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Andante al dente: Die Partitur (m)eines Lebens
Andante al dente: Die Partitur (m)eines Lebens
Andante al dente: Die Partitur (m)eines Lebens
eBook390 Seiten4 Stunden

Andante al dente: Die Partitur (m)eines Lebens

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Über dieses E-Book

Wie wird man »Vom Tellerwäscher zum Millionär«? Wer sich diese Frage schon einmal gestellt hat, erhält hier zwar keine Erfolgsgarantie, aber sicher einen Einblick, wie man es besser nicht versuchen sollte. Das Buch erzählt von den ständig wechselnden Phasen eines Lebens innerhalb einer aufregenden Epoche: bescheidene Nachkriegsjahre, rasanter technischer Fortschritt, kultureller Wandel (im Besonderen die Pionierzeit der Hippie-Bewegung). Die Mutter sitzt wie eine Glucke auf dem Küken. Der Vater schimpft: »Aus dir wird nie was!« Wie soll sich da ein Mensch entfalten?

Prüfungsängste behindern die Karriere. Nach großen Umwegen und entbehrungsreichen Zeiten verdient er viele Jahre seinen Lebensunterhalt als Musiker. Er versucht sich als Gitarrist, Bassist, Schlagzeuger, Saxophonist, Pianist und Keyboarder. Parallel entwickelt er sich vom ungelernten Lagerarbeiter zum Systemprogrammierer. Seine erste Ehe gleicht einer stürmischen Flut, in der zweiten glätten sich endlich die Wogen. Ist am Ende doch etwas aus ihm geworden? All das und noch einiges mehr erzählt dieses Buch.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum9. Nov. 2018
ISBN9783746992556
Andante al dente: Die Partitur (m)eines Lebens

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    Buchvorschau

    Andante al dente - Thomas am Stein

    01. So etwas wie ein Vorwort

    Worum geht es hier eigentlich?

    Ich habe lange überlegt, wie ich dieses Buch schreiben will – soll heißen, in welchem Schreibstil. Ob ich dazu einen Kugelschreiber oder einen Bleistift benutze, einen Federhalter oder gleich den Computer, ist dabei unerheblich. Es geht vielmehr darum, ob es eine aus reinen Fakten meines Lebens bestehende Abhandlung werden soll – also ein Drama, oder ob ich mich nur auf die positiven Erlebnisse konzentriere – dann wird es eine oberflächliche Broschüre.

    Die nächste Überlegung war, in welcher Person ich schreibe. In der dritten Person hätte er womöglich mehr Abstand zu sich gehabt und könnte auch die intimsten Themen seines Protagonisten ungeniert beschreiben, denn es träfe ihn ja sozusagen nicht selbst. Er kam aber bald – also ich – zu dem Schluss, dass die erste Person einer Biografie – noch dazu einer »automatischen« (oder wofür steht das »Auto« vor dieser Biografie?) – zuträglicher sei. Wenn ich also »Ich« schreibe, meine ich auch mich – natürlich gibt es Ausnahmen…

    Zum Schreibstil sei noch zu sagen, dass ich früher einen Hang zu Weitschweifigkeit und komplexen Schachtelsätzen hatte. Da ich, wie schon vor vielen Jahren bemerkt, solche komplizierten Konstrukte, wie sie vorrangig in Gesetzestexten zu finden sind, lieber vermeiden sollte, werde ich mich in diesem Buch, so weit wie möglich, lieber auf kurze prägnante, also mit nur wenigen Kommata versehene, Sätze zu konzentrieren versuchen.

    Ich weiß auch, dass Sätze, die mit einem »Ich« beginnen, möglichst zu vermeiden sind, da dies selten gut klingt. Ich werde mich also bemühen, ohne Mich auszukommen – obwohl es doch um »Ich« geht – oder so, schwierig schwierig…

    Es gibt noch einige weitere Regeln, die für einen guten Schreibstil förderlich sein mögen, wie zum Beispiel das wiederholte Wiederholen von ähnlichen Worten, besonders im selben Satz – ein Beispiel? »Wenn es draußen heiß ist, ist es drinnen kühler.« Oder »Er verwendete in seinen Texten so oft das »Das«, dass das »Das« das Dasein beklagte.« Eins noch: Ich liebe Texte, die sofort zur Sache kommen. Deshalb verzichte ich hier auch auf ein langatmiges Vorwort – oder etwa nicht?

