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Dirty Talking
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eBook297 Seiten3 Stunden

Dirty Talking

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Über dieses E-Book

Eigentlich ist der Stand-up-Comedian Bobby Wilson kein schlechter Kerl. Er hatte Gutes tun wollen und nicht damit gerechnet, dass die Geschichte so schnell ausser Kontrolle geraten würde. "What the fuck!", hatte Wilson dem Mexikaner Pote Valdez ins Gesicht geschrien, "ihr könnt mich doch nicht einfach entführen!". "La boca", hatte Pote gebrummt und ihm eine Kopfnuss verpasst. Aber es kam noch schlimner.

Der Thriller spielt in Basel, Monfalcone und auf den Golanhöhen.

Cueni schreibt wie wir rocken: Dreckig, ehrlich und auf den Punkt.
Love it!
Chris von Rohr, Rocklegende (Krokus)
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum30. Jan. 2023
ISBN9783907339879
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    Buchvorschau

    Dirty Talking - Claude Cueni

    1

    Wie dumm, dass Sie dieses Buch gekauft haben. Es ist bestimmt nicht das, was Sie suchten. Eigentlich ist Dirty Talking eine Dienstleistung von Prostituierten. Einige Kunden mögen das, weil sie sich zu Hause nicht getrauen zu sagen: »Komm her, du geile Schlampe. Ich will dich bumsen.« Unter dem Druck der Political Correctness wächst auch in der gehobenen Gesellschaft der Wunsch nach Dirty Talking abseits des Rotlichtmilieus. Gebildete Menschen, die sich eloquent und höflich ausdrücken, kriegen vor lauter Political Correctness einen dicken Hals, dann platzt ihnen der Kragen und ihr Wortschatz fällt vorübergehend in jene prähistorischen Zeiten zurück, als man sich noch mit Grunzen und Drohgebärden verständigte. Wie Tourette-Kranke posaunen sie nach Einbruch der Nacht das Repertoire von Dirty Talking heraus. Sie tun dies in den privaten Salons, wo man die guten Manieren an der Garderobe abgibt. Sie versammeln sich in Debattierclubs mit Gleichgesinnten wie damals die Republikaner vor Ausbruch der Französischen Revolution. Sie flüstern sich Dinge ins Ohr und sagen, das dürfe man nicht mehr laut sagen. Sie unterhalten sich über Bücher wie dieses hier: Dirty Talking. Und falls Sie es nicht mögen: I give a shit!

    PS: Beinahe hätte ich etwas vergessen. In diesem Buch werden oft Kraftausdrücke benutzt, die Sie irritieren oder gar verletzen könnten. Don’t worry. Fluchen setzt physische Kräfte frei, man wird schmerzresistenter. Steckt man Sie kopfvoran in eine Kloschüssel, halten Sie es etwas länger aus, wenn Sie dabei fluchen. Neurologen haben das mit Eiswasser getestet. Im Vergleich mit der Kontrollgruppe hielten es Fluchende fünf Minuten länger aus. Fünf Minuten können eine Ewigkeit sein. Seien Sie also nachsichtig, wenn einige Leute in diesem Buch fluchen, was das Zeug hält. Der Mensch ist nicht perfekt, ich bin es auch nicht. Manchmal erleben wir einen richtig beschissenen Tag und man wünscht sich, man wäre nie geboren. Wir alle kennen diese Anspannung, die wie ein Tsunami unseren Körper flutet. Es wäre in diesem Augenblick unmenschlich, keine vulgären Flüche auszustossen. Lassen Sie ihre Wut raus, bevor Sie implodieren. Das ist ein spontaner Reflex, ein uralter evolutionärer Reflex, der im ruchlosen Teil unseres Gehirns entsteht. Wir teilen ihn mit allen anderen Primaten, Säugetieren und Echsen, er löst Freude, Wut, Angst, trompetenhafte Fürze, Kampfbereitschaft oder Fluchtbewegungen aus. Die Herzfrequenz schiesst in den roten Bereich. Würden wir keine Socken tragen, könnten wir sehen, wie der Angstschweiss zwischen unseren Zehen trieft. Fluchen jagt Blut und Adrenalin durch unsere Venen, es schiesst in alle Extremitäten und so ertragen wir ihn besser, diesen ganzen Scheiss, den uns das Leben dauernd in die Fresse haut.

