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Strauchdiebe
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eBook471 Seiten7 Stunden

Strauchdiebe

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Über dieses E-Book

Zeitgeschichte mal etwas anders. Die siebziger und achtziger Jahre, wie man sie selten sieht. Ein Axiom ist ein als absolut richtig erkannter Grundsatz. In dieser Geschichte wird die Philosophie von Donald Duck erläutert, nach der sich die Menschen in Glückspilze und Unglückswürmer einteilen lassen.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum16. Juli 2015
ISBN9783738033991
Strauchdiebe

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    Buchvorschau

    Strauchdiebe - Leon Pattik

    Titel

    Leon P.

    Strauchdiebe

    Schwanks" aus meinem Leben

    Roman

    Copyright im Jahr n. Chr. MMXV by Leon Pattik

    Alle Rechte vorbehalten.

    Vervielfältung oder Kopie, auch in Auszügen, nur mit Zustimmung des Autors.

    Photograpie und Titelbild Copyright by Leon Pattik

    Kontakt: leonpattik@schachkunst.eu

    Widmung

    Für Jutta

    Die Geschichten in diesem Buch sind nicht ganz frei erfunden.

    Oder doch?

    Schreibt nicht das Leben die verrücktesten Geschichten?

    Sollten Namen oder Ereignisse in diesem Roman mit real existierenden Personen, Orten oder Begebenheiten übereinstimmen, ist das der pure Zufall.

    Prolog, quasi

    Musiktitel: T.Rex – 20th Century Boy

    Donald Duck hat einmal gesagt:

    »Auf dieser Welt gibt es Glückspilze und Unglückswürmer. Und ich bin eben ein Unglückswurm.«

    Zugegeben, der gute Donnie genießt in Philosophenkreisen nicht gerade die vollfette Reputation. Verkannt, verkannt, sage ich dazu. Total.

    Und nicht nur er gehört zu dieser Gattung Weichtiere, lateinisch Lumbricus infortinum, die bedauerlicherweise bisher nicht im Artenverzeichnis klassifiziert worden ist, sondern auch ich. Und dieses wird hier mit ein paar Geschichten bewiesen.

    Also, das ist jetzt hier ein Vorwort, der Prolog quasi. Die Schwanks aus meinem Leben, wie es ein Freund ausdrückte, ereignen sich in einem Zeitraum von ein paar Jahren. Für mich persönlich war diese Zeit ganz entscheidend prägend, Ende der Siebziger beginnend und in den achtziger Jahren wieder endend.

    Ich füge einen Zeitspiegel mit eventuell relevanten Ereignissen hinzu. Das soll ein bisschen bei der Orientierung helfen, welche Zeitgenossen damals, jetzt hätte ich beinahe gesagt, kreuchten und fleuchten. Die möglicherweise einen Einfluss gehabt haben.

    Diese Jahre waren für mein Empfinden eine ganz besondere, eigene Zeit. Wahrscheinlich sind das alle Jahrzehnte im Rückblick gesehen, aber damals war ich halt jünger und das ist eben anders als älter, körperlich zumindest.

    Mein Donald, beziehungsweise Micky Maus, Fix & Foxi, Asterix, Spiderman und Co wurden damals immer noch Schundhefte genannt und von den häuslichen Autoritäten gerne mal heimlich entsorgt, um mich vor zu viel Lebensweisheit zu bewahren. Bei den Ducks ist nämlich genau das der Inhalt. Es sind viel, viel mehr als nur bunte Bildergeschichten. Dort kann man unglaubliche Abenteuer lesen, voll menschlicher Weisheit, wobei ich natürlich von dem Erzähler Carl Barks spreche, der damals einfach nur ‚der gute Zeichner’ hieß.

    Wie gerne wäre ich ein Familienmitglied gewesen, wie sehr habe ich mir noch zwei Zwillingsbrüder gewünscht. Dann hätte mich wenigstens noch jemand verstanden und ich wäre nicht so allein. Tja, Donald hätte zu meinem Sehnsüchten wohl nur ein einziges Wort gesagt: »Seufz.«

    Ein junger Mann mit langen Haaren bedeutete damals für die Einen das Coolste und für Andere das rote Tuch. Obwohl sogar die ganze Nationalmannschaft, die der Fußballer meine ich, langhaarig rumliefen und nicht nur der Netzer. Die Musik dieser Zeit, auch wenn sie teilweise bereits Oldies geworden waren wie die Stones, The Doors, Jimi Hendrix, The Who, Genesis, Jethro Tull, Led Zeppelin, Yes, Gentle Giant und so weiter, ja sogar die Beatles wurden als ‚Negermusik’ bezeichnet. Mein Vater jedenfalls tat es.

    Zum Vorwort gehört in meinem Fall noch eine Leseanweisung. Als Vorschrift ist’s jetzt aber nicht gemeint, ich schreibe niemandem etwas vor. Sagen wir Hinweis. Bei Anweisung, da würde ich sofort allergisch reagieren, es soll eine Anregung sein. Um vielleicht ein bisschen vom innewohnenden Feeling zu erhaschen, habe ich einen dazu passenden Musiktitel rausgesucht. Der zwar ungefähr zeitbezogen ist, aber nicht immer absolut exakt aus diesem Jahr stammt. Schließlich habe ich viele Lieder oft selbst erst nach einer Weile entdeckt, als Spätentwickler sozusagen.

    Diese ausgesuchten Melodien beziehen sich auf die Gemütslage des Inhalts. Musik kann tiefste Empfindungen freisetzen, von happy bis traurig und darüber hinaus. Jedenfalls bei mir. Sogar bis hin zu Glücksgefühlen, die gefüllt sind mit verzweifelter, hoffnungsloser Einsamkeit. Klingt leicht schizophren, ich weiß.

    Natürlich nicht immer, hängt von der Stimmung und dem Lied ab, beziehungsweise ist es eine Wechselwirkung. Yes singt im gleichnamigen Album: Inside out – Outside in – Perpetual Change.

