Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Morandus: Roman
Morandus: Roman
Morandus: Roman
eBook188 Seiten2 Stunden

Morandus: Roman

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

"Die Vergangenheit vergeht nicht. Sie bleibt des Menschen Wegbegleiter, manchmal auch sein Fluch."
Das Fundament eines Lebens liegt in den Leben anderer wie ein Ziegel einer Mauer, niemals frei. Wer bin ich im Geflecht der Geschichten, ist die Frage, die dem Buch "Morandus" von Matthias Zimmer vorangestellt ist.
Der Protagonist des Romans, der aus dem Vorharz stammende Bauunternehmer Ernst Funk, ist nach dem Krieg nach Kanada ausgewandert und hat dort eine Familie gegründet. Die Zeit der Jugend – die Erinnerungen an seine erste Liebe, an den Krieg – war begraben, er hatte sich in Kanada neu erfunden, eine makellose Existenz aufgebaut.
Doch eines Tages rührt sein Freund und langjähriger Gesprächspartner Landau an diesem Konstrukt, als er ihn im Zuge einer wissenschaftlichen Studie über deutsche Auswanderer befragt. So kommt etwas ans Licht, was längst der Vergessenheit anheimgefallen war, und der so gut befestigte Stein löst sich aus der Mauer, bringt etwas ins Rollen, das nicht nur das Leben von Funk von Grund auf ändern sollte.
Als über 60-Jähriger reist er erstmals an die Orte eines Geschehens, das seit mehr als vierzig Jahren auf ihm lastet.
SpracheDeutsch
HerausgeberEdition Faust
Erscheinungsdatum28. Juni 2021
ISBN9783945400968
Morandus: Roman
Autor

Matthias Zimmer

Matthias Zimmer ist gebürtiger Marburger und an der Mittelmosel aufgewachsen. Nach beruflichen Stationen in Bonn und dem kanadischen Edmonton lebt und arbeitet er seit mehr als zwanzig Jahren in Frankfurt am Main, unterrichtet an der Universität zu Köln und ist seit 2009 Mitglied im Deutschen Bundestag. Sein Romandebüt Morandus erschien 2021 in der Edition Faust.

Ähnlich wie Morandus

Ähnliche E-Books

Fiktion für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Morandus

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Morandus - Matthias Zimmer

    I

    Je suis mon passé. Ich bin meine Vergangenheit. Ich bestehe in und aus meiner Erinnerung. Für einen Historiker wie Landau war das eine banale, selbstverständliche Feststellung. Je suis mon passé: Ich bin, der ich geworden bin. Vergangenheit und Gegenwart sind nur durch einen Wimpernschlag getrennt. Jeden Moment kann die Vergangenheit in uns einbrechen und Vergessenes freilegen. Wir sind keine unbeschriebenen Blätter, keine geschichtslosen Projekte. Wir sind in Geschichte und Geschichten verstrickt. Wenn wir uns Geschichten erzählen, lernen wir, uns zu verstehen. Wir sind unsere Geschichten. Wir sprechen durch unsere Geschichten, weil sie unser Gedächtnis sind. Und am Ende verwehen unsere Geschichten wie wir selbst, es sei denn, sie werden aufgeschrieben und weitergegeben.

    Landau konnte mit Sartre an sich nichts anfangen, aber Je suis mon passé traf den innersten Kern seiner Forschungen. Es war eine Art Leitmotiv, das sich durch seine Untersuchungen zog. Was sind wir, was macht uns aus? Der Mensch ist das sich erinnernde Tier, nichts wird vergessen. Gerade in letzter Zeit spürte Landau, wie sehr sich frühe Erinnerungen wieder in sein Bewusstsein drängten und seine Träume beherrschten. Die Kunst des Alterns. Waren das erste Anzeichen einer neuen Lebensphase? Wie viel er auch darüber gelesen hatte, jetzt erst wusste er: Die Vergangenheit vergeht nicht. Sie bleibt des Menschen Wegbegleiter, manchmal auch sein Fluch. Erst durch Erinnern verstehen wir, gewinnen uns selbst. Erinnerung ist dabei immer in andere Geschichten und Zeitläufte verstrickt, in fremde Biographien, fremde Erinnerungen.