    Dieses Buch ist also quasi meine Geschichte – allerdings nicht in pedantischer Abfolge einer lückenlosen Chronologie, sondern mehr – wenn auch nicht ausschließlich – aus meiner Sicht als Musiker, der ich mal zu werden gedachte. Dazu stellte sich mir folgende Frage: wenn eine »Person des öffentlichen Lebens«, also ein allgemein bekannter Mensch (kurz: ein »Promi«) seine Lebensgeschichte, seinen Werdegang, also seine Biografie schreibt, ist diese Geschichte nicht selten schon dadurch spannend zu lesen, weil der Mensch im Allgemeinen (also der Leser) von Natur aus neugierig ist und sich eben für diese Person interessiert. Wie aber verhält es sich bei jemand relativ Unbekanntem? Sicher führen Prominente häufig ein ereignisreiches Leben, das genügend Stoff für ein kurzweiliges Buch hergibt. Es gilt herauszufinden, ob das »interessante Leben« ein Privileg der Prominenz ist oder ob nicht auch ein Durchschnittsbürger wie ich ein kurzweiliges Buch zustande bringt.

    Wie kommt es beispielsweise, dass so ein schüchternes Bübchen wie ich nicht nur kreuz und quer durch Deutschland gereist ist, sondern auch in Frankreich, Italien, der Schweiz und – nicht zuletzt – in Österreich sein Glück versucht hat? Nach diversen Schulen und einigen Umzügen kam ich mit etlichen Berufen in Berührung. Auf deren nur stichwortartige Aufzählung möchte ich hier verzichten. Im Verlauf des Buches werden schon die einzelnen Stationen meines Lebens beleuchtet. Das Kernthema soll aber meine mehr unals spektakuläre Laufbahn als Musiker sein. Musik war immer um mich herum – im Grunde bereits schon vor meiner Geburt. Beantworten wir die zu Beginn (auf der Titelseite) gestellte Frage: es geht also wirklich um »Schall« und »Rauch«. Die Worte werden sich im Verlauf der Geschichte schon noch erklären.

    An dieser Stelle sollen folgende Entwicklungen nicht unerwähnt bleiben: Einerseits machte ich einmal aus meinem Beruf ein Hobby, andererseits konnte ich gleich zweimal aus dem Hobby einen Beruf machen, was sicher nicht allzu oft geschieht. Wie es dazu kam und was sich daraus entwickelte, will ich hier erzählen. Ich fange einfach mal vorne an…

    02. Im Hexenkessel

    1942 Stalingrad

    Es wehte ein eisiger Wind in dieser letzten Dezembernacht 1942. Karl zog seine verbeulte Mundharmonika aus der Jacke und intonierte zaghaft »Lili Marleen«. Sein 21-jähriger Kamerad Hans summte die Melodie leise mit und schob noch einen dürren Zweig in die spärliche Glut. Sie hatten ein paar schrumpelige Kartoffeln gefunden. Die sollten ihr Nachtmahl sein, also eine Art »Papa Asada« (wie der Spanier die geröstete Kartoffel nennt). Trotz der Gefahr, entdeckt zu werden, hatten sie eine kleine Feuerstelle entfacht. Die Kälte zog ihnen dennoch in die Knochen. Nach entbehrungsreichen Wochen so fern der Heimat war die Lage aussichtsloser denn je. Deutschland war unerreichbare 2800 Kilometer weit entfernt. Die ständigen Durchhalteparolen griffen nicht mehr. Hans, der als Funker der 71. Infanterie-Division in der 6. Armee eingesetzt war, hatte die verlogenen Nachrichten aus dem Führer-Hauptquartier schon lange satt. Keiner sprach es laut aus, aber die gesamte Kompanie wusste, dass der Angriff gescheitert war. Besonders jetzt, denn die sowjetischen Truppen hatten sie im berüchtigten »Kessel von Stalingrad« in die Zange genommen.