    Fluchen Sie ungeniert! In diesem Buch wird gleich auf Deutsch, Englisch und Spanisch geflucht. Spanisch? Ja, denn die beiden Mexikaner sprechen spanisch. Was zum Teufel suchen Mexikaner in der Schweiz? Und ausgerechnet in Basel. Hatte sich Bobby Wilson auch gefragt. Dirty Talking ist seine Geschichte und ich werde sie erzählen, so, wie sie mir Bobby Wilson erzählt hat. An der jordanisch-israelischen Grenze. Es ist keine alltägliche Geschichte. Als Wilson mittendrin steckte, hatte er keine Ahnung, was die beiden Mexikaner im Schilde führten. Ich weiss es mittlerweile und werde es Ihnen nicht vorenthalten. »What the fuck!«, hatte Bobby Wilson Pote Valdez ins Gesicht geschrien, »ihr könnt mich doch nicht einfach entführen!«

    »La boca« hatte Pote gebrummt und ihm eine Kopfnuss verpasst. »La boca« bedeutet so viel wie »Klappe halten«. Was mit Bobby Wilson geschah, ist auch deshalb eine ungewöhnliche Geschichte, weil er ursprünglich Gutes tun wollte. Doch bald darauf steckte er bis zum Hals in der Scheisse. Und das ist seine Geschichte:

    2

    Bobby Wilson wurde am neunten Dezember 1972 im Zürcher Hallenstadion gezeugt. Der Saal war stockdunkel und proppenvoll. Aus den monströsen Lautsprecherboxen dröhnten dumpfe Schläge, Herzschläge, aber es waren nicht die von Bobby Wilson. Die Leute wurden unruhig, einige begannen zu schreien, sie hielten es kaum noch aus. Immer diese monotonen Herzschläge. Die meisten waren bereits so zugedröhnt, dass sie regelrecht ausflippten. Plötzlich wurde der Saal mit grellen Scheinwerferlichtern geflutet und auf der Bühne standen die vier späteren Legenden David, Nick, Roger und Rick an der Orgel. Die britische Rockband tourte durch Europa und die damals 30-jährigen Hippies Jamie und Jolene hatten eine Menge Joints eingepackt und waren ihnen gefolgt. Sie wollten dieses endlos lange Musikstück hören, das mit einem Herzschlag beginnt. Damals, im Winter 72 in Zürich, spielten Pink Floyd eine frühe Version ihres späteren Welthits »Dark Side of the Moon«. Sie sangen, dass der Mond keine dunkle Seite habe, dass er in Wirklichkeit ganz dunkel sei (»There is no dark side of the moon, really; as a matter of fact it’s all dark«) und Jamie und Jolene hatten Sex, mitten in der Menge, wie einst in Woodstock und niemand störte sich daran. Als das Konzert zu Ende war, lagen Jamie und Jolene ermattet von der Liebe inmitten von leeren Bierdosen, Zigarettenstummeln, Unterwäsche und ausgelatschten Espadrilles. Ihnen war etwas widerfahren, dass Normalsterbliche nur aus Komödien kennen. Während die Bühne abgeräumt wurde, stand Jamies’ Penis immer noch wie ein Laternenpfahl und schmerzte grauenhaft. Nach einer halben Stunde bat Jolene die Garderobiere, ihnen ein Taxi zu bestellen. Sie fuhren auf die Notfallstation des Zürcher Universitätsspitals. Die Ärzte diagnostizierten einen Fall von Priapismus, eine schmerzhafte Dauererektion. Mit einer Phenylephrin-Spritze brachten die Notärzte das Ding zum Erschlaffen. Jamie wurde einem Bluttest unterzogen und musste unzählige Fragen beantworten. Nachdem alle möglichen Ursachen ausgeschlossen worden waren, blieb nur noch eine Hypothese übrig: Priapismus in Verbindung mit einer Überdosis Cannabis. Der Fall war damals so aussergewöhnlich, dass er sogar im amerikanischen »Journal of Cannabis Research« ausführlich dokumentiert wurde. Angeblich reisten einige Ärzte vom »Coliseum Medical Centers« aus dem US-Bundesstaat Georgia nach Zürich, um mehr zu erfahren. Die forschenden Spesenritter vermuteten damals, dass durch übermässigen Marihuanakonsum die Blutgefässe derart erweitert werden, dass die Mutter aller Erektionen entstehen könne. Ein Inhaltsstoff der Pflanze bewirke aber, dass jene Signale des Gehirns ausgeschaltet werden, die normalerweise Erektionen wieder beenden. Die US-Delegation reiste vergebens an. Jamie und Jolene waren bereits weitergezogen und hatten sich zum ersten schweizerischen Love-in (nach kalifornischem Vorbild) in Birmenstorf, einem kleinen Dorf im Kanton Aargau, niedergelassen. Dort, an der Badenerstrasse, lebten ein Dutzend Hippies. Sie lasen Hermann Hesse, Jack Kerouac, Gandhi und das Magazin Konkret, die »Polit-Porno-Postille« und Onanievorlage der 68er, der Playboy für Linke, verdeckt subventioniert von der DDR. Chefredakteurin war zeitweise eine Ulrike Meinhof, die spätere RAF-Terroristin, die mit Bombenanschlägen einen Volksaufstand auslösen wollte, aber lediglich schärfere Gesetze bewirkte. Im Keller der Liegenschaft übte eine Band, im ersten Stock war ein Matratzenlager, das nach verwesten Fischen stank. Bobby Wilson kam während einer Jam-Session im verwilderten Vorgarten zur Welt. Fast alle halfen bei der Geburt mit, einige waren allerdings zu bekifft. Shorty übernahm den Lead, denn er hatte Medizin studiert, doch Bobby Wilson weigerte sich, diese beschissene Welt zu betreten. Er versuchte, sich mit der Nabelschnur zu erdrosseln. Shorty schrie verzweifelt, er hätte damals das Studium abgebrochen, das sei alles ganz neu für ihn. Die alte Nachbarin, die hinter ihren Gardinen alles beobachtet hatte, humpelte aus dem Haus, schubste Shorty beiseite und kniete vor Jolene nieder. Sie hiess Agathe Bruhin und es war ausschliesslich ihr zu verdanken, dass Bobby Wilson die Welt einigermassen unbeschadet erblickte und es ist ihr besonders hoch anzurechnen, weil ihr Ehemann, ein Stammgast im »Gasthof zum Bären«, die »Langhaardackel« an der Badenerstrasse als »faule Säcke«, und »Schmarotzer« beschimpfte. Das hatte Jamie und Jolene nicht weiter gestört, denn sie waren stolz, Teil einer jener Grossfamilien zu sein, die sich jenseits der bürgerlichen Kleinfamilie als politisches und künstlerisches Kollektiv verstanden, das ihrer Zeit weit voraus war. Die damalige Elterngeneration war genauso prüde und spiessig wie heutige Wokenesprediger. Im Laufe der Zeit realisierte Jolene, dass die Clique musizierender Kumpels sie nur für Spaghetti Bolognese, Sex und 90-Grad-Wäschen benutzte. Ihr Alltag unterschied sich kaum vom Leben der Agathe Bruhin, die in der Wohnstube eine eingerahmte Fotografie von General Guisan unter dem gekreuzigten Jesus aufgehängt hatte. Ab und zu schaute der nonkonformistische Volkskundler Sergius Golowin vorbei, eine helvetische Taschenbuchausgabe von Timothy Leary und pries die neuen Wohnformen als Oasen der Bewusstseinserweiterung. Mit Golowin kamen jeweils Gäste, die nur vorübergehend im Matratzenlager schliefen, ein bisschen Sex hatten und dann weiterzogen. Mittlerweile war die Zahl der »neuen Nomaden« im Westen auf über eine Million angewachsen. Sie liebten das Zigeunerleben (damals noch ein positiver Begriff) und verachteten einen festen Wohnsitz als verstocktes Spiessertum. Während in den umliegenden Dorfkinos immer noch »Easy Rider« lief, zogen Jolene und Jamie auf eine abgelegene Tessiner Alp, wo Gleichgesinnte sich im Gras paarten, während nackte Kinder von Geissen abgeleckt wurden. Weder den Geissen noch den Kleinkindern setzte man Grenzen. Erziehung galt als Folter, Sex mit einer festen Partnerin war reaktionär. Zur Abwechslung gab es auch Geissen und Kinder auf dem Berg. Das wurde erst 20 Jahre später publik, aber da einigen der pädophilen Grünalternativen der Marsch durch die Institutionen gelungen war, wehte in den Redaktionsstuben mittlerweile der Duft von Che Guevaras exklusiven Montecristo Zigarren.

