Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Heidi, Hellebarden & Hollywood: Die Praesens-Film-Story
Heidi, Hellebarden & Hollywood: Die Praesens-Film-Story
Heidi, Hellebarden & Hollywood: Die Praesens-Film-Story
eBook565 Seiten6 Stunden

Heidi, Hellebarden & Hollywood: Die Praesens-Film-Story

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Wer kennt sie noch? Praesens-Film-Hits wie «Wachtmeister Studer», «Gilberte de Gourgenay», «Die letzte Chance», «Heidi» oder «Es geschah am hellichten Tag»? Von 100 Jahren Praesens-Film AG – von 1924 bis 2024 – erzählt dieses Buch. Wer waren ihre Gründer, ihre Stars, wie gelang es Praesens-Film, einerseits Dialekt-Filme für jene von Schweizer Kulturschaffenden seit jeher beklagte «Enge» zu fabrizieren, andererseits mit Hollywood anzubandeln, um Oscar-prämierte Schweizer Filme in die ganze Welt zu verkaufen?
Der Fokus des Buchs liegt auf Lazar Wechsler, dem Gründer von Praesens-Film. Er war 1914 als Flüchtling in Zürich gestrandet und wurde Eidgenosse. Hier baute er die Produktionsgesellschaft auf, aus der die zentralen Akteure des alten Schweizer Films hervorgehen sollten. Nicht wenige dieser kreativen Geister waren jüdische Exilanten, die sich aus Nazi-Deutschland in die Schweiz gerettet hatten. Von Lazar Wechsler engagiert, waren diese Antifaschisten massgeblich für den Kinoerfolg der Praesens-Dialekt-Filme verantwortlich, die zu Kriegszeiten identitätspolitisch so wichtig waren. Ironischerweise waren es so ausgerechnet kosmopolitische Exilanten, die an der sogenannten «geistigen Landesverteidigung» mitwirkten – und einen Beitrag leisteten, der bis heute in aktuellen neutralitätspolitischen Debatten um den «Sonderfall Schweiz» nachhallt. Dies ist nur eines der vielen Beispiele, die zeigen, wie die Verwerfungen des 20. Jahrhunderts in die Praesens-Filme und ihre wechselvollen Produktionsgeschichten eingeschrieben sind. Mit ihnen gibt das Buch einen unterhaltsamen und einzigartigen Einblick in ein ganzes Jahrhundert sozialer, technischer, kultureller, wirtschaftlicher und politischer Umwälzungen.
SpracheDeutsch
HerausgeberNZZ Libro
Erscheinungsdatum11. Dez. 2023
ISBN9783907396384
Heidi, Hellebarden & Hollywood: Die Praesens-Film-Story

Ähnlich wie Heidi, Hellebarden & Hollywood

Ähnliche E-Books

Geschichte für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Heidi, Hellebarden & Hollywood

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Heidi, Hellebarden & Hollywood - Benedikt Eppenberger

    Praeteritum

    (1923–1939)

    Zwei Schweizer Himmelstürmer

    Sonntag, 8. Juli 1923. Kurz vor Mittag überflog Walter Mittelholzer mit seinen beiden Gefährten im Junkers-Eindecker die Gletscherlandschaften bei Spitzbergen. Der arktische Himmel wölbte sich blau, die Maschine lag ruhig in der Luft. Die Bedingungen für Foto- und Filmaufnahmen waren ideal. Mit dabei bei der Spitzbergen-Mission hatte der Bäckerssohn aus St. Gallen nicht nur seine bewährten Fotoapparate, auch ein Goerz-Hahn-Kinoapparat befand sich an Bord. Der bekannte Schweizer Flieger und Fotograf wollte fürs Publikum festhalten, dass sich aus der Höhe, wie er später schreiben wird, «mit einem Mal alles umfassen lässt, die Erde ein neues Antlitz, der Mensch ein neues, vollkommeneres Auge gewonnen hat».¹

    Der am 2. April 1894 Geborene hatte es weit gebracht; bis nach Spitzbergen, aufgeboten als Mitglied einer Versorgungsequipe für eine neue Rekordmission des Südpolbezwingers Roald Amundsen. Wenn ihn jetzt der Vater sehen könnte. Jener Vater, der wollte, dass er seine Bäckerei übernimmt, und deshalb nichts übrighatte für die Zukunftspläne des Sohns. Der Junior aber wollte nach Zürich, um dort Fotograf zu werden. Nicht dass es Walter Mittelholzer an kaufmännischem Geschick gefehlt hätte; bloss, der Sinn war ihm nicht nach kleinen Brötchen. Er wollte höher hinaus, nicht nur als Fotograf. Er träumte davon, wie der legendäre Toggenburger Ballonflieger und Fotograf Eduard Spelterini Bilder aus Himmelshöhe herab zu schiessen.

    Am 28. Juli 1914 – Mittelholzer war bereits in Zürich – brach in Europa der grosse Krieg los, ein grauenhaftes Stahlgewitter, in dem Millionen den Tod finden würden. Die Eidgenossenschaft blieb zwar verschont, das Geschehen auf und neben Europas Schlachtfeldern hatte gleichwohl grossen Einfluss auf das Leben der Menschen in der Schweiz. Nach der Generalmobilmachung befand sich ein Grossteil der Männer in der Armee. Sie fehlten so in den Fabriken und auf den Höfen, wo nun die Frauen übernahmen. Die Schweiz stellte auf Kriegswirtschaft um, etwas, das es seit Gründung des Bundesstaats 1848 nicht gegeben hatte. Wer gehofft hatte, die Bewährungsprobe sei mit Appellen an die mythische eidgenössische Solidaritätsformel zu bewältigen, sah sich getäuscht: Wie überall verschärften sich mit Fortgang der Schlachterei auch in der Schweiz die Klassengegensätze. Die Folge war soziale Unrast, was eine Entwicklung in Gang setzte, die zunehmend schwieriger zu kontrollieren war.