    Beinahe wäre an diesem Silvester-Donnerstag so etwas wie festliche Stimmung aufgekommen, als Karl jetzt den Klassiker »Auld Lang Syne« anstimmte. Hans und sein Freund hatten sich zusammen mit dem kläglichen Rest der Truppe notdürftig in einem Bombenkrater am westlichen Rand von Stalingrad verschanzt. Noch bevor sie ihre in Asche gewälzten Kartoffeln genießen konnten, wurde das alte schottische Lied jäh unterbrochen durch eine andere »Melodie«. Unverkennbar war eine »Katjuscha« zu hören und dabei handelte es sich keineswegs um das russische Liebeslied. Ein Raketenwerfer BM-32 hatte in überraschender Nähe Stellung bezogen. Das typisch heulende und in kurzen Abständen zischende Pfeifen der »Stalinorgel« erfüllte die Luft. Eilig stießen die Soldaten mit ihren Gewehrkolben die wenigen brennenden Holzscheite und Äste auseinander, um das verräterische Feuer zu löschen. Die Granaten schlugen schon gefährlich nah ein. Hans griff nach dem Funkgerät, um es zur Sicherheit tiefer in den Bombentrichter zu ziehen.

    Plötzlich tat es einen dumpfen Schlag wie von einer eisernen Faust. Hans verspürte einen heftigen Schmerz in der Schulter. Ein Querschläger hatte ihm das linke Schulterblatt zertrümmert. Die Wunde sah aus wie ein Krater und blutete stark. Der Schmerz ließ ihn ohnmächtig werden. Als er nach ein paar Minuten wieder zu sich kam, war der Spuk schon vorbei. Die Stalinorgel schwieg und Karl hatte ihn bereits notdürftig verbunden. Hans hatte noch Glück gehabt: ein paar Zentimeter tiefer hätte der Granatsplitter sein Herz durchbohrt. Jedenfalls war für ihn der Krieg zu Ende und, gestützt durch seinen Freund, schleppte er sich zum nahegelegenen Flugplatz Gumrak. Tatsächlich stand dort eines der Versorgungsflugzeuge zum Rückflug in die Heimat startbereit. So war womöglich gerade dieser Splitter seine Rettung. Er kam noch rechtzeitig vor der endgültigen Kapitulation aus dem Hexenkessel heraus…

    03. Die »Schwedische Nachtigall«

    1947 Bitterfeld

    Der ebenso grauenvolle wie unsinnige Krieg war endlich vorbei. Das zerschlagene Deutschland hatten die vier Siegermächte vor zwei Jahren in Besatzungszonen aufgeteilt. Fast alles lag noch in Schutt und Asche und der Verkehr war praktisch lahmgelegt. Es fuhren kaum Züge und wenn, dann sehr unzuverlässig. Diese Tradition hat die Deutsche Bahn bis heute beibehalten (diesen Kalauer wollte ich mir nicht verkneifen). Es war also sehr beschwerlich, von West nach Ost über die innerdeutsche Grenze (gerne mit dem so harmlos klingenden »Grüne Grenze« bezeichnet) zu gelangen.

    Jetzt im eiskalten Januar 1947 machten sich die 23-jährige Inge und ihre Mutter auf den Heimweg nach Berlin-Haselhorst. Sie hatten für ein paar Tage eine alte Tante in Melsungen (in der Nähe von Kassel) besucht und waren mit einem klapprigen Zug immerhin bis Northeim (nördlich von Göttingen) gekommen. Dann fuhr nichts mehr. Die Bahngleise waren zerstört und es musste irgendwie zu Fuß weitergehen.

