Primitive Kolonien
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Über dieses E-Book
Magisches, Phantastisches, scheinbar Erfundenes des Schreibers, entpuppt sich letztendlich doch als Tiefenrealismus, in vielen Sequenzen als präzise, ja naturalistische Beschreibung.
In den Geschichten sind – je nach Betrachtungsweise tragische und komische Figurationen – vielfach aneinander gekettet, ohne die existenzielle Gewalt einer menschlichen Tragödie zu dimmen, zu bagatellisieren.
Heimatlosigkeit, Entwurzelung der Protagonisten in persönlichen kulturellen und gesellschaftlichen Dimensionen sind wiederkehrende Themen.
Und die Gegenwart ist in jeder Lebenssekunde eingetaucht in immerwährende Beize der Vergangenheit.
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Buchvorschau
Primitive Kolonien - Alexander Siewers
1. Kapitel
In der großen Stadt im Ruhrgebiet, im Zentrum des Ortsteils M., auf der Königin-Luise-Straße, herrschte reges türkisches Leben. Auf dem Bürgersteig vor einem kleinen Restaurant buk eine junge Frau in anatolischer Tracht Gözleme. An der großen Straßenkreuzung standen – heftig diskutierend, gleichzeitig Zeitung lesend – eine Gruppe ergrauter türkischer Männer. Auf der anderen Straßenseite – wohl an ihrem Stammplatz – sah man die einzigen Deutschen weit und breit. Junge Leute mit alten Gesichtern – Bierdosen in der Hand – schwankten, torkelten, schimpften – hilflos, verbittert. Zwei alte türkischsprechende Männer schüttelten im Vorbeigehen die Köpfe über dieses Bild des Jammers. Junge Frauen in langen schwarzen Mänteln und verhüllten Haaren fuhren ihre Babies in Kinderwagen spazieren. Zwei Polizisten auf Streife bogen um die Ecke. Sie bewegten sich vorsichtig wie Besucher in einem fremden Land. Sie wirkten in Ihren grünen Uniformen wie Komparsen im falschen Film.
Im weiteren Verlauf der Königin-Luise-Straße versandete das Leben mehr und mehr – Langeweile, Ödnis hatten sich eingenistet. – Vernagelte Schaufenster, wenige Menschen auf den Bürgersteigen – ein kleines, muffiges italienisches Cafe ohne Gäste. Das Gesicht der alten Inhaberin so tiefgründig fahl und weiß, das es schon seit Jahrzehnten die Kraft der italienischen Sonne vergessen haben mußte. Zwei türkische Jugendliche hatten sich an die dunkelgraue Hauswand der schon lange geschlossenen „Jägerstube" gelehnt – mit leeren Gesichtern – und warteten.
In diesem Teil der Straße behauptete sich noch ein kleiner deutscher Lebensmittelmarkt. Hier kauften ausschließlich Deutsche – Margarine und Thunfisch, Zigaretten und schlechten Weißwein – trotz der im Vergleich zu Discountern hohen Preise. An der Kasse saß ein etwa 60jähriger eher kleiner und dünner Mann mit vollem grauen, etwas gelocktem Haar und einer auffällig goldornamentierten Brille auf der spitzen Nase. Er trug einen graublauen Arbeitskittel.
Paul Berger war Filialleiter dieses winzigen Supermarktes und heute alleine. Seine Mitarbeiterin hatte sich krank gemeldet. Nach Geschäftsschluß erledigte er die Kassenabrechnung und pünktlich um 19 Uhr holte der Sicherheitsdienst die Geldbombe mit den Tageseinnahmen ab.
Berger fuhr wie immer mit der Straßenbahn nach Hause und stieg an der Haltestelle vor einer großen wilhelminischen Kirche, die nicht mehr genutzt wurde, aus. Im ehemaligen Pfarrhaus, rechts neben der Kirche, war nun eine Koranschule untergebracht. Links von der Kirche standen zwei alte Häuser aus der Zeit, als dieser Teil der Stadt noch ländlich geprägt war, Fenster und Türen mit Brettern vernagelt. In einer Ecke hatte der Wind einen Berg Müll gesammelt. Das dritte Haus stammte aus derselben Zeit, war aber bewohnt und im Erdgeschoß befand sich ein Spielsalon.
Im nächsten Gebäude, einem nur wenig heruntergekommenen prächtigen Gründerzeitbau, wohnte Berger direkt rechts in der Parterrewohnung. Er kannte im Haus nur seine Nachbarin von gegenüber im Hausflur gut – eine etwa gleichaltrige Witwe – mit der er dann und wann ein Schwätzchen hielt.