    Zum Alter gehört das Vergessen. Es verlängert das Exil; das Geheimnis der Erlösung ist die Erinnerung, heißt es in einer jüdischen Weisheit. Aber wie weit reichte sie zurück? Nur in die eigene Biographie oder griff sie doch erheblich weiter? War die Geschichte individuell zu betrachten oder vielmehr kollektiv? Die Antwort hinge wohl davon ab, inwieweit ein jeder Herr seiner eigenen Biographie war. Und er selbst? Das alte Spannungsverhältnis von Selbstbestimmung und Fremdbestimmung betraf freilich gerade auch den Historiker. Es blieb unauflösbar und geheimnisvoll.

    Landau tadelte sich ob seiner Grübeleien und schritt den Saskatchewan Drive entlang, hin zu seinem Büro im Henry-Marshall-Tory Building der University of Alberta. In Kanada trugen die Universitätsgebäude häufig Namen. Manchmal waren damit Erinnerungen an große Taten für die Universität verbunden, wie im Fall des ersten Universitätspräsidenten Henry Marshall Tory, manchmal nur die Erinnerung an einen ausgestellten Scheck. Die Kanadier zeigten hier einen etwas nüchternen Pragmatismus. Auch Erinnerung hat ihren Preis. Im Sekretariat fischte er seine Post aus dem Postfach und zog sich damit in sein Büro zurück, ein funktionaler Raum, dem er durch zwei englische Clubsessel, eine Stehlampe, die an Art Deco denken ließ, und überfüllte Bücheregale die Anmutung von Gemütlichkeit zu geben versuchte. Den großen Teil seines Lebens verbrachte Landau im Büro. Früh hatte er sich ein diszipliniertes Arbeiten angewöhnt, das er in seinem Berufsleben beibehalten hatte. Dazu gehörte die strenge Trennung von Arbeit und Privatleben. In seinem Haus im Akademikerviertel Belgravia, das nach dem Auszug seiner beiden Kinder für ihn und seine Frau beinahe grotesk überdimensioniert war, hatte er sich nie ein Arbeitszimmer eingerichtet.

    Landau war ein Meister der Trennung. Mit seiner amerikanischen Frau Mary sprach er nur englisch. Deutsch, die Sprache, in der er bis zu seiner Flucht aus Wien 1938 aufgewachsen war, spielte in seinem Beruf als Professor für neuere deutsche Geschichte eine Rolle, aber niemals in seinem Privatleben. Auch seine beiden in Kanada geborenen Kinder Mark und John hatten die Sprache erst bei den Besuchen in Österreich gelernt. Zuhause wurde ausschließlich englisch gesprochen. Nicht, dass Landau des Deutschen nicht mehr mächtig gewesen wäre, im Gegenteil. Gerade die Trennung der Lebenssphären sorgte dafür, dass seine Muttersprache nicht, wie es bei anderen Migranten aus dem deutschsprachigen Raum häufig zu beobachten war, stückweise durch englische Redewendungen und Syntax kolonisiert wurde. Er sprach immer noch ein grammatikalisch und idiomatisch korrektes Deutsch. Manchmal, zugegeben, zeigte es Ansätze des Musealen, ein Festhalten an Ausdrücken, die aus dem Gebrauch gekommen waren, und hie und da erlaubte er sich auch eine umstandslose Übersetzung englischer Wörter, wenn der deutsche Begriff ihm nicht geläufig war. Den Anrufbeantworter als „Antwortmaschine" zu bezeichnen, gut, das hatte ihm vor ein paar Jahren ein Schmunzeln seiner österreichischen Freunde eingebracht, erinnerte er sich, allerdings waren solche sprachlichen Fehlleistungen eine Ausnahme, zumal Landau es sich in den letzten zehn Jahren zum festen Programm gemacht hatte, jedes zweite Jahr die mehrmonatigen Sommerferien in Österreich zu verbringen.