    Was den Tessiner Behörden nicht gelang, schaffte 1983 eine neuartige Krankheit: Aids. Der Tod raffte viele dahin. Bobby Wilson war damals zehn Jahre alt. Jolene und Jamie zogen nach Basel, weil sie dachten, dort würde man die beste medizinische Behandlung kriegen. Beide hatten sich mit HIV infiziert. Bobby Wilson besuchte die Schulen in Basel. Da er bisher mit seinen Eltern nur englisch gesprochen hatte, war die Integration schwierig. Er hatte später die eine oder andere Liebschaft, eine feste Partnerschaft hatte sich nie ergeben, sowas kannte er nur aus dem Kino. Er war durchaus auf der Suche nach etwas, aber er hatte keinen blassen Schimmer, was dieses Etwas hätte sein können. Dreissig Jahre später hatte er einen Plan. Jeder Mensch hat einen Plan, bis er eins in die Fresse kriegt. Zum Beispiel die Faust von Pote Valdez. Und das ist die Geschichte eines Mannes, der Gutes tun wollte.

    3

    Alles begann an einem Aprilmorgen um Viertel nach neun. Es war kurz vor Bobby Wilsons fünfzigstem Geburtstag. Das ist kein einfaches Alter, man entdeckt unter der Dusche das erste weisse Schamhaar, beim Pinkeln kommt stets noch ein Abschiedstropfen, man legt an Gewicht zu, obwohl man seine Essgewohnheiten nicht geändert hat und der Zahnarzt empfiehlt eine Gesamtsanierung. Fuck! – war sein tägliches Vaterunser geworden. Nach ein paar Flüchen fühlte er sich jeweils besser.