    Der eiskalte und verwahrloste Warteraum des Bahnhofs war überfüllt mit erschöpften und abgezehrten Gestalten. Jeder wollte irgendwohin. Es waren auch ein paar Heimkehrer aus Russland darunter, mit denen sich Inge unterhielt. Ihre Mutter blickte sich indessen nach einer helfenden Hand um. Beherzt sprach sie einen kräftigen jungen Mann an. Der sollte den beiden Damen über die von den Russen bewachte Grenze helfen. Ob er auch nach Berlin wolle, fragte sie ihn. Sein Ziel war die pädagogische Hochschule in Spandau, also bejahte er zögernd. Als Inges Mutter ihn daraufhin um Geleitschutz bat, haderte er sehr mit der Vorstellung, sich der Behinderung durch zwei schwache Frauen auszusetzen. Nach kurzem Zögern jedoch warf er seine Bedenken beiseite und willigte ein. Vielleicht war er einfach nur gutmütig oder es hatte ihn Inges offensichtliches Desinteresse gereizt – oder war es ihre trotz der ärmlichen Kleidung attraktive Erscheinung? Jedenfalls machte sich noch zu Beginn der Dunkelheit eine kleine Gruppe Menschen auf den beschwerlichen Weg in östlicher Richtung nach Nordhausen (am Südharz). Von dort sollte wieder ein Zug fahren, hieß es.

    Trotz des holprigen und vereisten Weges quer durch den nächtlichen Wald legte der junge Mann ein zügiges Tempo vor. Inzwischen kannte Inge seinen Namen und rief, ungeachtet der Gefahr entdeckt zu werden: »Hans, nicht so schnell!«

    Es kam wie es kommen musste: Nach wenigen Kilometern rief eine energische Stimme: »Stoi!«. Ein patrouillierender Russe hatte die Gruppe entdeckt und kam den Berg herab gelaufen. Mit angelegter Kalaschnikow befahl er Hans und drei weiteren Männern, die sich der Gruppe angeschlossen hatten, mitzukommen. Die beiden Frauen ließ er glücklicherweise unbehelligt, so dass diese ihren Weg fortsetzen konnten. Sie waren überzeugt, sich nie wieder zu sehen.

    Irgendwie ging der Weg weiter, 70 Kilometer über Stock und Stein, durch Berg und Tal. Nach vielen kräftezehrenden Stunden, der nächste Abend dämmerte bereits, erreichten die beiden Frauen den Bahnhof von Nordhausen. Wieder musste man stundenlang in eisiger Kälte auf den Zug warten. Das nächste Etappenziel war Bitterfeld (südlich von Dessau).

    Erst am nächsten Morgen ging es endlich weiter. Hans war längst vergessen, als nach endlosen zwei Tagen die beiden völlig erschöpften und durchgefrorenen Frauen in Bitterfeld ankamen. Dort hieß es erneut ausharren und auf den nächsten Zug Richtung Berlin warten. Es herrschte ein reges Treiben im Bahnhof. Als Inge einmal gedankenverloren aufblickte, glaubte sie zu träumen: da stand plötzlich Hans im Türrahmen und blickte sich nach einem Sitzplatz um. Freudig erregt rief sie: »Hans! Hier her!« Nun gab es viel zu erzählen über die letzten zwei Tage und als endlich der Zug kam, versuchten die Drei, gemeinsam in ein Abteil zu gelangen. In dem Menschengetümmel wurden die beiden Frauen abgedrängt und schafften es nur mit Mühe ins Nebenabteil. Durch die mit Brettern vernagelten Fenster war es im Waggon stockdunkel. Der eiskalte Wind pfiff durch die Ritzen. Es herrschte eine bedrückende Stimmung.

    Der Zug fuhr los, da meinte Inges Mutter: »Sing doch mal!« Inge, die eine ausgebildete Konzertsängerin war, ließ sich nicht zweimal bitten und sang ein paar Stücke aus ihrem gewohnten Repertoire von Schubert, Brahms und die »Schwedische Nachtigall« von Alabiew. Augenblicklich kehrte Ruhe ein. Die Mitreisenden hörten auf zu reden und lauschten andächtig. Sogar im Nebenabteil war der Gesang zu hören und stolz erklärte Hans den verwunderten Zuhörern: »Das ist MEINE Inge!«…

