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Ein überfließendes Maß an Fülle
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Ein überfließendes Maß an Fülle
eBook243 Seiten3 Stunden

Ein überfließendes Maß an Fülle

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Über dieses E-Book

Mitten in einer tiefen Lebens- und Schaffenskrise begegnet der alternde Peter Pistorius der jungen, lebensfrohen Bianca. Sie kommen sich nah und glauben, seelenverwandt zu sein. Gemeinsam verbringen sie turbulente Tage am Meer. Sie scheint ihn zu verjüngen und ihm neue Lebensfreude zu geben. Er träumt von einer Liebesbeziehung mit ihr, aber sie hat wenig gute Erfahrungen mit den Spielarten der Liebe gemacht. Wie geplant, reist sie allein zurück. Wenige Tage später folgt er ihr überstürzt nach und erlebt nun einen Tiefpunkt nach dem anderen. Er will nicht resignieren und sucht auf ungewöhnlichen Wegen ein neues Leben.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum3. Sept. 2020
ISBN9783347131538
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    Buchvorschau

    Ein überfließendes Maß an Fülle - Manfred Müller

    Sie ist da bei ihm, im Haus, im Zimmer nebenan! Ein warmer Hauch durchweht ihn, noch bevor er die Augen öffnet. Oder ist es ein Wunschtraum, noch schnell zu Ende geträumt, bevor er ganz aufwacht? Nein, das kann nicht sein! Sie hat doch selbst gesagt:

    „Bis Morgen zum Frühstück, gemeinsam wie am Meer; ich freue mich."

    Wenn er jetzt die Augen aufschlägt, wird er Gewissheit finden. Noch schreckt er davor zurück, bleibt auf dem Rücken liegen und lauscht: Stille, die vom Trällern einer Amsel im Garten durchbrochen wird. Das heitere Tirilieren und die zunehmende Gewissheit ihrer Anwesenheit erfüllen ihn mit Freude auf den neuen Tag. Da befreit er sich von der Bettdecke. Mit einem Schwung setzt er sich an die Bettkante. Hoppla! Nicht so stürmisch Junge! Sie hat ihn zwar jünger werden lassen, aber doch in Grenzen. Er wartet, bis der Kreislauf nach dem gemächlichen Zirkulieren während der Nacht, aufgeschreckt von dieser heftigen Bewegung, mitspielt und sein Herz sich beruhigt. Dann stellt er sich aufrecht, flüstert „Mit Gott" und geht auf nackten Füßen und in Boxershorts und T-Shirt aus dem Raum, patscht auf dem kalten, glatten Holzboden über den Gang: Er sieht die Tür, hinter der sie geschlafen hat, einen Spaltbreit geöffnet: Das wundert ihn. Er erinnert, die Tür hinter sich zugezogen zu haben, nachdem sie zueinander Gute Nacht gesagt hatten. Sie ist wohl in der Nacht aufgestanden, zur Toilette gegangen und hat vergessen die Tür zu schließen? Aber bei seinem leichten Schlaf hätte er das mitbekommen müssen. Er lag ja halbwach die halbe Nacht, in Erwartung sie würde zu ihm kommen. Unschlüssig verharrt er im Gang zwischen seinem Schlafzimmer und ihrem, er will sie nicht stören, doch dann stößt er sachte die Tür auf und blickt in eine blendende Morgensonne und auf ein leeres Bett. Bettdecke und Kopfkissen, die sie gestern zur Nacht noch frisch bezogen hatten, sind nicht mehr da; das heißt, er hatte sie einen Bezug auswählen lassen, den hell geblümten oder den rosafarbenen, wobei sie immer wieder sagte, er sollte keine solche Zeremonie daraus machen, sie wäre so müde, dass sie auch auf dem Sofa sofort mit einer Wolldecke einschlafen könnte. Aber das heitere Blumenbett fand sie dann doch einladend und kuschelig und gab ihm einen Kuss auf die Wange und er ging von ihr weg, schnell mit einem Lächeln, das sie zurückgab, und er sagte:

    „Schlaf gut, Liebe, solang du Lust hast! Ich warte Morgen früh auf dich."