    Bobby Wilson betrat an jenem Morgen wie üblich die kleine Online-Redaktion im Untergeschoss des Basler Postillon am unteren Rheinufer. Die Elsässerin Solange Crevoisier, die in die Jahre gekommene Einkäuferin von People-Content, war mit ihrem iPad beschäftigt und spielte »Candy Crash«. Seit Wochen biss sie sich an Level 179 die letzten Zähne aus. Vor zwanzig Jahren war sie Bobby Wilson beim Firmenessen noch liebevoll über das lange Haar gestrichen und hatte geflüstert, er sehe aus wie ein Barockengel. Aber seit der Engel Haare und Flügel verloren hatte, waren die beiden nur noch gute Kollegen. John, der bärtige Lokalredakteur, eine Chimäre aus Reinhold Messner und Karl Marx, sass mit grimmigem Blick beim Fenster und überprüfte die Online-Kommentare der Leserschaft. Eigentlich hiess er Johannes, nannte sich aber trotz seines heroisch zelebrierten Antiamerikanismus John, weil er das cooler fand und ein bisschen wie John Lennon klang. Er war etwas jünger als Bobby Wilson. Seine zusammengekniffenen Augen liessen keinen Zweifel daran, dass das Gewicht der kapitalistischen Welt auf seinen Schultern lastet. Eigentlich hatte er nur zwei Gesichtsausdrücke, einen mit Brille und einen ohne Brille. Die war riesengross und hatte schwarze Ränder. Das verstrubbelte Haar bedeckte er auch im Sommer mit einem speckig filzigen Barett, das an Che Guevara erinnerte. Wahrscheinlich zierte der Marlboro Mann der Linken ein vergilbtes Poster auf seinem Klo. Die Stimmung im Hause hatte an jenem Morgen durchaus Steigerungspotential. Melancholie lag in der Luft, denn die Tage des lokalen Online-Mediums waren gezählt. Das einstige Paradepferd des linken Establishments war als Printzeitung gestartet und nach und nach zu einem Ackergaul verkommen. Da kaum einer ein Zeitungsabo gelöst hatte, weil Geiz so geil war, hatte man einen Teil der gedruckten Auflage jeweils kostenlos am Flughafen abgegeben, was japanische Touristen nur beschränkt begeistert hatte. Die WEMF AG für Werbemedienforschung hatte ihre Auflagenbeglaubigung revidiert, die Zahlen nach unten geschraubt und der Printausgabe den Garaus gemacht. Es waren ausgerechnet die milliardenschweren Nachkommen der Basler Pharmaindustrie, die nun die Online-Ausgabe jener kosmopolitischen Salonrevolutionäre finanzierten, die ihre Gönner eigentlich enteignen wollten. Doch wenn journalistische Beiträge so voraussehbar waren wie Publikationen der Zeugen Jehovas, stösst auch die palliative Hilfe an ihre Grenzen. Vor einigen Wochen schloss sich deshalb das Redaktionskomitee mit ähnlichen Bonsai-Medien in Zürich und Bern zusammen. Der Input sollte ab nächstem Jahr aus Zürich geliefert werden, in Basel blieb nur noch eine Rubrik für die Regionalberichterstattung. Die wiederum wollte man Freelancern übertragen, die das 16. Lebensjahr überschritten hatten. Für die Auflösung des Basler Postillon hatte man eine Tatortreinigerin aus Berlin verpflichtet: Dr. Malika Meinhof, noch keine 24, aber jung, weiblich und mit Migrationshintergrund. Sie betrat an jenem Morgen selbstbewusst und voller Tatendrang das Untergeschoss und setzte sich demonstrativ auf Bobby Wilsons Schreibtisch, um ein bisschen Dominanz zu demonstrieren. Wir kennen das aus dem Tierreich. Letzte Woche hatte sie sich kurz der Redaktion vorgestellt. Sie hatte an der Universität Bayreuth Anglophone Literaturen studiert und in London mit einer Arbeit über Feminismus in der nigerianischen Literatur promoviert. Ihre aktuelle Forschung, die sie in Zürich weiterbetreiben wollte, betrafen Postkolonialität, Intersektionalität mit Schwerpunkt auf Narrationen von Migration, Diversität, Weisssein und Widerstand. Aber ihre Kernkompetenz waren ihre tagesaktuellen sexuellen Präferenzen, die eigentlich niemanden interessierten, aber die sie stolz vortrug, als hätte sie die Olympischen Spiele im Alleingang gewonnen und würde jetzt Immunität auf Lebenszeit geniessen. Malika war keine Liebhaberin langer Einführungen: »Schnitzel ohne festen Wohnsitz«, begann sie und fixierte Wilson streng, »was zum Teufel hast du dir dabei gedacht?«