    Wenn sich jetzt Leserin und Leser fragen, was das alles mit meinem Leben zu tun hat, kann ich nur sagen: eine ganze Menge! Schließlich dauerte es nur etwa vier Jahre, da legten diese beiden, Hans und Inge, sozusagen den Grundstein für mein Dasein. Mit anderen Worten: sie wurden meine Eltern…

    04. Aller Anfang war bescheiden

    1951 Kettwig

    Mitten im tiefen Winter 1951 passierte es: Kurz vor Heiligabend hielt ich es nicht mehr aus in dieser stickig-warmen Höhle. Meine Mutter hatte sich erst gerade schlafen gelegt und hoffte auf eine ruhige Nacht. Ich aber machte ihr einen Strich durch die Rechnung und trat und trommelte mit Händen und Füßen um mich. So weckte sie schnell ihre Mutter (also meine »Berliner« Oma) und mit dem schon seit Tagen bereit stehenden Köfferchen voller Kleidung und Waschutensilien rannten die beiden Damen, trotz der Kälte leicht bekleidet, von unserer spärlichen Wohnung in der Brederbachstraße quer über den Friedhof zum evangelischen Krankenhaus.

    Bereits nach anderthalb Stunden war es so weit: mein großer Auftritt war gekommen. Es war bereits 23:30 Uhr an diesem Donnerstag, den 20. Dezember 1951 (also einen Tag und eine halbe Stunde vor »Steinbock«). Mit meinen langen, schwarzbraunen Haaren und einem Gewicht von 3700 Gramm – bei einer Größe von 53 Zentimetern war ich ein stattliches Baby (dankenswerterweise hatte meine Mama akribisch Tagebuch geführt) und erfüllte sogleich ausdauernd und mit Leibeskräften das spärlich beleuchtete Krankenzimmer mit meinem voluminösen Sopran. Ich erreichte bereits mühelos das »Hohe C«. Jawohl, es war noch kein Tenor – der Stimmbruch folgte etwas später.

    Vier Tage also vor dem (anderen) Christkind, mein anderthalb Jahre älterer Bruder war kaum aufgestiegen von der Windel zum Töpfchen, war für mich die Zeit gekommen, der Welt das Leben zu erklären – oder so. Am gleichen Tag sind übrigens (u.a.) auch Beatrice Richter und Martin Schulz geboren, wenn auch sie drei Jahre vor und er vier Jahre nach mir. Immerhin ist aus denen auch etwas geworden – nun ja, Ansichtssache. Die Nabelschnur war durchtrennt, ich wurde stolz herumgereicht. Papa aber war leicht geknickt, als ihm klar wurde: wieder kein Mädchen! Auf seinen heiß ersehnten »Sonnenschein« musste er noch über 5 Jahre warten.

    Zurück zur Brederbachstraße in Kettwig, dem zu der Zeit noch ebenso eigenständigen wie verschlafenen Nachbardorf von Essen, der damals fünftgrößten Stadt Deutschlands. 1975 ist Kettwig widerwillig zu Essen eingemeindet worden.

    In der Hausnummer 13 also, wo sich heute die Albert-Einstein-Realschule befindet, wohnten wir im Souterrain der damaligen Akademie, in der Papa zurzeit sein Lehrerstudium beendete. Es war der Vorraum zur Turnhalle, ein äußerst anspruchslos möblierter Raum. Neben 2 Betten und 2 Schränkchen gab es auch einen einfachen 2-Platten-Herd. Wenn darauf meine Mama unsere Wäsche kochte (Windeln waren schließlich teuer und konnten mehrmals benutzt werden, außerdem gab es dieses gepamperte Zeugs noch gar nicht), mussten die Studenten in den Klassenzimmern über uns die Fenster schließen.

    Es duftete zwar schön nach frischer Kochwäsche, aber die mächtigen Dampfschwaden verwehrten den wissbegierigen Schülern die Sicht auf die mit ach so wichtigen Geschichtsdaten gefüllte Tafel: vom 28.07.1914 bis 11.11.1918: 1. Weltkrieg, vom 01.09.1939 bis 02.09.1945: 2. Weltkrieg, 20. April 1889: Eine führende Persönlichkeit wurde in Österreich geboren. Vier Tage vorher kam Charlie Chaplin zur Welt – und so weiter.