    Und sie sagte;

    „Bis Morgen zum Frühstück, gemeinsam wie am Meer; ich freue mich."

    Er ruft sich diese Erinnerungen wach, weil er nicht wahrhaben will, was er da sieht: ein leeres, abgedecktes Bett, ein Zimmer, in dem nur Sonnenstrahlen liegen.

    Ach ja! Bei ihrem Bettbeziehen hatte er sie in den Überzug eingewickelt, den Stoff über sie gestülpt und an ihr herabgezogen, über ihren bekleideten Körper bis zu ihren Füßen, so schnell, dass sie sich nicht hätte wehren können, selbst wenn sie gewollt hätte. Aber sie spielte mit, breitete ihre Arme aus und flatterte mit ihnen auf und ab und hüpfte im Zimmer hin und her, als flöge sie, und sagt mit dumpfer Stimme in der Hülle, er solle die Fenstertür aufmachen, sie wolle jetzt durch den Garten fliegen. Er stellte sich ihr in den Weg, damit sie nicht an die Möbel anstieße und sagte:

    „Bleib, Schmetterling, der Garten ist schwarz und in der Nacht gefährlich; ich brauche dich."

    Und er befreite sie, und sie ließ sich aufs Bett fallen, als wäre sie erschöpft, mit gerötetem Gesicht - ihre schwarzen, zerzausten Locken auf den grünweißroten Stoffblumen - und blickte ihn von unten an mit ihren sprühenden Augen, mit gespielter Hilflosigkeit und Ergebenheit, ganz kurz, bis sie aufsprang, mit ihm das Bettzeug richtete und ihm den Kuss auf die Wange drückte. Ja, er will die Tatsache des leeren Zimmers nicht wahrhaben und sich in diese Erinnerungen verlieren. Warum ist er nicht als erstes auf den Gedanken gekommen, sie könnte längst im Garten sitzen oder in der Küche? Diese lähmende Stille und gähnende Verlassenheit des Raums, ja des Gangs in seinem Rücken und des ganzen Hauses! Noch bevor er den Gedanken umsetzt und sich aufmacht, sie zu suchen, sieht er einen Zettel auf dem Nachttischchen liegen; er liest:

    „Guten Morgen, Liebster! Danke für die Nacht hier, bin sehr früh weg, wollte dich nicht wecken, nehme die S-Bahn. Wir sehen uns übermorgen, gebe dir noch Bescheid, wann und wie. Wenn es stimmt, dass der Traum der ersten Nacht im fremden Bett in Erfüllung geht, dann… Ich wünsche dir einen wunderschönen Tag"

    Eine neue Variante ihrer zahlreichen Überraschungen! Sie wollten doch zusammen frühstücken. Deshalb ist er heute früher aufgewacht, um alles vorzubereiten, in Ruhe und mit Vorfreude. Was das wohl für ein Traum war, mit den drei Punkten, gut oder schlecht für ihn? Zumindest fühlt er sich ausgeschlafen, nicht verkatert, trotz der späten Heimkehr, und wird sich auf die neue Lage rasch einstellen können. Er öffnet die Fenstertür und geht im Bettgewand auf die Gartenterrasse. Er weiß, der dichte Pflanzenwuchs ringsum schützt ihn vor neugierigen Blicken der Nachbarn. Er zieht sich nackt aus und nimmt den Gartenschlauch in die Hand, lässt ihn aber wieder fallen: Er hat plötzlich keine Lust, sich kalt abzuduschen.

    Dieses Duschen hat er sich angewöhnt, kurz nach ihrem ersten Treffen. Da fing er an, seinen Körper, seine Kraft und Muskeln wieder zu spüren. Er zwingt sich zu einem Rundblick durch den Garten. Die Enttäuschung über ihr Verschwinden darf ihn nicht in den Griff nehmen. Er muss jetzt ganz da sein, den Augenblick leben, denken, nicht wie es hätte sein können, sondern wie es nun mal ist. Diese Mechanik kennt er auch erst seit kurzem. Sie hilft ihm, sofern sie gelingt, leider nur selten; da muss er noch üben! Es wird schon alles werden, wie es werden soll! Er blickt nach oben zum Himmel. Der ist von einem zarten, dunstigen Blau, in das die Äste ragen, fast kahl schon, schwarze Scherenschnitte im Morgenlicht. Sonnenstreifen fallen durch das Geäst quer über die Terrasse auf seine nackte Haut. Sie wärmen ihn an der Vorderseite, aber im Rücken liegt eine feuchte Schattenkühle. Was soll er tun? Er muss sich neu programmieren. Sein Vormittag war anders geplant, ausgefüllt von ihr. Es sollte das erste Mal sein, dass sie gemeinsam, hier in seinem Haus. frühstückten. Sie fragte nicht, ob es ihm recht wäre. Sie sagte einfach, als sie nach dem stickig warmen Jazzkeller auf der Straße standen, in der feuchten Nachtluft:

    „Weißt du was! Ich komm mit zu dir. Das Auto lass ich stehen. Ich bin zu müde für die Heimfahrt. Und morgen habe ich den späten Turnus. Da kann ich ausschlafen und mit dir gemütlich frühstücken."

    Es war wohl sein Herz, was da in der Brust so rumorte. Den Augenblick leben: Hier, ringsherum, gibt es einiges abzuholzen: Die ausgewachsenen Äste des Ahorns, die hochgeschossene Hasel und der Wildwuchs von Buchen und Hartriegeln in den Hecken und auf der Wiese. Das war der heiße Sommer, der hat die Pflanzen aus der Erde getrieben zusehends, übermächtig. Wann soll er das alles erledigen? Ihn fröstelt: nackt im Garten im Morgendunst. Er geht zurück ins Zimmer, in der Hand seine Kleidung, und blickt sich noch einmal um, vielleicht entdeckt er – außer diesem seltsamen Zettel - noch irgendeine Spur von ihr: Das Bettzeug hat sie ordentlich auf den Stuhl gestapelt: Auch eine Spur von ihr, denkt er. Ihn packt ein heftiges Verlangen, seine Nase, sein Gesicht in diese Wäsche, die vor kurzem ihren Körper umhüllt hat, zu vergraben; das lass besser bleiben, Masochist!

    Er geht zurück in sein Schlafzimmer, das er so Hals über Kopf verlassen hat, sodass er nicht einmal die Bettdecke aufgedeckt, den Rollladen geöffnet, das Licht gelöscht und ein Morgengebet, wenigsten im Ansatz, gesagt hatte. Nun zieht er den Fensterladen hoch, öffnet die Flügeltür und stellt sich in den Türrahmen. Nochmal wärmt ihn die Sonne, von vorn, und dann dreht er ihr den Rücken zu. Sein Blick fällt auf sein Bett und dann auf die andere Bettseite, die unberührte, saubere, glatt bezogene. Er hat nicht daran gedacht - auch wenn er daran gedacht hätte - Bianca hätte er dieses Bett von Susanne nicht anbieten dürfen. Er sieht sie wieder liegen - dieses Bild wird nie mehr aus seinem Kopf gehen - tief in die Bettdecke gehüllt, auch ihr Gesicht, und ihre Kastanienhaare über das Kopfkissen verstreut. Und ein nackter Arm oder ein Bein schauen zwischen dem zerwühlten Bettzeug hervor, als wollte sie so, selbst in ihren Träumen, eine Verbindung zum Raum halten, ihre Erdgebundenheit bewahren.

    Nach ihrem Gutenachtlächeln lag er wach und stellte sich vor, Bianca würde im Türrahmen erscheinen und flüstern:

    „Peter, schläfst du schon? Ich kann nicht einschlafen." Er würde dann sagen:

    „Komm, liebe Bianca, leg dich ein bisschen zu mir", und schlüge einladend seine Bettdecke zurück.

    Er würde sie in die Arme nehmen, genauer er würde seinen Arm unter ihren Nacken legen und sie ihren Kopf an seine Schulter. Und so würden sie einschlafen. So weit sind sie gekommen, denkt er mit einer gewissen Bewunderung für seinen eigenen Reifeprozess, vom Körper zum Herz. Wenn er da an den Anfang ihres Zusammenseins denkt! Aber selbst diese sanften Nachtgedanken erscheinen ihm jetzt, im Licht des sonnigen Tags, als ein bisschen sehr gewagt.