    Für Mittelholzer, der damals in Dübendorf die Rekrutenschule absolvierte, brachten die Entwicklungen weniger Elend als vielmehr die endgültige Befreiung aus der kleinbürgerlichen Lebenswelt des Vaters. Befeuert durch die Kriegsmaschinerie erfuhren der Flugzeugbau, die Fotografie und der Film weltweit Entwicklungsschübe, wie sie in Friedenszeiten undenkbar gewesen wären. Der militärischen Luftaufklärung wurde nun hohe Dringlichkeit zugemessen, und bald schon sass Fotograf Mittelholzer, der seinen Dienst gleich neben der kurz zuvor gegründeten Schweizer Luftwaffe tat, in einem Flugapparat, um aus 1000 Metern Höhe Manöverstellungen bei Horgen zu fotografieren. Auf diesem Flug fand Mittelholzer zu seiner Berufung: fliegen und gleichzeitig aus Vogelperspektive die Welt unter sich festhalten. Nach dem Friedensschluss 1918 und der Demobilisierung der Schweizer Armee war Unteroffizier Mittelholzer nicht bloss Leiter der fotografischen Abteilung der Fliegertruppe; er besass auch die Zulassung als Zivilpilot.

    Abb. 2: Walter Mittelholzer im Dienst der Schweizer Luftwaffe, 1917.

    Die Schweiz verfügte zu Beginn des Kriegs über keine stehende Luftwaffe, sodass die Piloten 1914 mit ihren privaten Flugapparaten hatten einrücken müssen, die sie nun nach Dienstentlassung wieder mit nach Hause nahmen. Weil sie jetzt auch im Zivilleben weiterfliegen wollten, sprossen private Fluggesellschaften wie Pilze aus dem Boden. Die 1919 von Mittelholzer zusammen mit seinem Fluglehrer Alfred Comte gegründete Comte, Mittelholzer & Co. Aero beschränkte sich aber nicht auf Personen- und Warentransporte. Zusätzlich bot die «Luftbildverlagsanstalt» Bilder aus Vogelperspektive. 1920 schlossen sich Mittelholzer-Comte mit einem finanzkräftigeren Konkurrenten zusammen, um als «Ad Astra Areo» neuen, zahlungskräftigen Kundenschichten entgegenzufliegen.

    Der Griff nach den Sternen blieb aus. Die Wirtschaft steckte nach dem Krieg in der Krise, die Geschäfte liefen schlecht. Es war allein Mittelholzers Luftfotografie, die den Laden über Wasser hielt. Seine Künste waren gefragt, denn die auf das Kriegsende folgende wirtschaftliche und soziale Neustrukturierung hatte bei Industrie und Behörden die Nachfrage nach genauer Erfassung des Schweizer Raums markant gesteigert. Und weil er in die Zukunft dachte, testete Mittelholzer bald auch die Eignung von Filmapparaten für Luftaufnahmen. 1919 markierte Alpenflug über das Oberengadin und die Bernina seinen Einstieg ins Filmgeschäft.

    1923 ging es dann über die Landesgrenze hinaus nach Spitzbergen, wo sein Pilot die Maschine am frühen Nachmittag des 8. Juli knapp über das Eismeer sinken liess. Der Schweizer richtete die Kamera auf das Scherbenmuster, das die schwimmenden Eisschollen auf der Wasseroberfläche bilden. Der Blick auf diese unbekannten Landschaften wühlte Mittelholzer auf. Worte allein konnten die Erhabenheit des Augenblicks nur schlecht beschreiben. Das mussten Bilder tun, bewegte Bilder. Die Aufnahmen boten zwar nur einen Abglanz, aber Mittelholzer wusste um die Wirkung. «Wenn dann zu Hause beim magischen roten Lichte der Dunkelkammerlampe, die geschaute und erlebte Pracht und Herrlichkeit […] langsam, allmählich in schwarz und weissen Umrissen wieder lineare Gestalt annehmen, dann leben die Erinnerungen wieder aufs Neue auf; inhaltreiche Vergangenheit wird zur beglückenden Gegenwart.»²

    Den Film drehte der Schweizer im Auftrag des deutschen Flugzeugbauers Junkers, der den zu Werbezwecken unternommenen, später gescheiterten Versuch, den Nordpol zu überfliegen, dokumentieren sollte. Dabei fühlte sich Mittelholzer dem Flugzeugbauer besonders verpflichtet, hatte Junkers doch 50 Prozent der in finanziellen Nöten steckenden Ad Astra Aero übernommen und die Gesellschaft so gerettet.

    Mit der Ad-Astra-Beteiligung hatte sich Junkers aber mehr als die fotografischen Talente Mittelholzers gesichert; ihr Hauptinteresse galt dem Austesten neuer Maschinen unter Extrembedingungen. Da aber solche Tests dem Weltkriegsverlierer laut Versailler Vertrag untersagt waren, lagerten die Deutschen die Forschung in die Schweiz aus. Damit aber stand Ad Astra Aero nicht allein, denn sie tat, was andere Schweizer Firmen wie Oerlikon-Bührle oder Dornier Altenrhein längst betrieben: geheime Offshore-Rüstungsforschung im Dienst Deutschlands. Eingefädelt hatte den Deal der Schwiegersohn des Schweizer Weltkriegsgenerals Ulrich Wille, Seidenfabrikant Edwin Schwarzenbach, der im Verwaltungsrat der Ad Astra Aero sass und mit dem Spitzbergen-Auftrag dem damals bereits populären Schweizer Fliegerhelden einen Weg gewiesen hatte, wie man unter dem Dach abenteuerlich-glamouröser Filmerei weitere Geschäftsfelder unauffällig miteinander verbinden konnte.

    In der Folge stellten auch Fokkers und Dornier Mittelholzer Maschinen zur Verfügung, deren Flugtauglichkeit beim Überqueren verschiedener Klimazonen getestet wurde. Zugleich sollte der Schweizer einen weiteren exotischen Abenteuerfilm herstellen, um den Namen Mittelholzer auch ins Kinotheater zu tragen, was wiederum positiv auf Ad Astra Aero als bewährte Schweizer Zivilfluggesellschaft abfärben würde. Nach der Spitzbergen-Mission prangte dann bald das weisse Kreuz auf rotem Grund auf den Maschinen, was Mittelholzer zum Botschafter einer Schweiz machte, die friedfertig mit der ganzen Welt ins Geschäft kommen will.