    »Schlaf Kindchen schlaf, der Papa hüt’ die Schaf…« sang meine Mutter und ich hörte zwar die Worte, verstand aber ihren Sinn noch nicht. Darum erfüllten sie nicht ihren Zweck, denn anstatt einzuschlafen, hörte ich mit geweiteten Augen gebannt auf die zwar wohlklingende, aber auch laute Stimme dieser großen dauerbewellten Frau. Auch empfand ich es als extrem unpassend, schon in dieser frühen Stunde schlafen zu sollen.

    Ich hatte eben erst meine Mittagsration nahrhafter Milch erhalten und wollte viel lieber den Gesängen lauschen, die aus den offenen Fenstern über mir drangen: »Die Gedanken si-hind frei, wer kann sie erraten. Sie ziehen vo-horbei wie nächtliche Schatten…« Die Schüler sangen das Lied als Kanon. Es erschien mir damals wie eine bachsche Fuge mit seiner komplexen Verschachtelung, wenngleich ich den Herrn Johann Sebastian damals natürlich noch nicht kannte. Apropos »Bach«: es wurde mal wieder Zeit für einen Windelwechsel…

    Dass meine Mama eine wirklich bemerkenswert gute Stimme hatte, soll hier nicht unerwähnt bleiben. Schließlich war sie in den 1940er Jahren als die »Nachtigall von Spandau« sehr bekannt. Nach ihrer Ausbildung in Gesang und Klavier sang sie des Öfteren im RIAS und im damaligen NWDR, beides in Berlin. Einmal war sie sogar die Sopranstimme der Zigeunerin »Manja« in der Operette »Gräfin Mariza«, zusammen mit Rudolf Schock, der wegen der unerwarteten Virtuosität neben ihm erstaunt dreinschaute. Vielleicht war ja schon damals der Grundstein für mein Interesse an der Musik gelegt worden – obwohl: Operette war nie mein Ding…

    05. Neue Perspektiven

    1952 Breyell

    Unterdessen befand sich mein Papa gerade in der Abschlussphase seines Lehrerstudiums. Der Familientradition folgend hatte er den Weg seiner Vorväter eingeschlagen, die alle Lehrer gewesen waren. Er beendete seine Ausbildung in der Akademie mit Bravour und schon bald ging es daran, unsere spärlichen Habseligkeiten zusammen zu packen. Im April 1952, pünktlich zum Schulbeginn nach Ostern, hatte Papa die schwere Aufgabe, die evangelische Volksschule in Breyell am Niederrhein aufzubauen. Wir zogen also am 16.03.1952 von dem idyllischen Kettwig in das 80 Kilometer entfernt liegende Arbeiterdorf Breyell in eine ruhige Seitenstraße (Speckerfeld 3) – heute heißt sie einfach Speck.

    Wir hatten dort eine schmale, zweistöckige Wohnung erhalten, die mit unseren wenigen Möbeln schnell ausgefüllt war. Unten gab es eine kleine Küche, das Wohnzimmer und das Bad, oben befanden sich zwei Schlafzimmer. Es war zwar alles sehr anspruchslos, aber meine Eltern waren stolz, über eine eigene Wohnung verfügen zu können.

    Der 2-Platten-Herd in der Küche musste mit Kohle oder Holz befeuert werden. Die Herdplatten bestanden aus unterschiedlich großen Ringen, die man einzeln herausnehmen konnte, um sie der Topfgröße anzupassen. Heißes Wasser gab es natürlich auch nicht einfach »aus der Wand«, wie das heute selbstverständlich ist. Entweder wurde ein Kessel auf den Herd gestellt, oder für größere Projekte – beispielsweise das samstägliche Ritual des Badens – musste der große Wasserboiler im Bad mit Holz beheizt werden. Das dauerte dann erst einmal zwei Stunden, bevor der Erste in die Wanne steigen konnte. Meistens war das natürlich der Herr des Hauses. Nicht selten kamen unmittelbar danach wir zwei Jungens dran, also bevor das Wasser endlich abgelassen wurde. Für Mama wurde dann frisches Wasser eingelassen – wenn noch welches da war. Irgendwie bin ich diesem anheimelnden Brauch nicht treu geblieben: heute dusche ich lieber.