    Was ich damit sagen will: Ein sehr gutes Lied bewegt, berührt, erreicht einen zutiefst innen, die Seele vielleicht. Mir jedenfalls ist Musik immer extrem wichtig gewesen. Meine Freunde und ich haben uns über unseren Musikgeschmack definiert und genau genommen ist dieser Text gar kein Roman, sondern ein Soundtrack mit Begleittext.

    Meine Affinität zu Pop- und Rockmusik begann etwa mit elf, zwölf Jahren und den Platten von meiner Schwester, sowie ihren Tonbändern, die sie vom Radio aufgenommen hatte. Eines Tages fielen mir diese in die Hände. Das sollte wohl Schicksal, Fügung sein, oder etwas in der Art. Die Mutter hörte zuhause meistens im Radio Kanal eins, der brachte Schlager, deutsche Schlager, also Folter pur und der Vadder, tja. Der arbeitete. Eigentlich rund um die Uhr. Wahrscheinlich hat er Musik am ehesten als eine Art unerwünschter Lärm empfunden.

    Mich dagegen faszinieren alle möglichen Melodien endlos. Ich staune immer wieder, wie sehr mich neue und auch alte Lieder emotional aufwühlen können. Übrigens gibt es innerhalb einer Oktave 123 Quintillarden möglicher Notenkombinationen, ziemlich viele also. Es ist eine Zahl mit dreiunddreißig Nullen.

    Die ausgesuchten Songs haben mich sehr angesprochen. In der hier beschriebenen Zeit kam zum Etablierten die sogenannte New Wave Musik dazu. Ebenfalls Lieder mit deutschen Texten, die man aber plötzlich sogar anhören konnte. Sie wurden als neue deutsche Welle bezeichnet und diese beiden brachen über mich herein wie ein Tsunami.

    Aktuelle Musik spiegelt ja auch immer den Zeitgeist wieder, ist sozusagen zu den jeweiligen Begebenheiten kompatibel, aber jetzt wird’s philosophisch, also einfach mal ganz kurz – wer mag, kann ja mal reinhören.

    Was ich vielleicht noch erwähnen sollte, die große Mehrzahl des Erzählten ist nicht aus den Fingern gesaugt, sondern wirklich geschehen. Ich korrigiere jetzt, ungefähr so abgelaufen. Ungefähr deshalb, weil ich festgestellt habe, dass Menschen, die mit dabei gewesen sind, sogar daran beteiligt, sich an die gleiche Geschichte ganz anders erinnern. Subjektives Erleben und so, in der Fachsprache Konstruktivismus genannt.

    Nichtsdestotrotz gilt: Sollten Namen und Ereignisse mit realen Personen und Ereignissen übereinstimmen, wäre das rein zufällig.

    Teil 1 Leis und Fleh

    1.

    1966 beginnt die Kulturrevolution mit einer Versammlung von Studenten unter der Leitung Mao Tse-tungs auf dem Platz des himmlischen Friedens in Peking. Walt Disney stirbt. Woody Allen schreibt das Theaterstück ‚Mach’s noch einmal, Sam’. Die Beatles spielen in San Francisco ihr letztes öffentliches Konzert. Frankreich zieht sich aus der militärischen Integration der NATO zurück und zündet auf Mururoa seine erste Atombombe. Bei internationalen Sportwettkämpfen werden Dopingkontrollen eingeführt. Eric Clapton gründet zusammen mit Ginger Baker und Jack Bruce die Gruppe Cream. Doktor Schiwago kommt in die Kinos. Die Hare-Krishna-Bewegung entsteht. Sophie Marceau und Stefan Raab werden geboren. Star Trek flimmert zum ersten Mal im amerikanischen Fernsehen.

    The Monkees – A Little Bit Me, A Little Bit You

    Widmen wir uns dem Thema Unglückswurm: Zuallererst fällt mir ein Beispiel ein, als wir noch Pimpfe waren, in die Volksschule gingen, die Nachbarskinder und ich. Die Zeit Mittespät Sechzig, der Ort hinter der Baracke am Ende der Straße, die als Kindergarten diente. Reini sprengte diesen Scheißhaufen mit einem China-Kracher, während wir ums Karee zogen. Richtig verboten, das Ganze eigentlich. Kleine Kinder durften gar keine Knaller haben. Nicht mal Judenförz. So hießen diese kleinen Miniteile, die zu einer Kette gebunden, damals von uns auseinandergepopelt und gezündet wurden. Einzeln sahen sie wie Mini-Dynamitstangen aus. Wir kapierten gar nicht, was es bedeutet, das mit den Juden. Ich jedenfalls null. Ich dachte zuerst, es heißt Judo. Fragte mich, was Judo mit Furzen zu tun hatte und warum es dann knallt. Uns ging‘s ja nur um den Spaß, um die Aufregung. Anzünden und flüchten. Der Rest war vollkommen egal.

    Gut, um zurück zu kommen: Ein China war quasi das Beste, das wir ergattern konnten. Der Fladen: Ein riesiger, ekliger, hellbrauner, fast wie von einer Kuh. In dem Fall aber von so einem großen Pissköter. In diesen steckte Reini den Kracher. Bevor irgendjemand auch nur etwas schnallte.

    Ich schrie noch: »Weg, weg, alle, weg, schnell!«, da knallte es bereits. Und dann regnete es Scheiße. Wirklich. Kleine bis große Fetzen. Richtig echt widerlich, in den Haaren und überall. Eigentlich zählt das jetzt gar nicht zum Pech, fällt mir grad auf. Weil ja alle getroffen wurden, mehr oder weniger oft. Alle - bis auf Reini, der direkt davor stehen geblieben war, um zuzusehen, wie es den Haufen zerrissen hat.