    Bei Im Junkersflugzeug über Spitzbergen spielte der Schweizer noch die zweite Geige, denn der Film gehörte seinem Auftraggeber. Dieser konnte dann mit dem spektakulären Dokumentarfilm im Kino nicht nur weltweit Werbung für Junkers-Flugmaschinen machen; er verdiente zusätzlich gutes Geld mit dem Verkauf des Films an die Filmgesellschaft UFA. Gut möglich, dass sich Mittelholzer in diesem Moment überlegte, wie er in Zukunft seine Reisereportagen in Eigenregie herstellen und verwerten könnte.

    Nicht nur in Spitzbergen, auch in Zürich bricht am 8. Juli 1923 die Sonne durch die Wolken. Dies, nachdem die Limmatstadt den kühlsten Monat Juni seit Menschengedenken erlebt hat. Im Kinotheater Orient wurden an diesem Sonntag Reiseabenteuer gezeigt: Kapitän Barkleys Abenteuer und Der Liebe Pilgerfahrt. «Nur für Erwachsene!» gab’s Im Glutrausch der Sinne, während sich Eltern mit Anhang mit dem beliebten Hollywood-Cowboy Hoot Gibson in Das Erbe der Ranch vergnügen konnten.

    Ob sich in Zürich auch ein gewisser Lazar Wechsler an diesem Tag von solchen Kinoverheissungen mitreissen liess? Der junge Familienvater war zwar nicht wie viele der 100 000 arbeitslosen Schweizer unmittelbar von Armut bedroht, haushälterisch mussten die Wechslers dennoch leben, denn die Krise konnte auch ihn von heute auf morgen ins Elend stürzen. Möglich also, dass sich ETH-Diplomingenieur Wechsler im Frühsommer 1923 den Einstieg ins Kinogeschäft zu überlegen begann.

    Wechsler lebte zu diesem Zeitpunkt bereits seit neun Jahren in Zürich, wohin er nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Dezember 1914, zusammen mit der Mutter und seinem vier Jahre älteren Bruder Wladyslaw Wolf, gekommen war. Zugezogen war die Familie Wechsler damals aus dem Städtchen Petrikau (heute: Piotrków Trybunalski), das im Gebiet des seit 1815 geteilten Polen lag, das Teil des russischen Zarenreichs war.

    Hier war Lazar Linsor Wechsler am 28. Juni 1896 als Sohn der Hanna Schoschka und dem aus Galizien stammenden österreichischen Juden Joseph Wechsler geboren worden. Die Mutter war eine geborene Gorowitz. Durch Assimilation ins Bürgertum aufgestiegen, genossen die Gorowitz’ mehr Respekt als ihre in jüdischen Siedlungen auf dem Land oder städtischen Ghettos lebenden mausarmen Glaubensgenossen. Als der Vater, ein erfolgreicher Händler, 1900 starb, war Lazar erst vier Jahre alt. Das verbliebene Vermögen ermöglichte es der Mutter aber, die drei Brüder allein aufzuziehen.

    Durch die Frontstellung der beiden Vielvölkerreiche Russland und Österreich-Ungarn wurde nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs die Nationalität für die beidseits der Grenzen lebenden jüdischen Bevölkerung zur Existenzfrage. Hanna Schoschka Wechsler besass die russische Staatsbürgerschaft – ihre Söhne waren durch den Vater Österreicher. Volljährig geworden, wechselte der älteste der drei Brüder, Simon Wechsler, 1909 zur Nationalität der Mutter und wurde Russe. Als am 28. Juli 1914 der Krieg ausbrach, war absehbar, dass der Erstgeborene in die Armee des Zaren eingezogen würde. Lazar Wechsler, knapp zwei Monate vor Kriegsbeginn 18 geworden, lief Gefahr, für Österreich ins Feld ziehen zu müssen. Die Möglichkeit vor Augen, dass ihre drei Söhne gezwungen sein könnten, aufeinander zu schiessen, entschloss sich Hanna Schoschka Wechsler zur Flucht. Als Lazar Wechsler am 8. Dezember 1914 die Schweizer Grenze überschritt, war er auf dem Papier zwar österreichischer Staatsbürger, faktisch aber heimatlos geworden. Ursprünglich sollte Zürich bloss Zwischenetappe sein. Doch die Familie blieb und richtete sich in der Schweiz ein.

    Vom Kriegsgeschehen war die Eidgenossenschaft nicht direkt betroffen, und doch berührte die Ablösung der alten imperialen Ordnung Europas durch aggressive Nationalismen auch die Schweiz, die ihr Selbstverständnis als mehrsprachiger neutraler Kleinstaat infrage gestellt sah. Seit der Generalmobilmachung standen die Schweizer Soldaten an der Grenze und verharrten in neutraler Abwehrhaltung.

    Das gefiel dem deutschfreundlichen General der Schweizer Armee Ulrich Wille nicht. Der wollte mitdreschen im Nationenwettbewerb und drängte deshalb auf einen Kriegseintritt an der Seite des deutschen Kaiserreichs. Damit entfachte er in der deutschen Schweiz keine Euphorie; im französisch- und italienischsprachigen Teil des Landes, wo man mit Frankreich und später mit Italien sympathisierte, stiess Willes Germanophilie auf entschiedenen Widerstand. Ein Patt stellte sich ein, in dem sich die unterschiedlichen Fraktionen in Militär, Wirtschaft und Politik gegenseitig neutralisierten.

