Es gibt Grenzen, die man nicht überschreitet. Lächelnd blickte er Wendland an und ergänzte: „Das solltest du dir auch hinter die Ohren schreiben.

    „Vielleicht, meinte Markus, der immer noch auf das Mädchen schaute und dann auf Wagner. Was meinst du, wird sie durchkommen? Skeptisch den Kopf hin- und her wiegend, antwortete der Anästhesist, dass man zwar auf seiner Station sein Möglichstes versuchen werde, dass es aber sehr schlecht stehe mit ihren Überlebenschancen… „Ich befürchtete sie bekommt Aszites, begründete er seine Zweifel. Zwei Schwestern kamen und rollten das Bett mit der langsam erwachenden Patientin aus dem OP. Wagner lief ihnen nach. Erschöpft sank Markus auf einen Stuhl und fühlte seinen Puls. Sein Herz schlug unrhythmisch.

    Nachdem sich Markus umgezogen und den OP verlassen hatte, begab er sich auf die Station Eins der chirurgischen Klinik, wo Ludwig Stationsarzt war und wo seit zwei Tagen Bernd Blaubach in einem Einzelzimmer lag, um sich der angeordneten Chemotherapie zu unterziehen. Eigentlich hätte Bernd in die Tumorklinik gemusst, aber auf seine ausdrückliche Bitte hin, war er schließlich bei Ludwig untergebracht worden. Die große Station für männliche Patienten lag im Erdgeschoss. Zunächst suchte Markus Ludwig auf, der in seinem Zimmer am Schreibtisch sitzend, einen OP-Bericht schrieb. Sein Zimmer war mit nüchternen Büromöbeln eingerichtet, aber hell durch ein großes Fenster, das den Blick in einen alten Park frei gab und auf die zwischen den Stämmen auf blitzende Mittagssonne. Über Nacht war es draußen Frühling geworden. Kastanienknospen sprossen, junges Grün zeigte sich an den Weiden und die Vögel sangen ihr Lied, hörbar bis in den Raum hinein. „Tag, mein Alter, begrüßte Markus seinen Freund mit etwas aufgesetzter Fröhlichkeit „Ist es nicht schön draußen? Endlich wird es warm. „Tag, Markus, sagte Ludwig ernst und ohne darauf einzugehen, habe von deinem Glück heute Morgen gehört. Scheiße, was?"

    „Nun ja, wenn das junge Ding durchkommt, ist es halb so schlimm, sagte Markus, Ludwig prüfend anschauend und augenblicklich von einer unheilvollen Ahnung befallen, da dieser niedergeschlagen zu sein schien. „Wird sie durchkommen? „Ich bin Optimist."

    „Das können wir bei Bernd leider nicht sein, sagte Ludwig. „Professor Widrat von der Inneren war vorhin hier und hat Bernd die Chemo verabreicht. Danach war er bei mir und hat freimütig den Fall besprochen, er konnte ja nicht wissen, wie sehr mich selbst diese Krankheit berührt… Liebermanns Augen weiteten sich und blickten durch Markus hindurch, während er berichtete, dass der Chef der Inneren Medizin Bernd nicht die geringste Chance gab, durchzukommen, denn die Strahlendosis, die er in Tschernobyl abbekommen hätte, wäre viel höher und damit viel schädlicher für seine DNS gewesen, als man es damals angenommen habe. Inzwischen sei ja die Strahlendosis bekannt, die bei dem Super-Gau frei gesetzt worden wäre und auch die Zahl der Menschen, die ihm zum Opfer gefallen seien. Ludwig erhob sich, ging an seinen Leuchtschirm zur Betrachtung von Röntgenbildern und beleuchtete eine Aufnahme, die da drin steckte. „Das ist Bernds Lunge, sprach er. „Du musst nicht lange hinschauen, um zu erkennen, wie gewaltig das Karzinom in ihr gewütet hat.

    Markus überzeugte sich davon, plötzlich wissend, dass Bernds Schicksal auch ihn erwarten könnte. Aber viel näher als ich, steht Ludwig mit seinem Schicksal an dem Bernds, denn die beiden waren damals als Ärzte direkt im Einsatz in Tschernobyl, während ich und der Chefarzt im längst nicht so Strahlen gefährdeten Kiew gearbeitet haben, dachte er. Aber Ludwig, der seine Gedanken zu erahnen schien, sagte, dass, wenn es um die Spätschäden nach Kontaminierung mit ionisierenden Strahlen gehe, es mit ziemlicher Sicherheit nicht auf die Dosis ankäme. „Es kann uns also alle noch erwischen", fügte er düster hinzu. Markus bekam Angst. Einer ganzen Serie schicksalhafter Ereignisse schien er in diesen Tagen ausgesetzt zu sein. Gott, wenn es ihn gibt, hat mich verlassen oder will mich bestrafen, dachte er. Er war Katholik, zweifelte jedoch mehr und mehr an die Existenz Gottes, obwohl er jetzt, unter dem Eindruck des ihn betreffenden Unheils merkwürdigerweise eher dazu geneigt war, an ihn zu glauben. Warum?, fragte er sich verwundert, glaube ich viel lieber an einen strafenden Gott, als an einen Barmherzigen?