    Die Volksschule reflektierend fällt mir ein zweites, richtiges Beispiel vom Pech ein: Es begab sich beim alten Geiss. Wahrscheinlich ein alter Nazi. Bei dem mussten alle Kinder im Schulhof in Zweierreihen im Kreis um ihn herumgehen, ganz brav still und leise. Nur beim Geiss, bei niemand anderem. Der Weisnichtmehrwer ärgert mich und rennt weg. Ich hinterher, den Frechen kauf ich mir. Wir hatten einfach nicht mitbekommen, dass gerade gehorsamer Schulhof zelebriert wird. Ich renne wie blöd, habe ihn fast, sehe plötzlich die hohen Beine, denke, auweia, der Geiss, da schlägt es auch bereits ein. Im wahrsten Sinn. Sein Rohrstock zieht voll durch, knallt in den Buckel. Mir bleibt die Luft weg, auf die Fresse haut‘s mich, ewig keine Luft. Ich dachte, ich muss verrecken. Aber damit kennen sich die Nazis ja gut aus, mit dem Verrecken, meine ich und na ja, Pech eben. Der andere kam ja, kurz vor mir, noch am Geiss vorbei. Ungestraft.

    1969 startet die erste Boeing 747 zum Versuchsflug. In den USA wird Richard Nixon zum Präsidenten vereidigt und Tausende demonstrieren gegen den Krieg in Vietnam. Im Rhein gibt es ein Massenfischsterben durch Einleitung eines Insektizids. Die Maß auf dem Oktoberfest kostet 2,40 DM. In deutschen Kinos läuft „Spiel mir das Lied vom Tod. Elvis Presley veröffentlicht „In The Ghetto, die ZDF Hitparade läuft das erste Mal. In den Schulen wird der Sexualkunde – Atlas eingeführt. Das Woodstock Festival findet statt und der erste Mensch steht auf dem Mond. Michael Schuhmacher wird geboren.

    The Who – Magic Bus

    Ich könnte jetzt noch jammern, weil ich so oft ungerecht behandelt worden bin, wie beispielsweise damals, frisch im Gymnasium. Der Erdkäslehrer erzählt, in dem Tante Emma Supermarkt auf dem Schulweg würden welche klauen. Dabei er steht direkt vor uns, Zweierbank in der Mitte, ganz vorne. Deshalb denke ich erst, das ist normal, wenn er so glotzt. Und er glotzt und glotzt. Die ganze Zeit, glotzt er den Bernd und mich an, glotz, glotz. Ich schaue zurück und denke noch, was glotzt der so. Aber natürlich habe ich mich nichts getraut, war auch einfach zu perplex. Heute würde ich mindestens sagen, ist was? Am liebsten natürlich: »Was glotzt du so, du A...?« Armer Wicht, soll das natürlich heißen.

    Jetzt könnte ich ja zugeben, ja schuldig. Es wäre ja längst verjährt. Aber Bernd und ich waren damals endbrav, gut erzogen hieß das, artig ist das Wort. Unsere Eltern wollten artige Jungs und die besaßen sie. Wir waren niemals in diesem Laden, gingen immer einen anderen Weg. Uns reichte das Erlebnis beim vorbeilaufen. Ein fetter Verkäufer hat diese riesige Ratte mit dem Schneeschieber aus Eisen den Straßengraben entlang gejagt, gestellt und schließlich geköpft. Also, um zurück zu kommen, der blöde Erdkäs erzählte vom Klauen, dass Schüler dort Sachen mitnahmen, ohne zu zahlen. Die wären bekannt und würden gestraft und ich dachte, okay, stehlen darf man ja nicht – und er glotzte und glotzte uns an, dieser dumme Esel. Ich war so doof und kapierte gar nicht, auf was der da rauswollte. Bernd fragte mich danach recht konsterniert, wieso der Erdkäs uns die ganze Zeit angeschaut hatte. Kapiert, was da gelaufen ist, habe ich erst an der Bushaltestelle, auf dem Heimweg. Als die gemeine Karin, so eine naseweise Blonde, die ich bis dahin ganz hübsch fand, schnippisch bemerkte, Süßigkeiten vom Supermarkt mampfend: Gell, das würdest du jetzt auch gerne klauen, was?

    Nehmen wir einmal an, diese zu Unrecht erfolgte Anschuldigung kann jedem passieren. Oder ist schon mal jedem widerfahren. Schließlich in diesem Fall ja auch dem Bernd, ist also demzufolge nichts Außergewöhnliches. Das mag ja sein. Aber er wurde im Anschluss nicht von einem schönen Mädchen verhöhnt, oder? Dazu braucht man mein Pech.

    Schöne Mädchen haben bei mir generell so eine Art Vorab-Bonus. Bei denen bin ich hilflos, wie versteinert und sind sie gemein, dann restlos verdattert. Das liegt vielleicht an Kiki, mit der ich als Atta-Baby spielte, in ihrem Garten mit der komischen, schrägen Mauer, die an einer Stelle so niedrig war, dass man fast darüber steigen konnte. Das sind Bilder von früher, ebenfalls diese unglaublich schönen Augen, groß, mit schwarzem Rand, dann blau, dann heller werdend zur Pupille hin, mit Muster, einfach faszinierend. Ich bekomme es nicht hin, die Beschreibung, merke ich gerade. Dazu bräuchte ich Seiten und es würde letztlich nicht einmal annähernd hinkommen, also tolle Augen einfach. Lieb war sie häufig, manchmal frech. Wir haben uns öfter geneckt und alles Mögliche miteinander unternommen, spielmäßig. Ich merkte gar nicht, dass das ein Mädchen ist. Sie war einfach ein sehr guter Freund. Vermutlich mochte sie mich wirklich und nicht nur, weil unsere Eltern uns zusammen gesteckt haben. In ihre Augen konnte ich bereits damals regelrecht eintauchen. Eine Stimmung drin erkennen. Nur wusste ich oft nicht, welche.

    Das Gesicht zuerst natürlich Klein-Mädel, zwergig mit Grübchen, wenn sie lachte, mit langen Zöpfen, übergroßen Schneidezähnen und so. Später hat sich das normalisiert, verwachsen sagt man wohl, das Unproportionierte, meine ich. Vorpubertär wurde sie kurz mal ein bisschen pummelig. Aber als Teenie, mein lieber Mann, da entwickelte sie sich zu einem sehr hübschen Mädchen.