    Ein Auslandsabenteuer konnte damit zwar verhindert werden. Im Innern setzten sich Wille & Co. mit dem bereits vor dem Krieg begonnenen Umbau der ungeordneten Milizarmee in eine straff geführte «Schule der Nation» gleichwohl durch. Und über diese wurde die Militarisierung der ganzen Gesellschaft vorangetrieben. So wie in der Armee sollten alle Schweizer, unabhängig von Herkunftskanton, Klasse und Religion, vereint der Nation als höchstem Ideal zudienen. Der Appell liess den jungen Flieger Mittelholzer nicht unberührt: «Ich wollte Flieger werden, war entschlossen, mein junges Blut einer Sache zu weihen. Als Flieger wollte ich dem Land dienen, mit dem mich Abstammung und Liebe unzertrennlich verband.»³

    Ohne Weiteres aber liess sich die neue Heimat der Wechslers nicht in einen nationalen Taumel versetzen, und die Schweiz profilierte sich – obwohl auch hierzulande die wachsenden sozialen Gegensätze den Zusammenhalt gefährdeten – während des Kriegs erfolgreich als neutrale Drehscheibe im internationalen Handel. Man sah sich als «Sonderfall», der, während die umliegenden Nationen ihren völkischen Exzeptionalismus in Blutbädern feierten, der Schweiz den Titel einer freiheitlichfriedlichen «Willensnation» einbrachte.

    Weltkriegsflüchtlinge schätzten deshalb das Land als sicheren Hafen, wo, wie der Österreicher Stefan Zweig in seinem Roman «Die Welt von gestern» schrieb, zivilisiert über das Gemeinsame, nicht Trennende gestritten wurde: «Nie mehr ist mir ein vielfarbigeres und leidenschaftlicheres Gemenge von Meinungen und Menschen so konzentrierter und gleichsam dampfender Form begegnet als in diesen Züricher Tagen oder vielmehr Nächten. […] Man lebte in Zeitungen, in Nachrichten und Gerüchten, in Meinungen, in Auseinandersetzungen. Und sonderbar: man lebte geistig den Krieg hier eigentlich intensiver mit als in der kriegsführenden Heimat, weil sich das Problem gleichsam objektiviert und vom nationalen Interesse an Sieg oder Niederlage völlig losgelöst hatte. Man sah ihn von keinem politischen Standpunkt mehr, vielmehr vom europäischen als ein grausames und gewaltiges Geschehnis, das nicht nur ein paar Grenzlinien auf der Landkarte, vielmehr Form und Zukunft unserer Welt verwandeln sollte.»

    Es bot sich so den Wechslers, die als Juden mit dem erwachenden völkischen Denken und dem Nationalismus in ihren Herkunftsländern in Konflikt geraten waren, in Zürich mit seinen liberalen Bildungsinstitutionen eine solide Grundlage für den Neuanfang. Im Unterschied zu seiner Mutter, die nach dem Krieg in den neu gegründeten polnischen Staat zurückkehrte, schlug Lazar Wechsler schnell Wurzeln in Zürich. Die Beziehung zu der Schweizerin Amalie Tschudi, die Geburt des gemeinsamen Sohns David 1918 sowie die 1919 erfolgte Heirat stärkten die Bande, ebenso das im selben Jahr mit einem Diplom als Brückeningenieur beendete Studium an der Eidgenössischen Technischen Hochschule, mit dem er seine Eignung als Eidgenosse zusätzlich unterstrich. In seinem Bewerbungsschreiben für den Schweizer Pass 1923 hiess es deshalb auch: «Ich [bewerbe] mich um das hohe Schweizerbürgerrecht nur aus moralischen Gründen. Ich habe mich dem Leben und den Sitten der Schweiz vollkommen angepasst, da ich in den Jahren nach hier kam, wo die Empfindungen und Eindrücke auf den Menschen den lebhaftesten und stärksten Eindruck ausüben und wo sich die Mentalität den Menschen in den Verhältnissen in denen er lebt entwickelt und ausbildet. Ich besitze einen gültigen polnischen Pass […] meinem Fühlen und Denken nach bin ich jedoch mehr Schweizer als Pole, umso mehr ich meine Existenz hier aufgebaut habe.»

    Abb. 3: Lazar Wechsler, 1910er-Jahre, Zürich.

    Darüber, was Lazar Wechsler neben dem Ingenieurstudium zwischen 1914 und 1918 in Zürich trieb, ist wenig bekannt. Kolportiert wird eine Episode aus der Anfangszeit, als er – weil ihn die Mutter finanziell an kurzer Leine hielt – auf der Strasse englische Regenmäntel an den Mann zu bringen versuchte. Besser verdiente er als Nachhilfelehrer an der Minerva-Schule, und 1919, gleich nachdem er sein ETH-Diplom erhalten hatte, stieg er als Leiter in der Putzfadenfabrik Tschudi, Bianchi & Co in Glattbrugg ein. Als die Fabrik kurz darauf in Konkurs ging, übernahm er die bankrotte Unternehmung und führte den Betrieb in seinem Namen weiter. Wie aber reagierte der Jungunternehmer auf die nach dem Krieg einsetzende dramatische Verarmung breiter Schweizer Bevölkerungsschichten? Wie dachte Lazar Wechsler politisch? Er, der die Weltkriegszeit in derselben kleinräumigen Stadt verbracht hatte wie der Revolutionär Wladimir Iljitsch Lenin, der irische Schriftsteller James Joyce oder Dada-Gründer Hugo Ball? Wie war seine Reaktion auf den Generalstreik kurz nach Kriegsende 1918 gewesen, der nicht nur einen vom Schweizer Bundesrat befohlenen blutigen Armee-Einsatz zur Folge hatte, sondern auch den Antikommunismus zur Kernideologie des Schweizers Bürgertums machte? Wie reagierte Wechsler auf den Antisemitismus, der auch in der Schweiz als rassistisch-nationale Allzweckwaffe zur Einigung der eingesessenen Bevölkerung immer grössere Bedeutung gewann?

    1923, neun Jahre nach seiner Ankunft in Zürich, wurde aus dem Flüchtling Lazar Wechsler ein Schweizer. Automatischen Zugang zum exklusiven Zürcher Wirtschaftsadel gewährte ihm der neue Pass keineswegs, denn dieser sah es nicht gern, wenn das im Heiligenschein helvetischer Neutralität prosperierende Geschäft von «artfremder Konkurrenz» herausgefordert wurde. Dass er mit der Übernahme der Putzfadenfabrik Arbeitsplätze gerettet hatte, half ihm bei der Einbürgerung, das Metier aber bot wohl zu wenig Sicherheit und Aufstiegsmöglichkeiten, weshalb er sein Tätigkeitsfeld ausdehnte. Dass er sich 1924 für den Film entschied, hing auf der einen Seite mit dem Desinteresse einheimischer Unternehmer am Kinogeschäft sowie andererseits mit seinen Kontakten zu Chiel Weissmann (1883–1973), einem anderen aus Osteuropa zugezogenen Juden, zusammen.