In seiner Wohnung hingen an den rauhfasertapezierten weißen Wänden Fotografien, die er an seinen Urlaubsorten geschossen hatte: San Remo 1972 – Split 1985 – Djerba 1999 – Dominikanische Republik 2000. Es waren Landschaften zu sehen, markante Gebäude, größere Menschenansammlungen am Strand. Nie waren einzelne Personen fotografiert – es gab keine Erinnerungsfotos an Freunde, keine Fotos von Berger selbst.
In der winzigen Küche aß er eine rasch aufgewärmte Tomatensuppe, griff sich eine Flasche Bier und ein Glas, ging in sein Wohnzimmer und ließ sich in den mit braunem Cord bezogenen Sessel fallen. Berger war immer Einzelgänger gewesen. Darüberhinaus schien auch sein Sexualtrieb nur wenig ausgeprägt. Eigentlich empfand er sexuelle Begierden als lästiges Übel, als störende Angelegenheit. In den letzten Jahren hatte sich ein Ritual herausgebildet. In Vollmondnächten – und nur dann – schob er eine Pornokassette in den Videorekorder – und befriedigte sich selbst. Mit diesen Handlungen wähnte er seine Schuldigkeit gegenüber den Forderungen der Sexualität erfüllt.
1954 – in einem Pfadfinderlager am Fuße der Wasserkuppe – widerfuhr ihm sein erstes sexuelles Erlebnis – übermannt von einem grobschlächtigen, fetten, in der Erinnerung immer noch brünstig wirkenden, ungeheuerlich schwitzenden, ja stinkenden Pfadfinder. Er dachte nicht oft an die Geschichte, aber wenn er sich daran erinnerte, befiel ihn heute noch Atemnot. Dieser große, dicke Junge hatte sich voller Erregung auf ihn, den dünnen, kleinen gelegt – eine große schwere Masse – und sich abreagiert.
Von 1962 bis 1963 war er verlobt gewesen – mit Monika, einer Kollegin aus dem Kaufhaus, in dem beide in der Lebensmittelabteilung gearbeitet hatten. Berger war damals stolzer Besitzer eines zitronengelben Ford-Taunus mit schwarzem Dach – es gab einige verkrampfte Schmusereien im Auto – ein Austausch von gepreßten Küssen – obwohl Monika immer wieder versucht hatte, tiefer in seinen Mund einzudringen – und einigen zögerlichen Versuchen seinerseits, sie auch in der Schamgegend zu stimulieren, wie er es in einem Aufklärungsbuch gelesen hatte. Bei ihrem letzten Treffen, einem sommerlichen Picknick am nahen Baggerloch, hatte sich Monika mit Hand und Mund – eine mühsame Angelegenheit – bei ihm abgearbeitet. Nach diesem Picknick verschwand Monika plötzlich aus seinem Leben. Wie man hörte, hatte sie sich in die Filiale einer weit entfernten Stadt versetzen lassen.
Von da an nahm Sexualität noch weniger Platz in seinem Leben ein. Auch im Urlaub sah er die Menschen nicht als mögliche Sexualpartner – geschweige denn als mögliche Freunde oder Freundinnen – sondern als bewegliches Interieur von Capri, Split, Djerba oder der Dominikanischen Republik. Als sich an seinen Urlaubsorten der Sextourismus immer mehr ausbreitete, empfand er dies eher als zoologische Attraktion.
Berger war begeisterter Fußballanhänger, doch er wollte sich nicht für einen Lieblingsverein entscheiden, sondern besuchte einmal die Spiele dieses, einmal jenes Bundesligavereins im Ruhrgebiet. In menschengefüllten Fußballstadien war er glücklich. Ihn überkam dort, als Teil der ganzen, bewegten Zuschauermenge, ein wohliges, erregendes Gefühl. Er sah die Fußballspieler in den kurzen Hosen sich abmühen und kämpfen – und fühlte sich an die Gladiatorenfilme seiner Jugendzeit erinnert, die er sehr geliebt hatte.
Seine Eltern besaßen bis Kriegsende eine kleine Landwirtschaft in der Gegend von Insterburg. 1945 flohen sie mit ihm aus Ostpreußen. Andere Familienmitglieder überlebten Krieg und Vertreibung nicht. Bei seiner Geburt war die Mutter 40, der Vater 60 Jahre alt. Die Beziehung zwischen Eltern und Sohn blieb eher spröde als herzlich. Der Vater starb 1964, die Mutter 1975. An Krieg oder Vertreibung erinnerte er sich nicht.
Berger konnte keinen Freund mit Namen nennen, zählte Schulkameraden, Arbeitskollegen, Nachbarn, Pfadfinderkameraden, eine Verlobte. Er spürte keinen Mangel an Freundschaft und Nähe zu anderen Menschen. Nur einmal, mit 14 Jahren, war er in einen Jugendfußballverein