    Nein mehr. Viel mehr. Traumschön, endschönmäßig. Dazu konnte sie Gesichter machen, nein, trifft es nicht. Also, man beschreibt vielleicht so: Sie besaß ein Mienenspiel, das bereits ein gewöhnliches Gesicht verzaubert hätte. Aber ihres war dazu noch perfekt. Na ja, beinahe. Es gab eine kleine Narbe, fast mittig auf der oberen Stirn. Ich habe nie gefragt woher, muss höllisch weh getan haben. Genau diese Winzigkeiten, die Narbe, der kleine Höcker auf der perfekten Nase, die machten sie so unglaublich schön, dass mir in ihrer Nähe immer ganz anders wurde. Als kleiner Krüppel habe ich das natürlich zunächst nicht gemerkt. Erst viel später.

    1963 unterzeichnen Charles de Gaulle und Konrad Adenauer den sogenannten Elysée – Vertrag zur Zusammenarbeit. Der Erzbischof von Mailand nennt sich nach der Wahl Papst Paul VI. Eröffnung der 963 Meter langen Fehmarnsundbrücke. John F. Kennedy besucht die geteilte Stadt Berlin. Das Wunder von Lengede ereignet sich. Beim legendären Postraub werden in England 2,6 Millionen Pfund geklaut. In Berlin (West) wird erstmals Joghurt in einer Kunststoffverpackung verkauft, die nach dem Verzehr weggeworfen werden kann. Der erfolgreichste Song ist von den Beatles und heißt: ‚She Loves You’. Edith Piaf stirbt mit 48 Jahren in Paris. Jim Clark dominiert und gewinnt die Formel 1.

    The Beatles – I Am The Walrus

    Jetzt fällt mir gerade das Schlimmste ein, was man mir damals angetan hat. Machen wir einen kurzen Zeitsprung. Hoppie, los geht’s zurück, in die frühen Sechziger. Bei mir altersmäßig deutlich vor der Schule. Ich spreche vom Kinderheim am Titisee. Ich war wohl fünf, schätze ich, vielleicht jünger. Das Geschehene hatte ich perfekt verdrängt. Es war absolut, total und vollkommen weg. Erst im Rahmen einer Therapie stieg es hoch. So eine Selbsterfahrungsstory, vielleicht erzähle ich die noch. Erst damals erinnerte ich mich wieder an dieses Erlebte und zwar zunächst wie Emotions-Schnappschüsse. Willkürliche Bilder, die irgendwann Logik bekamen, eine Geschichte formten. Zusammen mit dem Gefühl absoluter Hilflosigkeit, Trauer und unendlicher Einsamkeit. Dazu gemischt, eine irrsinnige Wut.

    Es ist unklar, warum meine Eltern auf diese Idee kamen. Es hieß, ich habe nicht gut gegessen. Verantwortlich war wohl der Unglücksgott. Wer wissen will, wie das damals teilweise ablief, der braucht nur einmal über Kinderheime in den sechziger Jahren zu recherchieren und voilà. Wie lange ich dort gewesen bin, keine Ahnung, für mich gefühlt ewig. Wochen wohl, als Mini kapiert man das ja nicht. Ich konnte zwar bereits heimlich die Uhr lesen, getraut habe ich mich aber nicht, etwas zu sagen, als der andere Junge dafür gelobt wurde. Der war eh älter. Ganz sicher war ich mir nicht, ob ich es wirklich kann. Für mich sah es jedenfalls so aus, als müsste ich für immer dableiben. Die Mama ist für immer weg.

    Meine Mutter hatte die Kleider mit meinen Initialen benäht, damit sie nicht verwechselt werden. Ebenfalls meinen Hobbie. Daran merkt man vielleicht, wie jung ich gewesen bin. Das war ein Plüschtier von Steiff. Es hieß eigentlich Flossie. Meiner nicht, weil ich’s wohl nicht richtig aussprechen konnte. Damals, als ich ihn zum Geburtstag bekam. Den Hobbie, den liebte ich und wie! Der war ganz arg wichtig und wertvoll. Er hat so gut gerochen. Schmusen mit ihm war etwas essentielles, nicht mehr ganz allein sein. Sie nahmen ihn mir weg. Sofort, als allererstes. Diese große, schöne und junge Frau, das ist so ein Bild, legte ihn oben auf den Schrank und sagte, sie schneidet jeden Tag ein Stück von ihm ab, von meinem Hobbie und hat mir sogar das große Messer dafür gezeigt.

    Noch mehr Fotos im Kopf gibt’s, von blöden Spaziergängen, jeden Tag derselbe Weg, an Kuhscheiße hinter Stacheldraht entlang, kreisenden Raubvögeln am Himmel und das Bild einer Kinderschlange vorm Klo. Warum, ich weiß es nicht. Vielleicht durften wir nicht vorher oder wir mussten alle gleichzeitig. Egal, jedenfalls sind da diese wartenden Kinder. Alle juckeln und kneifen, weil sie es kaum aushalten, bis sie endlich dran sind.

    Apropos schiffen. Da kommt ein Bild: Das verpisste Bett, in das ich mich legen musste, gezwungen von dem Lulatsch. Das Leintuch eklig, ganz gelb getrocknet und knallhart. Ich dachte nur, das war ich aber gar nicht. Morgen schneiden sie dafür den Hobbie tot. Eines Abends bekam ich ihn tatsächlich. Dann hat ihn aber gleich ein anderer Großer weggenommen. Ich konnte nichts tun. Der Hobbie tat mir so leid, mit diesem gemeinen Esel zusammen sein müssen. Ich habe geweint, weil er mir den wahrscheinlich kaputt macht, tötet. Und ich nichts, nichts, einfach nichts tun kann, ihm zu helfen. Pech, Unglückswurm eben.