    Die Kinobranche hatte sich seit der ersten kommerziellen Filmvorführung 1895 rasant entwickelt. Nicht nur in Westeuropa und den USA, weltweit waren die Vorführungen kurzer Filmstreifen äusserst populär, denn das Kino brachte billige Unterhaltung für jedermann. Bereits 1907 entstanden in der Schweiz die ersten festen Kinotheater, die die wie ein Wanderzirkus tingelnden frühen Abspielstätten ablösten. Im gleichen Jahr erhielt die Stadt Zürich mit dem Kino Radium im Niederdorf einen ersten festen Saal. In diesem wurde das gespielt, was der Betreiber über französische, deutsche und, ab 1915 verstärkt, auch über Hollywoodproduzenten bzw. über ihre Schweizer Vertreter bezog.

    Chiel Weissmann, seine Frau und die zwei Kinder waren während des Ersten Weltkriegs ebenfalls von Galizien zunächst nach Wien gekommen. Hier fand der kaufmännisch gewiefte Chiel schnell Arbeit in einer Bank, die auch in den expandierenden deutsch-österreichischen Filmmarkt investierte, etwas, was seit der Sesshaftwerdung der ehemals migranten Filmvorführer lukrativer erschein. Der Kinobesuch war zum alltäglichen Vergnügen geworden und begann das schlechte Image einer reinen Proletenunterhaltung abzuschütteln. Bildungsbürger begaben sich allerdings weiterhin bloss ausnahmsweise ins Kinotheater, denn glaubte man zeitgenössischen Kulturwächtern, gingen hauptsächlich «Dirnen und ihnen affiliierte Kreise» ins Zürcher Kino Radium.

    Die Filmproduktion, der Verleih und auch der Betrieb von Kinotheatern galt unter grossbürgerlichen Industriekapitänen als unseriös, weshalb sie das Geschäft – vorläufig – den Emporkömmlingen und jüdischen Unternehmern überliessen. So konnten sich diese in der wenig reglementierten Branche der internationalen Unterhaltungsindustrie mit wenig Kapital und etwas wirtschaftlichem Geschick ein eigenes Unternehmen aufbauen.

    Als Chiel 1915 von der Wiener Bank ins Filmgeschäft wechselte, hatte die Gründereuphorie bereits etwas nachgelassen. Mitten im Krieg hatte sich der Markt zwischen lokalen etablierten Filmproduzenten, Filmverleihern und Kinobetreibern eingespielt; noch immer aber regelte man viele Geschäfte in Wildwestmanier und es bestanden weiter Freiräume für risikofreudige Einsteiger. Im September 1916 folgte die Übersiedlung der Familie Weissmann nach Zürich, wo der Patron bereits von Wien aus Kontakte zur lokalen Filmwirtschaft geknüpft hatte. Dort übernahm er nach einiger Zeit die Zürcher Filiale der «Münchner Lichtspielkunst», abgekürzt Emelka, die ab 1920 als Produzentin mit eigenem bayrischem Studiokomplex mächtig an Bedeutung gewann. Mit Emelka-Filmen verfügte Weissmann in Zürich über Kassenrenner, um die sich Schweizer Kinobetreiber rissen. Ihm gehörte auch in Zürich das Kino Radium, wodurch er sein Geschäft diversifiziert und seine Stellung weiter gefestigt hatte. Weissmann hatte es geschafft und war so für den befreundeten Wechsler zum Vorbild geworden.

    1923 brachte nicht nur für Walter Mittelholzer und Lazar Wechsler den Neuanfang. Nach der nach Kriegsende eingebrochenen Wirtschaft, dem Generalstreik und der Spanischen Grippe kehrte die Schweiz nach fünf Katastrophenjahren allmählich ins bürgerliche Alltagsleben zurück. Davon zeugte auch, dass es den bürgerlichen Parteien im Dezember 1922 gelungen war, die von den Sozialdemokraten eingebrachte «Vermögensinitiative» bei einer historischen Stimmbeteiligung von 86 Prozent mit 87 Prozent Nein zu bodigen. Mit viel Aufwand hatte die Gewinnerseite die Bevölkerung mit antikommunistischer Propaganda überflutet und konnten nach dem gewaltigen Nein die Sozialdemokraten als «von Moskau gesteuerte vaterlandslose Gesellen» diffamieren. Die Bürgerlichen gerierten sich gleichzeitig als Retter vor dem internationalen Kommunismus.

    So beruhigte sich 1923 die Lage in der Schweiz im Unterschied zu Deutschland, das zunehmend unter hoher Inflation, massiver Arbeitslosigkeit und blutigen Kämpfen zwischen Links und Rechts litt. Angehende Unternehmen schauten in der Schweiz in der zweiten Jahreshälfte mit einiger Zuversicht in die Zukunft. Von Chiel Weissmanns Beispiel inspiriert, ging Wechsler 1924 in die Offensive, um mit mickrigen 10 000 Franken in der Zürcher Filmwelt Fuss zu fassen.

    (Be-)Werbung für die Schweiz

    Wer genau die neue Firma wann und weshalb auf den Namen «Praesens-Film AG» taufte, ist nicht überliefert. Doch der Name stand, als die Firma am 14. März 1924 offiziell ins Zürcher Handelsregister eingetragen wird, mit dem Unternehmenszweck: «Produktion von Reklame- und Industriefilmen». Produktionsräumlichkeiten: Lazar Wechslers Wohnung an der Moussonstrasse 22 in Zürich.