    Im Bad absolviert er, nach dem täglich strengen Ablauf, seine Morgentoilette. Die Routine, diese immer gleiche Abfolge seiner Handgriffe helfen ihm seine Fassung zu finden und geordnet in den Tag zu starten; besonders heute braucht er das. Er darf sich nicht hängen lassen! Er darf nicht auf jede ihrer Einfälle reagieren. Er, der Schwerblütige, der Bedachte und sie, die Leichtfüßige, Sprunghafte!

    Er beginnt seine Muskeln zu massieren, von den Fußfesseln aus, langsam nach oben. Seine Waden und Oberschenkel fühlt er hart und sehnig. Vom vielen Gehen stellt er fest, wie jeden Morgen, als könnten sie über Nacht erschlaffen. Der Bauch flach, die Brustmuskeln fest, auch das gibt ihm Selbstsicherheit für seine junge Freundin. Nicht, dass er vor ihr posieren wolle; diese Begierden glaubt er überwunden. Nein, das Wissen allein genügt ihm. Er mag seinen Körper - wieder, denkt er. Altersspuren, Falten, schlaffe Haut, nichts dergleichen sieht er oder übersieht er geflissentlich; lang genug hat er seinen Körper vergessen, ja vernachlässigt, verabscheut sogar: Dieses Fleischbündel lebt und Susanne ist tot! Aber nun ist er ihm dankbar: Er spürt eine neue Kraft in ihm und er ist gut zu ihm, sind sie doch von einander abhängig. Die Morgengymnastik jedoch lässt er ausfallen. Dazu ist er nicht in rechter Stimmung. Das fehlte noch, dass sein Schwung in wechselseitige Beziehung gerät zu der Zuneigung oder Abneigung von Bianca, wie eine Pflanze, die sich im Wasser reckt und im Trockenen erschlafft.

    Und dann das Anziehen! Er ist erleichtert, dass er sich gedankenlos seine schwarzen Klamotten überziehen kann. Er muss nicht entscheiden, welche Farben zu seiner Stimmung und Tagesrolle passen: Ob Grün zu Grau oder Braun zu Schwarz seinen Zustand heute besser widerspiegeln würden, Schwarz auf jeden Fall nicht; so finster und ablehnend sieht er seine Verfassung nun doch nicht. Fantastereien! Er hat nur schwarze Kleidung; und das seit seinem Eintritt in die Künstlergilde: Kostümierung für seine neue Rolle als Maler. Paulchen Kuhn fällt ihm ein, der Kleine mit der großen Stimme:

    „Statt Weiß trag Rot – das ist die Farbe der Liebe, dann weiß der Mann gleich Bescheid. Trag Blau, statt Grün – das ist die Farbe der Treue, dann spricht für dich dein Kleid. Wenn du eifersüchtig bist, trage Gelb, wenn er dich küsst, oder zieh mal Lila an, dass er nichts erraten kann. Statt Weiß, trag Rot…"

    Er singt es nach, laut, wiederholt: Sein Gesang hallt in dem Kachelbad und verjagt die Reste seiner Enttäuschung. Aber Schwarz wird ihm zunehmend leid. Den Herbst und Winter will er noch durchhalten und im Frühling sich vollkommen neu einkleiden, mit Unterstützung von Bianca. Allein ihr Dabeisein wird helfen, seine Kaufunfähigkeit zu überwinden. Er wird sich ihr etwas anpassen, farblich, nicht als Springinsfield! Sie hat einen guten Geschmack: gedeckte Töne und ein kräftiges, meist rotes, lila Accessoire. Er sieht sie in ihrer dunkelrotlila Lederweste mit ihren schwarzen zerzausten Locken und dem weißen Lächeln. Ach, wäre sie doch hiergeblieben!