    Dafür gab’s jeden Tag geiles Katzenkotz zu essen. Immer mit Kartoffeln, nur einmal Nudeln. Da hab ich mich zuerst gefreut. Die waren aber dermaßen verkocht, richtig eklig und die Soße, noch ekliger. Dann noch lieber matschige Kartoffeln. Einmal sollte ein Film gezeigt werden. Wir saßen bereits im Kinoraum. Dort hieß es allerdings: Nix da, ihr böse. Warum, wurde mir nie gesagt. Oder ich habe es einfach nicht kapiert. Zu laut reingelaufen vielleicht. Jedenfalls mussten alle wieder raus, mein einziger Kinoabend in dieser Zeit. Der ja nicht stattgefunden hat. Eines Tages holte man mich, setzte mich wohin. In ein Zimmer, wo ich vorher noch nie gewesen bin und es gab Spielsachen. Spielsachen ohne Ende. Später ging es in ein anderes Zimmer. Da saßen meine Eltern in Sesseln und meine Tante Lotti, die hatte ein Auto. Ich ging nicht zu meinem Vater und als es hieß, warum nicht, sagte ich: »Der ist böse.« Und das tut mir heute noch leid.

    1976 lässt sich Idi Amin in Uganda zum Präsidenten auf Lebenszeit ernennen. Die allgemeine Erklärung der Menschenrechte tritt in Kraft. Der neue Ministerpräsident von Kambodscha heißt Pol Pot. In Afrika wird zum ersten Mal eine Ebola Infektion registriert. In Argentinien ergreift das Militär die Macht. Erich Honecker steigt zum Vorsitzenden des Staatsrats der DDR auf. Ulrike Meinhof wird erhängt in ihrer Zelle aufgefunden. Die Concorde fliegt im Linienverkehr. Musik von ABBA und Boney M. erobern die Charts. Die Sex Pistols veröffentlichen Anarchy in the UK, the Ramones den Song Blitzkreig Bob, Elton John hat zusammen mit Kiki Dee den Nr.1 Hit: „Don’t go on breaking my heart" und Rod Steward coverd erfolgreich den Song von Cat Stevens, The First Cut Is The Deepest. Die Damen des FC Bayern München werden Fußballmeister.

    Bruce Springsteen – Spirit In The Night

    Pech haben muss ja nicht immer traurig sein. Ich könnte jetzt mit ‚es war einmal’ anfangen. Sagen wir so: Es begab sich zu der Zeit, als meiner Einer mit der 11d einen Schulausflug ins Elsass machte. Die Jugendherberge, in die wir zogen, befand sich in einem schönen, alten Schloss unterm Dach in – weiß die Stadt nicht mehr. Klang wie Löwenzahn auf Französisch, Pissenlit oder so.

    Der Herbergsvater, Marke Vorgartenzwerg-Nase-ohne-Bart, bekam bereits beim Einchecken einen Schreikrampf, original. In diesem Laden durfte man nämlich gar nichts. Nicht rennen, nicht hüpfen, nicht mal schnell gehen und sich nicht schubsen, mit etwas Lärm. Das war der Auslöser für die Schreipredigt gewesen. Nein, man durfte nur flüstern, sachte und sanft strumpfsockig übers Parkett gleiten, keine Schuhe tragen und leise, leise, vorsichtig, achtsam, weil diese Bruchbude sonst Schaden nimmt, keine Erschütterung vertragend und so. Es war bescheuert, dort Heranwachsende einzuquartieren. Zwergvater Herberg verlangte endartige Jugendliche, am Besten in Zweierreihen, leise, leise. Wohl der kleine Bruder vom Geiss.

    Das Ganze ging gut bis zum Abend. Dann packte Lessi Lässig im Zimmer unseren, damals problemlos zu erstehenden Alkvorrat aus, den er im Kinderkoffer reingeschmuggelt hatte und wir spielten Karten. Im Halbdunkel. Licht gab es ausschließlich von der Schlossbeleuchtung, die Flutlichtanlage für Touries. Herbergszwerg hatte nämlich Punkt zehn, Bettruhe, die Sicherung rausgedreht. Das Dumme dabei, dass es in Deutschland zu dieser Zeit noch gar keine Sommerzeit gab. Die kam erst Jahre später und so tickte unsere Uhr erst Neun bei Licht aus, ins Bett geh, artig, artig.

    Ein Witz. Kein Mensch wurde müde. Im Prinzip eigentlich voll wurscht, wir hatten Gaudi. Pst, leise, leise. Dann musste ich dummerweise aufs Klo. Beziehungsweise, da haben wir’s! Pech Nummer eins. Wer denkt denn an so etwas: Pissen verboten! Und wen stellt der böse alte Gnom auf seiner Patrouille? Mich. Wen sonst? Während es mir beinahe die Blase zerreißt, habe ich die Ehre und den Genuss, mir von einem verkniffenen Hutzelmännchen im Nachthemd die Leviten lesen zu lassen. Bildmäßig fehlt zur absoluten Perfektion nur die Zipfelmütze. Ich höre kaum zu. Eigentlich gar nicht. Der spinnt total, der Alte. Derweil schleichen die Anderen hinter ihm vorbei, aufs Klo. Lachen und lachen, weil es mich erwischt hat, aber natürlich leise, leise.

    Okay, zurück im Zimmer ist klar, wir dürfen nicht mehr raus, also – wer müssen muss, der geht ans Fenster. Flutlichtschiffen in antikem Ambiente. Das Nebenzimmer johlt, der Bourbon fotografiert. Sie fordern uns auf, doch auch mal aus dem Fenster zu scheißen. Ich weiß nicht mehr, wer eigentlich auf die Idee gekommen ist. Wir waren wohl doch etwas prall, zumindest ich.

    Jetzt sind wir beim Pech Nummer zwei. Der Bourbon kommt mit seiner Kamera rüber und wir stellen uns auf, in Positur. Ähnlich einem Fußballteam, nur nackig. Die einen zeigen ihre Schwänze und die anderen heben den Arsch hin, zu denen ich gehöre. Unser Fotograf steht an der Tür, bereit. Aber den Auslöser, den drückt er nie.