    Und war er nicht immer ein talentierter Netzwerker gewesen? Durch Geschick und seine guten Beziehungen, vor allem zu Bruno Kreisky, hatte sich die Gelegenheit eines Stipendiums in Wien ergeben, mit Logismöglichkeit, zentral in der Leopoldstadt, unweit von seinem alten Gymnasium. Zu seiner Zeit trug es noch den Namen des Erzherzogs Rainer, mittlerweile war es nach einem berühmten Ehemaligen, Sigmund Freud, benannt. Alle zwei Jahre wurde das Stipendium erneuert und gab Landau damit Gelegenheit, neue Kontakte in seiner alten Heimat zu knüpfen, vor allem innerhalb der SPÖ, der er weltanschaulich durchaus nahestand. Immerhin war er für transatlantische Fragen informeller Ratgeber der Partei geworden und hatte sich mit einer englischsprachigen Geschichte Österreichs seit dem Krieg revanchiert, dabei die Verdienste der Sozialisten ein wenig stärker betont, als es für einen unparteiischen Historiker unbedingt schicklich erschien.

    Bisweilen leisteten ihm Mary und die Kinder in Wien Gesellschaft, nie aber die vollen drei Monate, die er dort regelmäßig verbrachte. Er schätzte das. So blieb ihm Zeit, alte Freundschaften wieder aufleben zu lassen, Bekanntschaften, die nach der erzwungenen Emigration abrupt abgebrochen waren. Wie großbürgerlich seine Familie einst gelebt hatte! Der Vater war ein anerkannter Chirurg am Allgemeinen Krankenhaus gewesen, ein belesener Mann, der gerne Gäste aus Literatur und Musik bei sich bewirtete. Als die Stimmung umschlug, hatte er noch vor dem Anschluss an das Reich Vorkehrungen getroffen, um Österreich schnell in Richtung USA zu verlassen. Wohl hatte er das kommende Unheil, wenn nicht gesehen, so doch geahnt. Er selbst, Landau, war damals dreizehn Jahre alt gewesen, freilich zu jung, um die Dimension der Ereignisse erfassen zu können, andererseits alt genug, um Zeit seines Lebens eine Traurigkeit zu empfinden, die nur diejenigen befällt, die ihre Heimat für immer verlassen. Die Lebensumstände … Landau seufzte. Auch für ihn blieb Wien eine Zwischenstation, da eine Rückkehr aus beruflichen und familiären Gründen nicht möglich war.

    Seine Frau hatte er während des Studiums in Yale kennengelernt, bei einem Gartenfest seines akademischen Lehrers Hajo Holborn. Mary war eine enge Freundin von Hanna Holborn, die den Sommer bei ihrem Vater verbrachte. Wie frisch, wie natürlich Mary wirkte! Sehr amerikanisch, optimistisch, immer gut gelaunt. Er hatte ihr in den Jahren der Ehe einiges zugemutet. Schon die Übersiedlung ins kanadische Edmonton, wo er Anfang der sechziger Jahre nach einigen Lehraufträgen in den USA seine erste feste Stelle gefunden hatte. Was für ein Kulturschock, besonders für Mary! Sie war ein Gewächs der Ostküste und nun mit ihm in der Prärie gelandet. Ihre Erziehung im durch und durch protestantischen Geist war beinahe puritanisch, und seine jüdische Herkunft damit schon Problem genug, wenngleich er in keiner Weise praktizierte, ja später ihretwegen sogar konvertiert war. Besser Edmonton als Wien, dachte sich Landau. Ein Leben im urbanen Wien, der Stätte der Musik, der leichten décadence, des süßen Lebens, der Kunst, undenkbar, das hätte Mary komplett überfordert. Deswegen hatte sich die Frage einer Rückkunft gar nicht gestellt, er selbst hatte sie Mary nie gestellt, denn instinktiv war er sich ihrer Ablehnung, ja Empörung sicher. Und doch hatte ihn Wien nie losgelassen, die Stadt hielt ihn in ihren Fesseln, wie er sich eingestehen musste. Hörte er das Fiakerlied, hatte er sogleich lächerliche Tränen in den Augen, die zärtlichsten, wohligsten Erinnerungen hüllten ihn ein, dessen war er sich wohl bewusst, hielt diese Gefühlsduselei aber vor seiner Frau und seinen Kindern verschlossen. Was für ein Bild würde er auch von sich geben? Das passte nicht zu jenem, das er von sich selbst hatte – als Lehrer, als Vater, als Ehemann. Sein Leben war notwendige professionelle, mitunter ironische Distanz zu den Dingen, antrainiert durch die Umstände und die akademische Ausbildung. Dadurch konnte er sich und seine Familie schützen. Mit der Zeit war, wie er sich selbst eingestand, die Seele mit Hornhaut überwachsen; galt er vielleicht deshalb oft als unnahbar, ja abweisend?