    Der Name «Praesens» kann als früher Hinweis auf die Orientierung der Firmenideologie am eidgenössisch Konsensuellen, aufs Schweizerisch Solide gelten. Was klingt fester, sauberer, unverdächtiger als P-R-A-E-S-E-N-S? Weder wollte Wechsler wie die Futuristen alles revolutionieren oder aber wie die Traditionalisten alles bewahren; als guter Liberaler wollte er in einer Zukunft versprechenden Branche reüssieren, um damit sowohl seinen wie auch den Wohlstand seiner neuen Heimat mehren.

    Nicht um Bescheidenheit bemüht, betrieb Adolf Hitler im selben März 1924 – nach seinem missglückten Putschversuch – vor einem Münchner Gericht Imagewerbung mit Kraftmeierparolen, die die Überwindung der miserablen Gegenwart versprachen. Grössenwahnsinnig dachte zu jener Zeit in Deutschland nicht bloss der Führer der NSDAP, der rechtsextremen Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei, sondern mit ihm auch Filmproduzenten, Regisseure und manche ihrer Stars. In der brodelnden Metropole Berlin hatte sich die deutsche Filmindustrie zu einer der weltweit innovativsten, produktivsten und grössten überhaupt entwickelt. Die in der Hauptstadt ansässigen Studios zogen Talente aus der ganzen Welt an und es entstanden Filme, die Grenzen sprengten und auch gestalterisch Wege in die Zukunft wiesen.

    Davon konnte in der Schweiz keine Rede sein. Hierzulande stellten, wie seit den Anfängen auf dem Rummelplatz, noch immer zahllose, meist kurzlebige kleine Produktionsgesellschaften stumme Kurzfilme her. Zu sehen kriegte das Publikum dabei Auftritte von halbwegs Prominenten, Ereignisse wie Volksfeste und Militärparaden, aber auch immer wieder Szenen aus dem Alltagsleben. Während sich anderswo das Kinogeschäft mit grossem Tempo entwickelte und international vernetzte, erreichten Neuerungen die Schweiz bloss im Zeitlupentempo. Weder entstanden grössere Produktionseinheiten noch wurden, wie in den USA, Deutschland oder Frankreich, professionelle Studios errichtet, in denen ausgebildete Techniker, Produzenten, Autoren, Schauspieler und Regisseure immer komplexer montierte Stummfilme mit Spielhandlungen hätten herstellen können. Wenig erstaunlich deshalb, dass der erste Film über das Leben des Schweizer Nationalhelden Wilhelm Tell 1923 eine deutsche Produktion war.

    Als Reaktion auf diese kulturelle Aneignung sammelte eine Gruppe heimatliebender Kino-Enthusiasten um den konservativen welschen Publizisten Gonzague de Reynold 1924 Geld für einen inländischen Tell-Film mit dem Titel Die Entstehung der Eidgenossenschaft. Schaffen wollte man nichts weniger als ein identifikationstaugliches «nationales Kunstwerk», das die Macher in Dimensionen planten, die zusätzliche Geldmittel aus dem Ausland erforderten. Um den Eindruck zu vermeiden, «fremde Fötzel» hätten dabei Einfluss genommen, trieb man den Fehlbetrag bei heimwehkranken US-Auslandschweizern auf. Kaum überraschend endete der Versuch einer «national schweizerischen Grossproduktion» dann als künstlerisches und finanzielles Debakel. Es fehlten in der Schweiz die risikofreudigen Geldgeber, fähigen Filmtechniker, bekannten Stars – ganz einfach die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Spielfilmproduktion dieser Grösse.

    Die Gründung einer international konkurrenzfähigen Schweizer Filmproduktionsgesellschaft stand für Lazar Wechsler mit seiner sehr dünnen Kapitaldecke von Beginn weg ausser Frage. Aber auch der Betrieb eines festen Kinotheaters war nicht angezeigt. Dafür buhlten auf dem Platz Zürich bereits zu viele finanziell besser gerüstete Kinotheaterbesitzer um die Publikumsgunst. Nicht wenige von ihnen waren im bereits 1915 gegründeten Schweizerischen Lichtspieltheaterverband organisiert. Die Erfolgreichsten vermochten zudem jene Verleiher mit den attraktivsten Filmtiteln an sich zu binden. Die Neueinsteiger wurden dagegen mit wertlosem Filmramsch abgespeist. Für eine mögliche Karriere als Verleiher ausländischer Filme – die überwältigende Zahl der in Schweizer Kinotheatern gezeigten Langfilme waren ausländischer Provenienz – fehlten dem Branchenneuling die Beziehungen. So entschied sich Wechsler schliesslich, mit seiner Firma billige Industrie- und Reklamefilme herzustellen und damit in einen noch weitgehend unerschlossenen Bereich des Kinogeschäfts vorzustossen.

    Entgegen kam Wechsler dabei der Umstand, dass, seitdem die Laufzeit von Spiel- und Reportagefilmen auf abendfüllende Länge angewachsen war, sich ein steigender Bedarf nach Vorab-Werbefilmen bzw. kurzen dokumentarischen Nachrichtenstreifen abzeichnete. Überdies heizte 1923 der Entscheid der Basler Mustermesse, zukünftig kurze Industriefilme zuzulassen, die Nachfrage weiter an. Die Zahl und Qualität der im Inland zumeist von Einmannbetrieben hergestellten Reklamefilme war noch zu klein, als dass man von einem funktionierenden Wettbewerb zwischen verschiedenen Anbietern hätte sprechen können. Als Wechsler im Februar 1924 in seiner Wohnung einen ersten Versuchsfilm produzierte, reichte demnach wenig, um die Konkurrenz gleich von Beginn weg aus dem Weg zu räumen.