    Mit einem Schlag wird’s hell. Blitzmäßig! Hä, denke ich noch. Neben mir ist hektische Bewegung. Ich drehe mich um. Alle anderen sind längst weg, in Lichtgeschwindigkeit in die Betten gehüpft, der Bourbon verschwunden. Es gibt nur noch mich und vorne in der Tür, die Hand noch am Lichtschalter, den Mund offen, Gevatter Herberg. Der Retter der Sperrstunde, das Hemd der Nacht.

    Zu allem Überfluss kommt dazu, mein Bett ist vorne an der Tür. Eile brauche ich jetzt auch nicht mehr zu entwickeln. Ich stiefele also auf ihn zu, während er glotzt. Dann ins Bett geschlüpft, während Dejan bereits zu kichern anfängt. Wenn Dejan im Kino lacht, dann lachen alle. Sogar bei einem Drama wie Love Story, oder wie der Heulsusenfilm damals geheißen hat. Dementsprechend können wir anderen uns auch nicht mehr halten, während der Alte vor Wut zittert. Der kriegt jetzt einen Infarkt, denke ich. Dann bricht es aus ihm heraus, das Schlimmste, was er uns antun kann: »Zigeuner! Zigeuner seid ihr!«

    Sprach es und verschwand. Bliebe zum Schluss noch zu erwähnen, er verschmierte unseren Klassen-Herbergsausweis mit Filzstift, wir wären Perverse mit Homoaufnahmen. Unser Lehrer versuchte, es raus zu waschen. Ging natürlich nicht, rausgeworfen waren wir ebenso natürlicherweise. Die nächste Herberge mit Sportplatz und alles locker Drumrum, nahm uns auch so auf. Und als Letztes, die Mädchen bedauerten, dass Bourbon nicht noch schnell abgedrückt hatte. Obwohl, wenn ich’s mir recht überlege, war es vielleicht doch eher Glück. Je nach Augenblick des Auslösens, wäre ja nur noch ein Einzelner, dummer, nackter Pechvogel auf dem Bild zu sehen gewesen.

    The Beatles – Long, Long, Long

    Apropos Mädchen. Da sind wir erneut beim Thema Pech. Wir hatten nicht viele in der Klasse, also vier eigentlich nur, obwohl sechs an der Zahl. Aber zwei davon waren asexuell. Also genau genommen keine Mädchen, sondern so eine Art biologische Rechenmaschine. Von den übrigen Vieren blieben letztlich nur zwei wirklich interessant. Die Parallelklasse aber, die 11a, die hatte Mädchen. Massig Mädchen, drei Viertel waren Mädchen und was für welche. Eine schöner als die andere, echt ungelogen. Ich hab’ die Typies so beneidet. Ich war eh in der falschen Klasse, Mathezweig mit Franz. Ich hasste Mathe und die langweilige Physik kapierte ich nie. Aber da musste ich ja rein, weil der Vadder gern gerechnet hat und meine große Schwester in Mathe gut gewesen ist. Deswegen logischerweise also auch der Junior. Dabei hätte ich in Sprachen machen sollen, wie die 11a. Ich war nur im labern gut, das merkt man ja. Okay, gut ist jetzt relativ. Jedenfalls gern und viel dahergeredet, kurz – mal wieder Pech gehabt. Was sonst.

    Dazu kamen, immer schlimm und gleichzeitig faszinierend, wie Spock sagen würde, diese Träume und Phantasien, echt beängstigend, teilweise. Die haben bereits bei der Französischlehrerin angefangen, der schönen Mireille. Wenn ihr Hintern vibrierte, während sie etwas an die Tafel geschrieben hat, hat manchmal die ganze Klasse gestöhnt. Diese Träume wurden immer schlimmer, der Steife in der Hose unendlich peinlich. Der wollte ja gar nicht mehr weg. Jeder Reiz produziert einen Gedanken und jeder Gedanke einen Reiz. Volles Pech, ein Teufelskreis. Vielleicht hat das aber jeder in dem Alter. Ich habe nie gefragt, das schickt sich nicht. Aber das aller, allerschlimmste an all dem war: In die 11a ging Kiki.

    Bin ich bei anderen, jedenfalls attraktiven Mädchen, bereits total verklemmt gehemmt, ich hab’ das so gehasst, echt jetzt, so blieb mir bei Kiki bereits in zwanzig Metern Entfernung das Herz stehen. Ich konnte sie nicht einmal genau ansehen, niemals, nur heimlich. Manchmal starb ich vor Schreck sogar, wenn ich dachte, sie ist’s. Dabei war sie’s gar nicht, sondern jemand ähnliches.

    Es gibt da von Robert Crumb einen Comic, nur eine Seite lang. Die Geschichte heißt: ‚Kurts Furz’. Der Plot ist der, dass der gutaussehende, sympathische Kurt ein Problem mit Mädchen hat, die ihm gut gefallen. Da muss er nämlich sofort ganz fürchterlich furzen, so Super-Kanonenschlagmäßig laut. Dementsprechend klappt es nie mit einer, obwohl die alle auf ihn stehen. Sobald er eine Schöne trifft, mit ihr redet, muss er kurz darauf mit dümmlichster Ausrede ganz schnell fliehen und den Darmtornado dann in der nächsten, hohlen Gasse fliegen lassen. Die arme Sau, kommentiert der Autor dieses Pech.

    Bei mir ist das ähnlich, nur ist es mehr eine Art Versteinerungseffekt. Was ich damit sagen will: Der Körper versteinert in Sekundenbruchteilen, so fühlt es sich an. Sämtliche Muskeln sind wie Stein, unmöglich, sich zu bewegen, vollkommen verkrampft. Dazu kommt das Gehirn, ebenfalls eingefroren. Das Gesicht dabei in dümmlichem Grinsen erstarrt. Die rechte Hand auf Brusthöhe erhoben, nur die Finger der rechten Hand sind noch frei beweglich. Die machen, so völlig bescheuert, eine Art Spasten-Winkewinke – und Hallo!