    Plötzlich klopfte es kurz an der Tür, gleich darauf wurde diese geöffnet und Chefarzt Heidenreich betrat den Raum. „Es ist furchtbar, was mit Bernd passiert ist, aber wir dürfen jetzt nicht gleich denken, uns müsse dasselbe passieren. Bloß keine Panik, Freunde!" So begann er, der offensichtlich über alles, was Blaubach betraf, von Widrat informiert worden war, sofort auf sie einzureden, nervös und verunsichert wirkend. In seinem mageren, ebenmäßig geformten Intellektuellengesicht zuckten die schmalen Lippen über dem starken Kinn und stand in den grauen Augen unter buschigen, zusammengezogenen Brauen und faltenreicher Stirn Verzweiflung zu lesen. Das Schicksal Blaubachs ging ihn am meisten etwas an, weil er es gewesen war, der dem Hilferuf eines Freundes nach der Kernkraftwerkskatastrophe folgend, die drei Chirurgen dazu aufgefordert hatte, mit ihm nach Tschernobyl zu gehen, um dort das total überforderte Gesundheitswesen bei seiner schweren Aufgabe zu unterstützen. Die Verantwortung dafür schien ihn stark zu belasten. Hastig und mit heiserer Stimme fügte er hinzu, dass es, soweit er sich entsinnen könne, damals Blaubach gewesen sei, der mit der Versorgung der Todgeweihten dem zerstörten Reaktor am nächsten gewesen wäre und dass wohl dieser auch als Einziger von ihnen einen Strahlenkater gehabt habe.

    „Wenn ich gewusst hätte, wie gefährlich dieser Einsatz für uns war… Abbrechend schaute er die beiden an. „Beruhige dich, Stefan. Niemand hat das damals wissen können, sagte Ludwig, „ich denke, wir sollten hoffen, dass Bernd durchkommt. Vielleicht irrt sich Widrat. Wie oft haben wir schon erlebt, dass einer geheilt worden ist, trotzdem wir ihn längst aufgegeben hatten. „Ja, du hast recht, Ludwig, meinte seufzend der Chefarzt. „Kommt bitte, lasst uns jetzt zu ihm gehen!"

    Bleich und mit hohlen Wangen im Kissen liegend, wirkte Blaubach erschöpft, als die Drei zu ihm traten. Trotzdem schien er sich über ihren Besuch zu freuen, denn er richtete sich im Bett auf und reichte ihnen strahlend seine Rechte.

    Die Besucher bemühten sich um sorglose Mienen. „Wie geht es dir, mein Alter?", fragte Ludwig, als er ihm die Hand gab.

    Die Chemotherapie habe ihn ziemlich fertig gemacht, antwortete der Kranke, aber sonst gehe es ihm überraschend gut. Er bekomme viel Besuch von seinen Studenten (Neben seiner Tätigkeit als Chirurg war Blaubach Dozent an der Humboldt Universität und bei den Studenten sehr beliebt). Die Hustenanfälle hätten aufgehört und auch die Schmerzen in der Brust wären durch das stark wirkende Analgetikum, das ihm Widrat verabreicht habe, beinahe ganz verschwunden.

    „Widrat hat mir Hoffnung gemacht. Er meinte, ich werde gewiss die Krankheit überstehen, wenn ich den Willen dazu aufbrächte, wenn ich kämpfe. Und kämpfen, fügte er mit entschlossener Miene hinzu, „das kann ich, da macht euch mal keine Sorgen.

    „Dum spiramus, spiremus", murmelte der Chefarzt.

    Bernd Blaubach nickte. „Ja, solange wir atmen, werden wir hoffen. Dann sagte er mit Blick auf Markus: „Da müssen wir uns wahrscheinlich über dich, mein Lieber, weit mehr Sorgen machen.

    Krampfhaft lachte Markus auf. „Sorgen über mich? Quatsch. Sollte ich hier raus fliegen, werde ich schon wissen, was ich tun muss."

    Seine Worte erregten Heidenreich. „Ich kann mir ungefähr denken, was das heißen soll. Aber damit, Markus, würdest du die Karre nur noch tiefer in den Dreck ziehen. Merkst du eigentlich noch, dass du einen schweren Fehler nach dem anderen begehst? „Ich sage, was ich denke, verteidigte sich der Beschuldigte. „Ja, du trägst dein Herz auf der Zunge und deine Gefühle sind dir ohne Weiteres von den Augen abzulesen", gab ihm Blaubach recht und danach zu verstehen, dass er auf der Party ihn und seine Freundin genau beobachtet habe und zu dem Schluss gekommen sei, dass sie beide nicht gut miteinander harmonierten.

    „Wir harmonieren ausgezeichnet miteinander, denn wir mögen uns sehr", verteidigte sich der Verblüffte.