    »Dass ich genau noch acht Minuten habe, um eine lustige Formulierung zu finden. Oder hätte dir Zigeunerschnitzel besser gefallen?«

    »Niemand findet das lustig, Bobby.« Malika schüttelte unwirsch den Kopf. Wilson warf Solange einen irritierten Blick zu und hoffte auf Unterstützung, doch die Elsässerin tat so, als lese sie auf ihrem Monitor gerade einen besonders interessanten Bericht über einen Yak-Hirten der im tibetischen Hochland von einem Yeti verfolgt worden war. Auch John gab sich beschäftigt und versuchte ein hämisches Grinsen zu unterdrücken. Er kratzte sich wie üblich am Hinterkopf. Wilson schien, Johns Beweglichkeit im rechten Schultergelenk hatte erneut nachgelassen.

    »Das ist einfach primitiv, Bobby, der klassische Rassismus alter, weisser Männer«, belehrte ihn Malika, »so was gibt’s bei uns nicht.«

    »Ich muss ihr leider recht geben«, schleimte John, »es gab wieder einen Shitstorm, ich musste sogar die Kommentarfunktion ausschalten.« Wie ein braver Junge schaute er zu Malika hoch.

    »John sollte die Kommentare gleich selber verfassen, Malika.«

    »Bobby, du sitzt da und klopfst deine blöden Sprüche, ich hingegen bin der Zentrale in Zürich verantwortlich.«

    »Ist ja schon gut Malika, slow down, als meine Mutter in deinem Alter war, galt der Zigeunerlook als Synonym der Freiheit. Nur Spiesser hatten einen festen Wohnsitz. On the road again and fuck around the world and Sex & Drugs and Rock’n’Roll.«

    »Bobby«, unterbrach Malika unwirsch, »Woodstock, das ist schon eine Weile her, heute sind die Menschen sensibler, die meisten jedenfalls.«

    »Okay, Malika, wie kann ich das wieder gutmachen?«

    »Lass dir was einfallen.«

    »Ich könnte mir ein Büssergewand ausleihen und in den Roma-Camps im Elsass den Müll wegräumen, den unsere Mitmenschen ohne festen Wohnsitz hinterlassen haben.«

    Malika atmete tief durch und sagte, sie erwarte noch vor Mittag einen konstruktiven Vorschlag. »Bobby, wir wollen nicht noch mehr Abonnenten verlieren.«

    »Ihr habt noch welche?«

    »Wir müssen Geld verdienen, damit wir Leute wie dich noch bis Ende Jahr bezahlen können.«

    »Sorry, Malika, sorry, I am not sorry.«

    »Du machst es mir einfach, Bobby, eigentlich wollten wir dich auf Ende Jahr entlassen, aber du bist jetzt ab sofort freigestellt.«

    Darauf war Wilson nicht vorbereitet: »Und meine Humorseite, meine Kreuzworträtsel?«

    »Wird nächstes Jahr eh alles zentral in Zürich erstellt«, sagte Malika, »wir kaufen das im Paket ein für alle Satellitenblätter.«

    Es war Malika offenbar ernst. Wilson begriff, dass er soeben den Job verloren hatte, das einzige Standbein, das ihm seit zwanzig Jahren monatlich ein fixes Einkommen sicherte. Malika verstand, dass Wilson nun ein Problem hatte, aber sie schaute ihm regungslos in die Augen, weil sie dachte, das sei professionell.

    »Bobby, ich gehöre nicht zu den Menschen, die den Gang zum Zahnarzt aufschieben. Wir verschwenden unsere Zeit. Du bist ab sofort freigestellt und kriegst noch drei Monatslöhne plus Ferientage.«

    »Ab sofort freigestellt?«, wiederholte Bobby Wilson ungläubig.