    In der Küche trinkt er dann Tee und isst Brot mit dem Aufstrich aus Erdbeermarmelade, die von Susanne. Jeden Morgen stellt er erleichtert fest, wie lange die Fruchtmasse hält, die ihm so kostbar wurde; isst er doch auch etwas von ihrer Zuneigung, ihrer Hingabe mit, die sie allem widmete, was sie in die Hand nahm, ihn eingeschlossen. Während er den Aufstrich bedächtig auf die Brotscheibe verteilt, fühlt er ihre warme Nähe. Die letzten zwei, drei Gläser wird er aufbewahren müssen, für harte Zeiten. Halt! Keine unnötigen Gedanken in die Zukunft. Wenn es soweit kommen sollte, was keiner weiß, wird er handeln. Das ist seine eherne Verhaltensregel: Gedanken in die Zukunft abschalten. Er wird sich nicht an den Tisch setzen, den er für sie beide richten wollte. Ihre Abwesenheit säße ihm gegenüber wie ein Loch im Raum. So stellt er sich zur Anrichte ans Fenster. Die Hecke zum Nachbarn gegenüber müsste geschnitten werden. Auch die unsinnig hohen Baumkronen dahinter nehmen ihm das Licht, vor allem seiner Kletterrose, die von Jahr zu Jahr dünner geworden ist. In diesem Sommer hatte sie nur noch ein paar vereinzelte Blüten, die vorzeitig ihre Köpfe hängen ließen. Er muss Susannes Pflanzen hegen; sie dürfen nicht auch noch vergehen. Sie hätte schon längst den Nachbarn gescheucht, seine rücksichtslose Bepflanzung zu stutzen, das heißt, sie hätte ihn so weit gebracht, mit ihrer sanften Hartnäckigkeit, bis er zum Nachbarn gegangen wäre. Jetzt vermeidet er Auseinandersetzungen, grüßt freundlich und fragt, wie es geht. Das war eine gute Idee, die Einladungen für alle ringsum zu seiner Ausstellung; sie hat Wunder an Liebenswürdigkeit bewirkt.

    Die Frage hängt im Raum, während er zu Nachbars Hecke blickt, was sie bewegt hat, so sang- und klanglos wegzugehen; war es der Traum mit den drei Punkten auf ihrem Zettel? „Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt": Dazwischen bewegt sie sich; müßig, sich den Kopf zu zerbrechen, er fände keine Antwort. Sie wird’s ihm sagen. Aber neue Fragen tauchen auf, wie das mit ihnen ist und wie es weitergeht. Nein nicht die Zukunft vorwegnehmen! Auch eine eherne Regel! Das Heute ist Frage genug: Ihr Treffen ein Überfall der Empfindungen, ihr Zusammensein ein leichtes, heiteres Jetzt! Wenn er mal ernst wird und ihr Verhältnis ausloten will, sagt sie:

    „Peter, mach es nicht kompliziert."

    Sie hatte ihm einmal am Anfang geschrieben:

    „Ich bin glücklich. Es ist so leicht und unkompliziert mit dir."

    Er sollte ihr eine SMS schicken, vielleicht erfährt er so den Grund ihrer Flucht. Er schreibt:

    „Liebste Bianca, ich sitze allein am Frühstückstisch. Du hast es unerwartet eilig gehabt. Ist alles in Ordnung?" Nein, so nicht! Das wirft Probleme auf. Es darf nicht kompliziert klingen. Neu schreibt er:

    „Liebste, ich danke dir auch für die Nacht mit dir unter einem Dach. Geht’s dir sooo gut wie mir? Ich freue mich auf unser Wiedersehen. Melde dich."

    Nein, das ist nicht gut. Sie müsste antworten, wie es ihr ginge. Außerdem gäbe er dieser Nacht, so weit auseinander verbracht, zu viel Gewicht. Es hat ihm gutgetan, sie bei sich zu wissen, sehr gut sogar, aber das will sie sicher nicht wissen. Das könnte sie belasten. Das klingt nach Verpflichtung.

    So schreibt er;

    „Liebste, schön wars. Ich sehe dich. Herzlichst Peter."? Was war schön? Dass sie im Nachbarzimmer schlief wie jeder andere Besuch und früh verschwunden war?

    „Liebste, hab einen leichten, wunderschönen Tag. Peter."