    „Vielleicht zu sehr, mein Lieber. Vielleicht wickelt sie dich längst um den Finger und sind es ihre Ansichten, die dich verwirren und zum Blödsinn treiben, konterte der Kranke. „Ich habe gesehen, wie eifersüchtig du bist auf jeden Mann, der mit ihr flirtet. Und sie lässt sich das gern gefallen, zu gern. Du aber stehst machtlos daneben, lässt dich vor Eifersucht voll laufen und sprichst dann Dinge aus, die du im nüchternen Zustand nie sagen würdest. Du solltest dich nicht von ihrer Schönheit blenden lassen.

    „Da hat er recht", ergänzte Ludwig. Markus schwieg betreten. Zum Teil gingen ihm Bernds Behauptungen ein.

    „Was wird man nun mit ihm machen?, wandte sich Blaubach an Liebermann und an Heidenreich. Letzterer meinte achselzuckend: „Das steht auf Messers Schneide. Für Markus geht es um Sein oder Nichtsein in dieser Klinik.

    „Dir ist ja bekannt, Bernd, aus welchen Personen sich die Konfliktkommission, die über ihn befinden wird, zusammensetzt, ergänzte Ludwig. „Wie Krüger und die BGL-Tante den Fall sehen und wie Stefan und ich, kannst du dir gewiss denken, aber das Zünglein an der Waage, das wird Nowak sein.

    „Und wie der zu mir steht ist euch auch bekannt, also ist das Ding gelaufen", meinte Markus mit gespieltem Gleichmut. Trotzdem werde ich vor ihm nicht zu Kreuze kriechen.

    Heidenreich sagte, dass er versuchen werde, Krüger umzustimmen, bevor er sich mit besten Genesungswünschen für den Kranken aus dem Raum entfernte. Aber man sah ihm an, dass er obwohl gut bekannt mit dem Ärztlichen Direktor, seinem Ersuchen keine große Chance einräumte. Kurz darauf folgten Ludwig und Markus seinem Beispiel. Alle waren darüber erleichtert, dass es Bernd besser zu gehen schien.

    Anschließend begab sich Markus auf die ITS, um nach der von ihm Operierten zu schauen.

    Das Mädchen, dem eine Blutkonserve infundiert wurde und das an einigen Geräten angeschlossen war, lag wach aber völlig reglos und mit zur Decke starrenden Augen im Bett. Wenn es nicht ab und zu die Augenlider bewegt hätte, schwach und träge, als sei dies zu anstrengend, hätte Markus meinen können, dass es aus sei mit ihr.

    „Durst, flüsterte sie kaum hörbar, als der Chirurg sich über sein blasses, eingefallenes Gesicht beugte. Auf dem Spind stand eine Schnabeltasse, die mit Tee gefüllt war. Der Arzt setzte das Gefäß an die Lippen der Patientin und hob dabei ihren Kopf so weit an, dass sie mühelos trinken konnte. Sie trank gierig, die blutleeren Lippen fest um den Schnabel gepresst. Danach schien etwas mehr Leben in ihr zurückgekehrt sein, denn die Worte, die sie mit allen Anzeichen dunkler Melancholie an den Arzt richtete, waren nun deutlicher vernehmbar: „Haben sie mich operiert?

    „Ja, sagte Markus. „Wie fühlen sie sich?

    „Schlecht. Vom Bauch an abwärts ist alles tot. Was bedeutet das?"

    Sie sah ihn angstvoll an, so dass er es nicht übers Herz brachte ihr die Wahrheit zu sagen. Die Wahrheit hieß mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit dauerhafte Querschnittslähmung, denn das Geschoss hatte auch die Wirbelsäule verletzt. Der Kranken war jedoch nicht entgangen, dass der Arzt sie verschonen wollte. „Also stimmt es, sagte sie, schloss die Augen und ergänzte: „Es wäre besser gewesen, wenn man mich an der Mauer hätte verbluten lassen.

    „Reden sie keinen Quatsch, versuchte Markus energisch zu werden. „Sie sind jung, Sie werden durchkommen und weiter leben! „Leben? Verächtlich lachend öffnete sie die Augen. „Mein Leben war vorher schon arm genug, aber jetzt, wo ich gelähmt bin, wird es noch um Vieles ärmer werden, eine fortdauernde Qual. Nein, Herr Doktor, ich will nicht mehr leben, nicht mit der Lebenslüge vom real existierenden Sozialismus, nicht als Eingesperrte in einem ihrer schrecklichen Zuchthäuser und auch nicht als Querschnittsgelähmte. Und ich schwöre ihnen, die werden mich nicht für meinen misslungenen Fluchtversuch aburteilen. Meine Flucht geht weiter bis zum bitteren Ende.

    Zutiefst erschüttert hatte Markus ihr zugehört. Noch nie zuvor hatte ihm ein Mensch nach all seinen Bemühungen, dessen Leben zu retten, dafür so viel Geringschätzung entgegen

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