    »Ja, Bobby, du nützt dem Verlag mehr, wenn du zu Hause bleibst.«

    »Darf ich wenigstens noch das Klo benützen, bevor ich gehe?«

    »Für das Administrative wendest du dich an Solange.«

    »Scheissen ist kein administrativer Vorgang, Malika …«

    Sie lief einfach davon. Wilson rief ihr nach: »Und ich dachte, du willst mir zum Geburtstag gratulieren!«

    »Happy Birthday, Bobby.« Sie öffnete die Tür zum Flur.

    »Dann werden die Leute in Zukunft ein ironiefreies Wochenende erleben! Wie sollen sie bloss all die Sonntage überleben? Mit Saufen, Bumsen und Kiffen?«

    Malika blieb stehen und drehte sich nochmals um: »Bobby, nimm es so wie es ist, ich habe in fünf Minuten Sitzung. Es ist vorbei. Sorry, I am not sorry.«

    »Wozu haben wir diese ganze Scheissdiskussion geführt, wenn eh klar war, dass in Zukunft Zürich alle Satellitenblätter …«

    Malika hatte das Büro bereits verlassen. John kraulte verlegen seinen Bart, Solange zog theatralisch ihr Gesicht in die Länge: »Ich fand die Kolumne lustig, Schnitzel ohne festen Wohnsitz, aber …« Sie unterdrückte ein Lachen.

    »Er hat schon bessere Kolumnen geschrieben«, mischte sich John ein, ohne von seinem Bildschirm aufzuschauen.

    »Immerhin« scherzte Wilson, »gibst du endlich zu, dass ich auch gute Kolumnen geschrieben habe.«

    »Ich sagte bessere, nicht gute.«

    »Vertragt euch wieder, wir wollen doch nicht so auseinandergehen.«

    »Ich kanns kaum erwarten, dann muss ich mir seine blöden Sprüche nicht mehr anhören«, brach es aus John heraus, »ich habe mich oft gefragt, was ihm in Australien über die Leber gekrochen ist, dass er als Stinkstiefel zurückgekommen ist.«

    »Mein Sabbatical war vor zehn Jahren, da bist du an der Uni gerade durch die Prüfung gefallen.« John war nicht besonders schlagfertig, zum Prügeln fehlten Mut und Kraft, so beschränkte er sich darauf, Wilson den Stinkefinger zu zeigen.

    »Das kommt in etwa hin, seit zehn Jahren spielst du hier in der Redaktion den Kotzbrocken.«

    »Hört endlich auf«, rief Solange dazwischen, »es ist bald vorbei. Aber John hat schon recht, Bobby, Australien hat dich verändert, ich weiss auch nicht, was da passiert ist.«

    »Die Midlife-Crisis, Solange«, vermutete John, »vielleicht ist ihm die Freundin davongelaufen.«

    »Oh«, machte Wilson, »du liest jetzt Sachbücher, Psychologie für Dummies?«

    »Lasst uns in Frieden das Jahr beenden«, versuchte es Solange erneut. Nach einer Weile fragte John: »Was wirst du jetzt tun, Solange?«

    Jetzt schien er plötzlich verunsichert, »was wird aus uns?«

    »Jetzt spricht er plötzlich von uns«, zwinkerte Wilson Solange zu.

    »John«, antwortete Solange mit leuchtenden Augen, »ich werde frühpensioniert. Ich werde mit dem Glacier Express von Zermatt nach St. Moritz fahren, mir ein leckeres 5-Gang-Menue servieren lassen, dazu ein Glas Prosecco, imposante Gebirgslandschaften geniessen, wandern, die Schweiz hat grossartige Berge und Seen, und den Winter verbringe ich in Thailand. Ich werde alles auf Facebook posten.«

    John verwarf die Hände: »Und ich? In diesem Alter findet man keinen Job mehr? Wir sollten einen Protestbrief nach Zürich schicken!« Er schaut hilflos zu Wilson hoch.

    »John, steck dir deinen Protestbrief irgendwohin, wo die Sonne nicht hin scheint.«

    John wandte sich an

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