    Wir hatten sogar einen kleinen Garten in dieser Reihensiedlung. Ein niedriger gekreuzter Holzzaun markierte die Grenze zum Nachbarn und zur Straße. Zuweilen stellte Mama die hölzerne Kaffeemühle auf den Gartentisch, befüllte sie mit frischen Bohnen und verbreitete, geräuschvoll mahlend, einen neiderregenden Duft in die Nachbarschaft. Derweil schoss mein Bruder seinen Gummiball durch die Geranien, während ich hinter den Gittern meines beengten Laufställchens die harmonie-tauglichen Resonanzen meiner Rasseln und Quietscheentchen überprüfte, zum Zwecke des Arrangements meiner ersten Kakophonie. Apropos: Es war mal wieder Zeit für einen Textilwechsel…

    Am 01. Juni 1952 wurde ich evangelisch getauft, was ich – laut Mamas Tagebucheinträgen – klaglos hinnahm. Lediglich, als der Pfarrer seine salbungsvolle Ansprache mit einem sonoren »Amen« abschloss, meinte ich leicht missbilligend dazu: »Grrr!« Immerhin geschah das Ganze, ohne vorher mit mir das Für und Wider der unterschiedlichen Religionen geklärt zu haben. Jahre später bin ich sicher nur aus diesem Grund aus der Kirche ausgetreten.

    Im März 1953 war meine Entwicklung so weit fortgeschritten, dass ich mich quasi selbstständig machen konnte. Mit anderen Worten: ich konnte laufen. Die Wohnung und besonders die Einrichtung waren nicht mehr sicher vor mir. Ich erkundete alle Ecken und Nischen, riss sämtliche Schlüssel aus den Schranktüren, leerte die Schubladen aus, indem ich den Inhalt (wie Unterwäsche, Strümpfe oder Geschirr) fein säuberlich auf dem ganzen Fußboden verteilte. Man hatte mir mehrfach mit einem energischen »Nein!« erklärt, dass derartiges Handeln inadäquat sei. Um zu demonstrieren, dass ich ein durchaus gelehriges – wenn auch nicht folgsames – Individuum bin, räumte ich fleißig weiter die Wohnung um, sah dabei Mama ins Gesicht und sagte mit bestätigendem Nachdruck: »Nein!«. Auf ähnliche Weise urbanisierte ich auch unseren Garten. Ich stolzierte ausdauernd und unbeirrt quer über die Blumenbeete, bis das ganze Unkraut (also Gänseblümchen, Geranien, Nelken und Narzissen) vernichtet am Boden lag. Seltsamerweise gehörte auch diese kreative Landschaftsgestaltung zu den eher unerwünschten Aktivitäten, wie ich schmerzlich erfuhr.

    Neben dem Artikulieren der wichtigsten Vokabeln wie »Mama«, »Papa« und »Aa« hatte sich auch meine Gesangsstimme weiter entwickelt. Gelegentlich gab ich – unaufgefordert (und deshalb noch ohne Gage) – Stücke wie »Hänschen klein« und »Alle meine Entchen« zum Besten. Mamas mütterliche Phantasie glaubte jedenfalls in meinen avantgardistischen Vorträgen diese Lieder erkennen zu können.

    Zu Heiligabend, es war später Nachmittag und draußen schon dunkel, gab sich Papa alle Mühe, einen authentischen Weihnachtsmann darzustellen: Er trug einen weiten, dunkelroten Mantel (weiß der Himmel, wo er den aufgetrieben hatte!) mit plüschbesetztem Reverse aus gezupftem Polyester. Der Bauch war mit mehreren Kissen ausgestopft, wie es sich für einen wohlgenährten Weihnachtsmann gehört. Das Gesicht hatte er bis zur Unkenntlichkeit umhüllt mit einem Rauschebart aus dicken weißen Watteflocken. Eine rote Zipfelmütze (von Mama aus alten Stofflappen zusammengenäht) mit weißem Wattebommel, sowie ein langer Wollschal und Fausthandschuhe vervollständigten das Bild. Auf dem Rücken der prall gefüllte Rucksack, so trat er mit mächtigen Schritten in die gute Stube und stütze sich dabei schwer auf einen knorrigen Wanderstab.