    Reklamefilm Nr. 1, den er für den Schweizer Vertreiber von «Batschari-Zigaretten» herstellte, war, gemessen selbst an den lausigen Standards seiner Konkurrenten, keine Topleistung. Wechsler hatte an einen mit aufreizenden exotischen Tänzerinnen bespielten Filmschnipsel aus Weissmanns Emelka-Fundus folgende Botschaft angeklebt: «Wenn Sie immer wieder orientalischen Zauber erleben wollen, dann rauchen sie Batschari-Zigaretten.»⁷ Der erste Kinotheaterbetreiber, der sich zur Projektion in seinem Saal bereit erklärte, blieb auch der einzige. Dass sich das Batschari-Flickwerk für Praesens-Film schliesslich doch auszahlte, rührte daher, dass Wechsler auf der Suche nach einer Kamera für die Textaufnahmen auf Walter Mittelholzer traf. Der Neuling überzeugte das filmende Fliegerass davon, mit Geld als Teilhaber bei Praesens-Film einzusteigen und ihm seine Kamera künftig ausserhalb Fliegerfilmerei zur Herstellung von Werbung zu überlassen.

    Der Einstieg Mittelholzers brachte Praesens-Film früh einen gewaltigen Prestigezuwachs. Nicht nur wurde die magere Kapitaldecke der Firma aufgestockt; der St. Galler stellte mit seiner Kamera auch dringend benötigte Produktionsmittel zur Verfügung. Die Firma erhielt so die Gelegenheit, mit dem Namen eines blitzsauberen Schweizer Stars zu werben. Mehr noch: Dessen zukünftige Reisefilme würde Praesens in die ganze Welt verleihen können. Mittelholzer profitierte im Gegenzug davon, Montage, Vermarktung und den Vertrieb seiner Reisedokumentarfilme zukünftig an die gemeinsame Firma delegieren zu können.

    So gewann er Zeit für die Ad Astra Aero und konnte zudem Planung und Vermarktung zukünftiger Flugabenteuer besser steuern. Am Horizont nämlich zeichnete sich im Herbst 1924 bereits ein neuer Auftrag des deutschen Flugzeugbauers Junkers ab, der Mittelholzer mit der Überführung einer Maschine nach Teheran zu beauftragen beabsichtigte. Dadurch, dass der Name Mittelholzer nun mit jenem von Praesens-Film verbunden war, übertrug sich auch jene als typisch schweizerisch angesehene Rechtschaffenheit auf Wechslers Firma. Mittelholzer balancierte perfekt zwischen vertrauenswürdig-bodenständig und risikofreudig-zukunftsweisend, sodass er, oder besser: seine Medienfigur, zum idealen Repräsentanten jenes erstaunlichen Kleinstaats wurde, den die ganze Welt bewunderte. Praesens-Film startete demnach mit mehr als Schall und Batschari-Rauch: Sie verliebte sich in die «Sonderfall-Schweiz».

    Die Fähigkeit, in der Enge Grösse zu gewinnen, mochte Wechsler untertags auf dem Boden halten; des Nachts aber hob der Direktor zu grossen Träumen ab. Wie für viele Juden aus Osteuropa war sein Wunschland Amerika, jenes verheissungsvolle Eden, wo jeder sich neu erfinden, es mit Fleiss und Ideenreichtum ganz nach oben schaffen konnte. Wechsler war in Zürich sesshaft geworden, seinen naiven Glauben an das gelobte Land aber gab er nicht auf: Der American Dream blieb, wie sich zeigen sollte, lebenslang ein wichtiger Leitstern. Zufall oder Fügung? Zwei Monate nach Gründung von Praesens-Film entstand mit Metro-Goldwyn-Mayer jenes glamouröse Hollywoodstudio, das bei der Propagierung des American Way of Life eine zentrale Rolle spielen sollte. Der berühmte MGM-Löwe brüllte am 17. Mai 1924 zum ersten Mal. Es war der Tag, an dem Marcus Loew, Besitzer des US-Kino-Imperiums Loews-Theatres, drei vordem getrennt arbeitende Hollywoodstudios zu «Metro-Goldwyn-Mayer» fusionierte. Leiter des neuen Studios wurde Louis B. Mayer, der, wie Wechsler, ursprünglich Lazar hiess und, wie dieser, als Sohn jüdischer Eltern im russischen Zarenreich geboren worden war.

    So wie Louis B. Mayer mit amerikanischem Exzeptionalismus warb, sollte es bald Lazar Wechsler mit dem «Sonderfall Schweiz» nachtun. Dabei galt es zunächst auszuloten, wie amerikanisch-modern auch in der konservativen Schweiz geworben werden konnte. So schrill und aufdringlich wie bei den Yankees? Eine 1928 durchgeführte US-Studie hatte gezeigt, dass der Durchschnittsschweizer zwar bodenständig, gleichzeitig aber überraschend offen für Produktwerbung à l’américaine war. Solches zeichnete sich seit Mitte der 1920er-Jahre ab, als man die polarisierende Weltkriegs- und Generalstreikerfahrung allmählich hinter sich gelassen hatte und hoffnungsvoller in die Zukunft blickte.

    Wechsler hatte wohl früh erkannt, dass der Durchschnittsschweizer «Amerikanisierung» nicht reflexartig mit seelenlosem Materialismus und plutokratischem Geldscheffeln gleichsetzte. Vielmehr glaubten auch die Schweizer, dass ihnen Werbung und Wettbewerb einen besseren Zugang zu den begehrten Konsumgütern verschaffen könnten: Konservatives Beharrungsvermögen und kommerzielle Innovationskraft schlossen sich demnach nicht aus. Es schien, als verständigte man sich über die Klassengrenzen auf einen «schweizerischen» Weg in die moderne Massengesellschaft. Auf althergebrachte Weise wuchsen Schweizer Gesellschaft, Wirtschaft und Politik zu einer Nation zusammen, die, so der Glaube, in Europa ein vom Glück begünstigter «Sonderfall» war.

    Während Wechsler daranging, seine Kinoaktivitäten auszuweiten, blieb nördlich des Rheins, im weiterhin von Arbeitslosigkeit und Hyperinflation gebeutelten Nachkriegsdeutschland, die Kritik an der ersten Demokratie auf deutschem Boden laut und aggressiv. Die 1918 auf den Ruinen des Kaiserreichs entstandene Weimarer Republik litt bis 1923 noch unter bürgerkriegsähnlichen Wirren, die es nahezu verunmöglichten, effektive Krisenbewältigungspolitik zu betreiben. Von allen reaktionären Parteien und Paramilitärs waren die radikalen Deutschnationalen (von denen sich Teile 1920 zur NSDAP zusammengeschlossen hatten) am eifrigsten daran, das Fundament der jungen Republik zu zerstören.