    Das ist endpeinlich. Genau so, nein, noch schlimmer hab’ ich es bei Kiki gebracht, öfters sogar. Einmal bin ich bei ihrem Haus vorbei gegangen. Sie hat mir aus dem Garten hinterher gerufen: »Ja da ist ja Leon, der kleine Leon, hallo Leonie!«

    So hat sie mich früher genannt, wenn sie mich ärgern wollte und dazu dieses schelmische Gesicht gemacht, mit dem Grübchen auf der linken Wange. Ich sagte dann oft: »Kiki – Kih-Kih – Kikeriki«. Daraufhin rauften wir miteinander. Sie kämpfte gut, sehr gut, stark für ein Mädchen, fand ich. Gelegentlich durfte sie gewinnen. Tja, damals bereits Kavalier. Nein, machte einfach Spaß, wenn sie oben saß. Dann kitzelte sie mich im Gesicht mit ihrem Zopf, das fand ich so klasse. Einmal hatte sie keinen, sondern die langen Haare offen, saß auf mir, schaute herunter, und wie – und ich in ihre unendlichen Augen. Ihre Haare umschlossen unsere Gesichter, bildeten wie so eine Art Vorhang. Nur wir beide, die Welt weg, verschwunden. Dieser Augenblick schien ewig zu sein. Ich glaube, seit dem Moment liebe ich sie.

    Aber damals, als sie mir hinterher rief, nutzte ich die Chance natürlich nicht und bin weiter gedappt, wie Depp. Tat so, als wäre ich ganz plötzlich vollkommen ertaubt. Später hab’ ich das so bereut und ständig gedacht, warum. Warum nur, du Idiot? Immer wieder und wieder. Mir vorgenommen, fest vorgenommen, das nächste Mal machst du es besser, anders, sprichst mit ihr, du dummes Schwein. Du findest sie doch irre, mach’ was, egal was bei rauskommt. Was kannst du schon verlieren? Ständig ausgemalt, wie ich es besser mache. Davon geträumt. Immer und immer wieder. Gewünscht, dass jedes Mal, wenn ich auftauche, sie ihr Lieblingslied innen hört. Wie magisch und sie erkennt, wir sind füreinander bestimmt, gottgegeben oder so.

    Und was mache ich?

    Noch größeren Mist, beim nächsten Mal. Da stand sie nämlich mit Claudia irgendwo rum, in der Schule. Zum Glück gab es nur uns drei und keine Zuschauer. He, hört, hört, Glück im Pech. Sie waren wohl albern zu diesem Zeitpunkt. Es war ja wirklich schlimm, dass sie in der Parallelklasse war und die alle ständig an uns vorbeigingen. Diese Prozession schönster Mädchen. Oder wir an ihnen, je nach Stundenplan. Ich glaube, sie hatten den Blödsinn an diesem Vormittag bereits mit mehreren praktiziert. Jedenfalls, während Kiki mich irgendwie undeutbar angesehen hat, rief Claudia: »He du, halt’s Maul!«

    Und ich voll versteinert, im Gehirn den vollen Blackout, absolutmäßig, salutiere und brülle: »Jawoll!«

    Frage mich gleichzeitig, wie geschieht mit mir? Während sie kichern und ich nicht glauben kann, was ich gerade getan habe. Zum Glück, he, hallo zweimal Glück an einem Tag, in fünf Minuten sogar, kann ich relativ unauffällig recht schnell um die Ecke verschwinden und wäre dann am liebsten tot.

    Es gibt also nicht nur Pech in meinem Leben, sondern ganz besonders auch Dummheit. Reichlich, ich bin damit gesegnet. Seitdem floh ich immer, wenn ich sie sah, wenn irgend möglich und möglichst unauffällig.

    Die 11a Mädchen saßen manchmal im Gang. Ich musste dran vorbei. In dieser Situation tat ich immer sehr beschäftigt, kramte etwas oder schnappte mir einen Kumpel. Neben dem ich dann, scheinbar intensiv palavernd, vermutlich spastmäßig den Gang entlang gehinkt bin. Meine Beine fühlten sich wie Bratwürste an.

    Besonders schlimm waren die Tennisplätze. Da spielte sie nämlich und ich radelte regelmäßig vorbei, wenn ich vom Sport oder vom Gitarrenunterricht gekommen bin. Bereits vorher erlitt ich nahezu einen Herzkasper. Vor lauter Angst, sie könnte ja da sein. Gelegentlich traf es zu. Eigentlich ein Wunder, dass es mich niemals hingehauen hat, weil ich nicht mehr richtig auf den Weg schaute. Einmal habe ich beinahe eine Oma abgeräumt. Fluchen konnte die Dame, mein lieber Mann. Pech. Nein. Eher Glück vielleicht, dass ich nicht in die reingerauscht bin.

    Jedenfalls, so vorbei radelnd, wünschte ich mir immer wieder dieses Wunder. Das mit der Musik im Innern. Sie sollte ihr gerade aktuelles Lieblingslied hören, in ihrem Kopf, es in ihrem Body spüren. So wundermäßig eben, wenn ich in der Nähe bin. Und immer intensiver, je näher ich ihr kommen würde. Dann hätte sie sicher irgendwann gemerkt: Öha, diese Supermusik hat offenbar mit dem Spast dort auf dem Rad zu tun. Vielleicht würde sie ja denken, der hat anscheinend doch was. Dieses gewisse Etwas, von Hawkwind, die kennt sicher keiner mehr, in dem Lied: ‚Quark, Strangeness & Charm’ beschrieben. Sie würde mich lieben und ich sie noch viel mehr. Wir wären glücklich und hätten Kinder, kleine Frechknirpse und schöne Minimädchen, mit Grübchen und Kaleidoskop-Augen. Aber das alles ist Unsinn. Für all das gilt: Nix ist’s oder war’s und wird’s nie sein.