    Das schickt er weg. Immer erwidern sie die Post. So kann er zumindest auf ihre Antwort warten, wenn sie schon nicht da ist. Wieso? Sie hat doch auf dem Zettel hinterlassen, sie würde sich melden, wie und wann sie sich treffen werden. Ob sie jetzt zweimal schreiben müsste? Setzt er sie damit unter Druck? Unter Druck gesetzt zu werden von ihren Leuten, ihrem Kaffeehausbesitzer, ihren Gästen, ihrer Familie, das fürchtet sie wie eine Krankheit. Dinge, die von ihr erwartet werden, die sie nicht mag, die sie nicht kann, tun müssen und nicht Nein sagen können, weil sie es allen recht machen möchte, gut sein möchte zu allen, ja sie glücklich sehen möchte, kurz gesagt, weil sie hohe Ansprüche an sich selbst stellt. Sie nimmt das Leben leicht, sie nimmt das Leben ernst, glaubt er. Zwischen diesen Gegensätzen sieht er sie flattern wie einen farbenprächtigen Schmetterling, der mal hier auftupft und dort, in einem federleichten Tanz der Empfindungen. Weil sie weich und nachgiebig erscheint, aber auch hart und stur sein kann, gerät sie leicht unter Handlungsdruck. Sieht er das richtig, dass sie sich verströmt und dann nach dem Alleinsein sehnt, um ihren Akku wieder aufzuladen? Zu kurz noch ihr Zusammensein, als dass er sie so tief ergründen könnte in ihren Extremen von Leichtsinn und Ernst, Güte und Härte, Feuer und Kälte, alles in ihr versammelt, in einer Schatzkiste. Da braucht es noch viel Zeit und Einfühlung und Feinfühlung und Zuneigung und… und… und, auf das er sich so freut. Ihr Sport, obwohl sie ihm so viel Zeit widmet, kann sie nicht unter Druck setzen. Natürlich! Er verlangt ihr nichts ab, was sie nicht bereitwillig geben will. Kilometer um Kilometer läuft sie in der Woche, durch den Wald, weit außerhalb der Stadt, allein. Seit sie ihm das erzählt hat und ihn dabei angefunkelt hat mit schwarzen, leuchtenden Augen, macht er sich Sorgen, was ihr alles zustoßen könnte. Zu seinen Bedenken sagte sie:

    „Ach, was soll mir schon passieren! Es ist ein unbeschreibliches Gefühl, mit jedem Schritt der Natur näher zu kommen, den Pflanzen, der Luft, den Farben und sich selbst zu spüren mit seiner Kraft und seinem Herz und seinem Atem und sich immer näher zu kommen und dann ganz bei sich zu sein. Nur noch ich, nur noch da!"

    Das kann er nachvollziehen; schließlich sind sie seelenverwandt, wie sie sagt. Er will sie nicht verunsichern, ihr keine Angst machen, und sagte nur:

    „Hast du wenigstens dein Handy dabei, falls etwas sein sollte?"

    „Nein, das störte mich beim Laufen. Mach dir keinen Kopf. Das mache ich schon lange so."

    Da kann er doch nicht an sich halten;

    „Eine so schöne, junge Frau allein im Wald… hm!"

    „Das ist kein Problem. Schlimm ist es, wenn ich mich verlaufe. Ich bin einmal durch den Wald gelaufen, Richtung Forsthaus. Das war so stark!! Ich bin ausgerastet. War nur noch ich und glaubte, gleich am Ziel zu sein und merkte, dass ich nicht mehr wusste, wo ich bin. Ich war total desorientiert und schon ziemlich müde. Ich bin lange umhergeirrt und war fix und fertig, als ich endlich heimkam."

    Sie unterhielten sich dann über das Orientieren im Wald nach den Himmelsrichtungen und dem Moosbefall an den Baumstämmen und das Kartenlesen zur Vorbereitung - da kennt er sich aus, Er wollte glänzen mit seiner Erfahrung, aber das wäre ihr alles zu kompliziert und würde ihr die Freude und Freiheit nehmen, die sie mit ihrem Laufen suche.

    Er spült seine Tasse und den Teller ab, räumt Brot und Marmelade weg, vermeidet nochmal aus dem Fenster auf den Pflanzenwuchs zu schauen und geht die Treppe hoch ins Atelier. Das Gemälde, das er heute seiner Galeristin zeigen wird, steht

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