    So waren die Aufenthalte in Wien zunächst ein angenehmes Wiedererinnern, mit der Zeit aber ein schmerzliches Wiedererkennen, das ihn ob seiner eigenen Gefühle zunehmend ratlos machte. Wo gehörte er nun selbst hin, zu welcher Heimat? War Heimat das Schicksal, die Herkunft also, oder war sie bewusste Entscheidung? Früher hätte Landau behauptet, es sei eine Entscheidung: Dort, wo meine Familie ist, wird auch meine Heimat sein. Doch im Lauf der Jahre spielte ihm das Unbewusste zusehends Streiche. Seine Träume versetzten ihn zurück in die Kindheit, und es war ihm, als könnte er dort sogar einzelne Gerüche wahrnehmen. Zumeist waren es Szenen aus den ersten sechs oder sieben Jahren, die er wiedererlebte, selten aus der Zeit der frühen Jugend. Die Eindrücke wurden mit den Jahren stärker, farbiger, intensiver. Der Geruch etwa, wenn seine Mutter Buchteln zubereitete, mit Powidl gefüllt, dem süßen Zwetschgenmus. Das Hochgefühl bei der Fahrt mit der Liliputbahn im Prater. Das Gefühl, zuhause barfuß über die weichen Teppiche zu laufen. Manchmal wachte er mittendrin auf und fühlte sich seltsam disloziert, ein Schauspieler in einem falschen Film, und so musste er sich erst orientieren, mühsam wieder in die Gegenwart zurückbringen, in der er ein kanadischer Hochschulprofessor war, verheiratet mit einer Amerikanerin, Vater von zwei Kindern, politisch eher links, ohne empfangsbereite religiöse Antenne, im Alter zunehmend introvertiert.

    Freilich, die plötzlichen Rückrufe der Erinnerung hatten auch seine professionelle Fantasie beflügelt; nicht umsonst steht Mnemosyne an der Wiege der Geschichtsschreibung. Landau hatte durch viele Gespräche herausgefunden, dass solche Formen der Erinnerung durchaus verbreitet waren. Mary hatte ihm von ähnlichen Erfahrungen berichtet, ebenso seine Kollegen und Freunde. Sie gehörten ja etwa der gleichen Generation an. Allerdings erinnerten sie sich in unterschiedlicher Intensität. Landau überlegte, ob und wie man diese Gedanken und Erkenntnisse wissenschaftlich nützen könnte. Woran ließe sich die Wirkung der Erinnerung überhaupt festmachen? Irgendwann Mitte der achtziger Jahre war dann die Idee zu einem Forschungsprojekt entstanden, in dem sich Landau Formen der Erinnerung einmal systematisch anschauen wollte, und zwar vor allem bei deutschen Migranten in Kanada. Eine solche Eingrenzung lag nahe, zumal sich Kanada als ein Land rühmte, das Identitäten unterschiedlichster Herkunft großzügig Platz einzuräumen versprach. Nichts anderes bewegte die Politik des Multikulturalismus. Aber was, wenn dadurch das Private, Intime öffentlich würde? Wenn Erinnerungen sich als politisch handlungsleitend erwiesen? Konnte die stolze Idee einer multikulturellen Gesellschaft unter dem Ansturm legitimer Erinnerungen überhaupt noch eine integrierende Wirkung entfalten? Was würde passieren, wenn eine Gesellschaft in ihre Geschichten zerbrach, in die einzelnen Motive, wenn sie selbst keine integrierende Metaerzählung mehr bereitstellen konnte, ja darauf sogar bewusst verzichtete?