    Statt dessen schleiche ich im Gang vorbei. Mir ist schlecht vor Angst. Während die anderen Typies, diese Hunde von der 11a, ‚Mädchen, sitz auf meinem Schoß’, und dergleichen mehr Aktionen à la: ‚Der große Fummleroni’ spielen. Mit diesen Schönsten der Schönen. Diese verdammten Glückpilze. Gustav Gänse, alle miteinander. Verflucht.

    Gentle Giant – I Lost My Head

    Gesagt werden sollte wohl noch, in der Schule lief es ab der Elften gar nicht so gut. Eigentlich wirklich nicht gut. Also vollschlecht, im Grunde genommen. Erwähnt habe ich es ja bereits mit den Matheprobs. Bei Physik konnte man von Problemen gar nicht mehr reden. Der Dipol hasste mich und ich ihn, weil er nichts erklären konnte. Ein Hirnwichser, aber jetzt wird’s vulgär. Okay, das ist sicher bereits bemerkt worden: Ich bin voll vulgär, eben fäkalsprachlich gestört, dazu einfach gewöhnlich, roh, niedrig, unfein, proletenhaft, inzwischen gar nicht mehr artig und abgeschweift.

    Wie gesagt, ich schrammelte beim Dipol immer gerade so am Sechser vorbei, den Fünfer konnte ich ausgleichen, bis dahin. Mit was wohl? Mit Deutsch, genau. Früher sogar mit Englisch, aber da baute ich auch gerade ab, wie überall. Nun gut, ich habe die Super-Topp-off-the-Popps-Ausrede: Zuhause lief es nämlich noch viel schlechter, viel, viel schlechter! Offenbar spätestens seit meinem vierzehnten Geburtstag. Während andere erwachsen, selbständig und glücklich wurden, entwickelte sich Meiner Einer immer mehr zum vollkommenen Simpel.

    Ich weiß noch, wie ich früher einmal dachte, das Allerschlimmste, was dir je passieren kann, ist dass Mama stirbt. In dieser Zeit als Minimanschgerl, mit fünf, sechs, höchstens sieben etwa, als ich damals einmal traurig gewesen bin, da sagte die Mutter zu mir: Schlaf einfach drüber, wirst sehen, morgen sieht es ganz anders aus. Nach dem Aufwachen ist alles besser. Damals stimmte das tatsächlich. Aber inzwischen leider überhaupt nicht mehr, im Gegenteil. Ich weiß morgens bereits, dass dieser Tag noch schlechter als der vorherige sein wird und es trifft immer ein, echt ungelogen.

    Manchmal wache ich Nachts auf. Bin endgroggy, aber schlafen ist nicht. Statt dessen denke ich nach, denke und denke. Ich denke überhaupt gern und viel. Besonders gerne Mist. Dieses nachdenken hört gar nicht mehr auf. Ratter, ratter macht’s, wie eine kaputte Maschine. Unter anderem male ich mir aus, die Situationen, in denen ich abgeschifft bin, einfach besser hinzubekommen. Abschiffen steht für Peinlichkeiten, voller Dummheit oder Feigheit. Theoretisch erst einmal und beim nächsten Mal dann im praktischen Versuch. Aber es klappt nie. Leider trifft diese: ‚Morgen ist es wieder gut’-Theorie bei mir nicht zu. Bei allen mir bekannten Leuten wurde das Leben besser, nur nicht beim Blödian. Ich kann mich noch gut erinnern, damals sendete das ZDF frühabends immer Schweinchen Dick, mit Duffy Duck, Coyote Carl und so. Im Abspann ein jeder Sendung fahren die Trickfiguren mit dem Bus davon. Man sieht ihn von hinten und als allerletzte Szene öffnet sich die Radkappe vom Reserverad, darin das Schweinchen. Es sagt: »Und nicht vergessen – immer schön fröhlich bleiben.«

    Das hat mich jedes Mal mitgenommen, unbeschreiblich. Mit mir geschah in diesem Moment genau das Gegenteil, ich wurde so vollends traurig, ich wäre am liebsten sofort gestorben. Alternativ hätte ich dieses dumme Schwein da im Fernseher am liebsten gekillt. Ich hätte die Sendung gar nicht erst anschauen sollen, wollte es aber. Zuletzt habe ich beim Abspann einfach umgeschaltet.

    Das ist eben Pech. Das lag zum Einen vielleicht daran, dass meine Mutter an Alzheimer litt, mit vierzig Jahren bereits vielleicht, keine Ahnung, wäre möglich. Es wurde in Familienkreisen von ‚Mutters Krise’ gesprochen, aber während der bin ich winzig klein gewesen. Wahrscheinlich habe ich sie ausgelöst, als quengelnder Nervzwerg vermutlich.

    Mittlerweile hatte sie die halbe Hundertschaft an Jahren plus x voll und war längst zur Idiotin mutiert. Falsch, es gibt einfach kein Wort dafür. Einerseits schien das da Mama zu sein, andererseits jemand vollkommen anderes. Mehr Tier sich zurück entwickelnd und das kam immer mehr heraus, zum Vorschein meine ich, aber richtig bemerkt wurde das damals von niemandem. Es gab Anzeichen, aber wie zum Teufel, soll ein Siebzehnjähriger handeln, der von dieser Krankheit noch nie gehört hat? Geschweige denn, selbst wenn, was hätte ich tun sollen? Verdammt, ich brachte ihr ja beispielsweise wieder Fahrradfahren bei, nachdem sie gestürzt war und sich nicht mehr getraut hat, es aber unbedingt tun wollte. Wie man es bei einem kleinen Kind macht, zuerst einmal alles erklären und beruhigen, die Angst nehmen. Dann bin ich neben ihr her gerannt und so weiter. Aber wie gesagt, ich wusste nicht, was da los ist.

    An ein frühes Erlebnis erinnere ich mich genau: Ich sehe Bonanza, etwa mit dreizehn, allerhöchstens, eher

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