    Mamas Augen leuchteten stolzerfüllt bei diesem prächtigen und authentischen Auftritt. Die vielen Lichter glänzten feierlich am lametta-behangenen und mit echten Äpfeln geschmückten Baum. Aus der Musiktruhe drang leise »Ihr Kinderlein kommet, so kommet doch all«. Es duftete nach frischem Tannengrün und Lebkuchen, als ich unbeeindruckt ausrief: »Papa!« – Mama blickte sich überrascht nach mir um und rätselte, wieso sich der zweijährige Knirps nicht hinters Licht hatte führen lassen. Später klärte sich auf, dass ich ihn an seinen Hauspantoffeln erkannt hatte. Er wollte halt nicht mit den schneefeuchten Straßenschuhen auf den kostbaren orientalischen Fransenteppich (der damals noch jungen Firma Kibek) treten.

    Immerhin sagte ich – nach allseitigem Drängen – artig mein Gedicht auf: »Lieber guter Weihnachtsmann, sieh mich böse an, stecke Rute ein, ich will nicht artig sein«. Dabei grinste ich breit, wohl wissend meiner freien Interpretation. Zum Trost sang ich noch lautstark alle mir bekannten Weihnachtslieder nach eigenem Arrangement vor: »Ihr Kinderlein kommet in heilige Nacht« und – mit todernster Miene – »Oh Tannenbaum, du Fröhliche, wie treu sind deine Blätter«. Der Vollständigkeit halber sei hier kurz erwähnt, dass ich im Juni 1954 an Mamas Klavier Gelegenheit für meine ersten »Gehübungen« hatte. Anstatt ziellos und dissonant (wie mein Bruder in dem Alter) auf den Tasten herumzuhauen, fand ich schnell die wohlklingende C-Dur-Tonleiter heraus.

    Im folgenden Sommer (1954), gerade als Helmut Rahn mit seinem 3:2 gegen Ungarn für das »Wunder von Bern« sorgte, ging es wieder einmal zum Baden an den Breyeller Quellensee (wir nannten ihn wegen des markanten Fischbestandes treffender »Karpfenteich«). Ich war auch sofort in meinem Element und planschte und patschte im Wasser herum, so dass die auf ihren Decken und Tüchern liegenden Badegäste ihre helle Freude hatten an meinen Erfrischungen.

    Papa meinte, es sei an der Zeit, dass ich das Schwimmen erlerne. So nahm er mich kurzerhand auf den Arm und trug mich tiefer in den See hinein bis an den durch lange Rundhölzer abgetrennten Schwimmerbereich. Mir schwante nichts Gutes und einen Augenblick später warf er mich einfach über die Balken und sah interessiert zu, wie ich in Panik schrie und herumfuchtelte, bis ich einen der glitschigen Balken zu fassen bekam. Mein Vater lachte nur, aber für mich war das Kapitel »Baden« erst einmal abgehakt. Richtig Schwimmen lernte ich erst viele Jahre später, als ich mir 1968 in Arnsberg im alten Hallenbad (das befand sich damals noch in der Nähe des Sauerlandtheaters) ein Herz fasste und mich unauffällig (damit der Bademeister mich nicht erwischte) am Innenrand des Beckens entlang hangelte bis in den Schwimmerbereich hinein.

    Mit der autodidaktischen Lehrmethode dauerte es nur wenige Minuten, bis ich das nasse Element so weit beherrschte, dass der erneut vorbeischlendernde Schwimmkontrolleur auf den Einsatz seiner Trillerpfeife verzichten konnte.

    Meine Entwicklung nahm langsam Formen an. Ende

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