    Landau empfand sich keineswegs als Gegner des Multikulturalismus, hielt aber eine kritische Distanz für angemessen, zumal ja auch die österreichische Erfahrung eines Vielvölkerstaates durchaus ambivalent war. Ungemein bereichernd, das ja, betrachtete man die kulturellen Früchte, selbst noch in den Nachwirkungen. Manès Sperber, mit wie viel Bewunderung er ihn gelesen hatte! Oder wie er den klugen Gregor von Rezzori zu Anfang der achtziger Jahre über den ORF entdeckt hatte, später Paul Celan mit seinen Studenten immer wieder diskutiert: eine bunte deutschsprachige Vielfalt, so ganz anders als der bundesrepublikanische oder österreichische Mief nach 1945, offener, weltläufiger und gleichzeitig unbefangen heimatverbunden. Auf der anderen Seite musste man eingestehen, dass der Vielvölkerstaat politisch hoch flüchtig war, instabil, ein permanentes Fragezeichen. Die Kanadier hingegen gingen an das Multikulturelle mit einer gewissen Naivität heran, der die historische Dimension fehlte. Sie waren einfach nur neugierig, aber die Neugier war unverdächtig wie die kulturellen Manifestationen selbst. Diese blieben ohne Tiefgang, meist beschränkt auf kulinarische Hervorbringungen und folkloristische Kleidung, alles eher in einem Disney-Format. Landau schnaubte verächtlich. Kultur war hier nur Erinnerung ohne existenzielle Bedeutung und deshalb auch keine Quelle von Konflikten. Multikulturalismus war ja nicht das Ausbalancieren unterschiedlicher kultureller Identität in einem Vielvölkerstaat, er war ein Mittel der Integration in einer Gesellschaft von Migranten, deren Ausgang noch nicht feststand.

    Und sein eigenes Leben? Welchen Ausgang nahm es? Landau wischte den Gedanken beiseite, wandte sich lieber wieder allgemeineren Fragen zu. Sowieso konnte er die Frage nach dem Stellenwert der Erinnerung mit seiner Familie nicht ausmachen. Es fehlte ihr die Erfahrung der Migration von Grund auf. Mary, gewiss, sie hatte viel erlebt, doch unter völlig anderen Bedingungen. Von Massachusetts, ihrer Heimat, nach Alberta zu gehen, mochte ähnlich einschneidend gewesen sein wie für andere eine Umsiedlung nach Iowa. Aber, und das erschien Landau als ausschlaggebend, sie verblieb doch in einem ähnlichen Kulturkreis, in der gleichen Sprache. Abgesehen natürlich von geringfügigen Abweichungen im Schriftlichen. Spannender war da schon der deutsche Kulturkreis, die deutschsprachige Gemeinschaft in Alberta, zu der Landau, zugegeben, über viele Jahre instinktiv Abstand gehalten hatte. Deutsche gab es dort schon vor dem Krieg, gewiss; doch nach dem Krieg hatte Kanada eine große Einwanderungswelle von Deutschen erlebt, die bis Anfang der fünfziger Jahre anhielt. Ein Teil der Einwanderer war im Dritten Reich schuldig geworden und suchte einen Neuanfang, andere waren der Perspektivlosigkeit der deutschen Nachkriegssituation entflohen und hofften, sich in Kanada ein besseres Leben aufbauen zu können. Alberta war eine der Provinzen, in denen sich deutsche Zuwanderung besonders bemerkbar machte. Es gab deutsche Clubs, deutsche Metzgereien, deutsche Bäckereien, auch ein reges gesellschaftliches Leben, in dem alles Deutschsprachige von Ostpreußen bis Österreich zu einem ununterscheidbaren Deutschtum zusammenfloss, das in der neuen Heimat mit besonderer Hingabe gepflegt wurde.

    In den achtziger Jahren hatte es in Deutschland eine Debatte der Intellektuellen um die Frage gegeben, was denn die deutsche Identität sei. Landau hatte davon einiges bei seinen Besuchen in Österreich am Rande mitbekommen und war zunächst amüsiert. Deutschtum … was sollte das konkret sein? Offensichtlich widmeten sich umgekehrt die Kanadier der Frage nach ihrer Identität mit ebenso großer Ausdauer und Gelehrsamkeit. Konnte man den Punkt, was denn nun kanadisch und was deutsch sei, womöglich dadurch eingrenzen, dass man die Migranten in den Blick nahm? Die Deutschen in Alberta – Landau legte Wert darauf, den

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1