    Ausschalten wollte die NSDAP ausnahmslos alle unter dem parlamentarischen Dach der Demokratie organisierten Kräfte: Sozialdemokraten, gemässigte Konservative, bürgerlich Liberale – all jene Kräfte, die gemäss Naziparolen nach dem schmachvollen Versailler Friedensschluss mit der Einführung der Demokratie und der Einbindung in die liberale Weltwirtschaft das deutsche Volk zur «volksfremden» Vermischung von Kulturen und Rassen gezwungen hatten. Ausgelöscht werden sollten vor allem auch die internationalistisch gesinnten Kommunisten, die auf den Trümmern der Nationen eine klassenlose Gesellschaft zu errichten gedachten.

    Um zum «organischen Volksganzen» zurückzukehren, formulierte Adolf Hitler eine aggressive Rassen- und Volksideologie, die auf absolute Weise zwischen Freund und Feind trennte, heisst: nicht verhandelbar war. In seinem 1925 erschienenen ideologischen Manifest «Mein Kampf» beschrieb er die Antipoden internationaler Kommunismus und liberaler Kapitalismus als von einer einzigen, seit Jahrtausenden auf die Vernichtung der deutschen Rasse ausgerichteten finsteren Macht gelenkt: den Juden.

    Dieser biologisch-rassische Antisemitismus hatte zwar auch in der Schweiz Anhänger; noch aber dominierte hierzulande das Feindbild des umherziehenden Wucher- und Krämerjuden, dessen verführerisches Geschäftsgebaren Bauern, Handwerker und Proleten ins Elend stürzte. Gerede dieser Art kochte zuverlässig hoch, wann immer der Erfolg eines jüdischen Mitbürgers Neid hervorrief und auf die Ausnutzung «unschweizerischer» und deshalb unmoralischer Geschäftemacherei zurückgeführt wurde.

    Spätestens seit in den USA der Antisemit und Erzkapitalist Henry Ford 1921 in einem Pamphlet die alten Klischees auf die erfolgreichen jüdischen Gründer der Hollywoodstudios anwandte, geriet das junge Medium Film in den Ruch, von jüdischen Kapitalisten zur Verführung der Massen missbraucht zu werden. Henry Ford: «Kaum hatten die Juden den ‹Film› in ihre Hände bekommen, hatten wir ein Problem mit dem Film, dessen Folgen noch nicht sichtbar sind. Es ist das Genie dieser Rasse, in allen Geschäftsbereichen, in denen sie die Mehrheit gewinnen, moralische Probleme schaffen.»

    In den USA erhöhten solche Behauptungen auf jüdische Studiobosse, Produzenten, Regisseure, Drehbuchschreiber sowie Schauspielerinnen und Schauspieler den Rechtsfertigungsdruck, was bei vielen dazu führte, dass sie ihre jüdische Herkunft leugneten und sich amerikanischer gaben als nichtjüdische Amerikaner. Ihre Überidentifikation mit dem American Way of Life machte sie in den Augen der Mehrheitsgesellschaft aber erst recht verdächtig: ein Teufelskreis, aus dem es kein Entrinnen gab. In der Schweiz wurden solche Gerüchte vorläufig bloss hinter vorgehaltener Hand ausgesprochen. Konservative Anti-Kino-Aktivisten aber verbanden ihre Kritik am verderblichen Charakter des Mediums immer öfter mit antisemitischen Klischees, wodurch sich Wechsler vorerst nicht wirklich beirren liess.

    Inzwischen unternahm Kameramann Walter Mittelholzer eine weitere «Kulturreise» für Junkers, deren Maschine er im Herbst 1924 nach Teheran überführte. Im Dokumentarfilm Mittelholzers Persienflug sowie im gleichzeitig publizierten gleichnamigen Reisebuch etablierte er 1926 im Titel seinen Namen ein erstes Mal als Marke. Dieses Branding erhöhte die Aufmerksamkeit auch für die Praesens-Film, die als Verleiherin der Reisefilme in der ganzen Schweiz bekannt wurde. Noch zahlte sich die Popularität Mittelholzers beim Persienflug-Film nicht aus – das Buch verkaufte sich weit besser –, wichtiger aber war zu sehen, dass die beiden Alphamänner ihre eigenen Pläne, unabhängig voneinander, verfolgen konnten.

    Während der fliegende Superstar Filme drehte und für die Zivilluftfahrt Werbung machte, platzierte Lazar Wechsler in Personalunion pausenlos Reklamefilme. Trotz schlappen Auftakts mit Batschari nahm die Herstellung von Auftragsfilmen Fahrt auf, und bald schon verfertigten er und sein allmählich wachsender Mitarbeitertross Filmreklame, so für Tobler, Gilette, Gaba, PKZ und Sunlight.

    Dabei gelang es ihm mit seiner qualitativ immer besseren Ware, auch immer mehr Kinotheaterbesitzer für sich zu gewinnen. Unentwegt kabelte Wechsler mit den Betreibern der grössten Schweizer Kinosäle. Zuletzt, unbemerkt von der Konkurrenz, hatte er ein Netz aufgespannt, in dem die massgebenden Kinotheaterbesitzer in den Werbemarkt integriert waren. Alle Grossen der Branche hatte Wechsler vertraglich verpflichtet, exklusiv ausschliesslich Reklamefilme von Praesens-Film in ihren Sälen zu zeigen. Seinen Auftraggebern konnte Wechsler so garantieren, dass ihre Produkte regelmässig zu einer bestimmten Zeit – so auch vor Filmen mit zugkräftigen Stars – beworben wurden.

    Abb. 4: Praesens-Film-Firmenlogo bis ca. 1926.

    Mit Verhandlungstalent und Insistenz hatte es Wechsler bis 1927 geschafft, sich in der Nische «Reklame- und Industriefilme» als Monopolist zu etablieren, um

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1