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Stadtflucht
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eBook637 Seiten8 Stunden

Stadtflucht

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Über dieses E-Book

Der Roman handelt von einem mehrfachen Mord in der Großstadt. Kommissar Sebastian Ulman findet drei Leichen, welche erschossen und von deren Haut unterschiedlich viele, Epidermis-tiefe Gewebeteile entnommen wurden. Drei solch bestialische Morde ziehen Kreise durch Presse, Öffentlichkeit und Politik. Der Druck auf alle Beteiligten ist enorm.
Als einziger Zeuge wird Aaron Röttgers mit aufs Morddezernat der Metropolpolizei Distrikte Süd-West genommen. Verzweifelt sucht Ulman nach Beweisen für Aarons Schuld ...
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum21. Juli 2021
ISBN9783753193090
Stadtflucht

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    Buchvorschau

    Stadtflucht - Stephan Anderson

    Kapitel 1 Morgendliche Routine

    Grafik 2

    ©HeRaS Verlag, Rainer Schulz, Berlin 2021

    www.herasverlag.de

    Layout Buchdeckel Rainer Schulz

    Unter Verwendung eines Fotos von Stefan.lefnaer

    ISBN 978-3-95914-228-1

    Nur fünfzehn Minuten nach dem Sirenengeheul des Weckers, welches seine Tiefschlafphase in ein Delirium namens Halbdämmerung umwandelte und ihn, durch seinen schrillen Ton bedingt, zu sofortigem Aufschwung aus seinem wohlig warmen Bett zwang, verließ Aaron Röttgers schon seine sechzig Quadratmeter-Wohnung Richtung Arbeit. Frühstück war für ihn temporärer Luxus, welchen er sich in aller Herrgottsfrüh niemals leisten wollte. Als er das Sirenengeheul mit einem Flachhandschlag auf den, am anderen Ende des Schlafzimmers, auf einer Kommode befindlichen, Wecker beendet hatte, stand er nun da. Halbnackt, wie nach einer Wiedergeburt, frierend, sich mit seinen eigenen Armen umschlingend und fragend, was ihn davon abbringen könnte wieder in seine wohlig warme Schlafburg zurückzukehren?

    Einen kurzen Moment innehaltend und sich an die winterlichen Frühtemperaturen langsam gewöhnend, starrte er ins finstere Nichts seines verdunkelten Schlafzimmers.

    „Ankleiden, Zähne putzen, Fahrt ins Büro, Arbeiten, Fahrt nach Hause. Und wenn ich wieder zurück bin, gehe ich sofort wieder ins Bett", war sich Aaron sicher.

    Mit diesem Plan, geschmiedet in Halbschlaftrance und fest mit sich selbst paktiert, schleppte er sich nun zitternd zum Kleiderständer um seine, am Vortag zurecht gelegte, Garderobe anzulegen. Schlichte Jeans, ein T-Shirt und ein zweckerfüllender hellgrauer Hoodie sollten ihm die nötige Wärme für den Tag geben. Zumindest, um im fröstelnden Großstadtdschungel, von einem zum anderen öffentlichen Verkehrsmittel wechselnd, nicht zu erfrieren.

    Seine Freundin schien den Aufstehprozess besser gemeistert zu haben. Ihre Betthälfte war sorgfältig zurückgelassen worden. Sowohl die Decke war zusammengelegt, als auch der Polster fein säuberlich aufgeschlagen, als ob nie jemand darin genächtigt hätte. Nach dem abermaligen heftigen Streit am Vortag war es nicht verwunderlich, dass sie wieder einmal frühmorgens das Weite suchte, um ihren schlaftrunkenen, morgenmuffeligen Lebensgefährten nicht schon bei Tagesanbruch über den Weg laufen zu müssen.

    War die On-Off-Beziehung nun für immer beendet oder gab es, wie so oft, nach einer mehrwöchigen Auszeit, in der sie, wie immer, vom Boden verschluckt schien, ein abermaliges Liebes-Comeback? Aaron war dieser Frage schon überdrüssig und während dieses, sich täglich wiederholenden, grässlichen Aufstehprozederes verschwendete er auch keinerlei weitere Gedanken daran.

    Pedantisch, auf Sauberkeit achtend und in einem Hamsterrad des Putzfimmels gefangen, begrüßten ihn seine heimischen vier Wände mit einem starken chemischen Reinigungsmittelgeruch mit desinfizierender Duftnote, als ob er eine Zahnarztpraxis beherbergte. Mit seinen nur halb geöffneten Augen taumelte Aaron durch die unbeleuchteten Räume seiner Wohnung in das Badezimmer. Auch dort verzichtete er, zugunsten seiner an die Dunkelheit gewöhnten Augen, auf die Betätigung des Lichtschalters. Zwei Hände voll kaltem Wasser zur Reinigung des Gesichts und eine vibrierende Zahnbürste in seinem Mund, entfernten auch den letzten Rest melancholischer Rückkehrgedanken in seine behagte Schlafstätte aus seinem Kopf.

    In der Pension, so schwor sich der Morgenmuffel jeden Morgen, werde er keinen Tag vor sieben Uhr aufstehen und erst dann seine Füße aus seinem Bett heben, wenn er wirklich ausgeschlafen ist. Bis dahin hatte er aber noch gut dreißig mühsame Jahre mit fröstelndem Aufstehen im Winter und viel zu heißen, schlaflosen Großstadt-Nächten im Sommer vor sich. Bis dahin war es ein täglicher moralischer Kampf und heute hatte er wieder einmal gegen seinen inneren Schweinehund gewonnen.

    Ein Blick auf die, im Dunkeln leuchtende Vorzimmer-Wanduhr, bestätigte ihn in seinem morgendlichen Zeitmanagement. Gut zwanzig Minuten konnte er immer länger schlafen, wenn er auf das Frühstück verzichtete. Zwar war auch zu Aaron durchgedrungen, dass es sich um die wichtigste Mahlzeit des Tages handelte, doch von seinem täglichen Rendezvous mit seinem Bett, konnte er keine Minute entbehren. Die Wohnung in aller Früh zu heizen wiederstrebte, aus Umweltschutzgründen, sowohl ihm, als auch seiner Freundin, war doch danach den ganzen Tag niemand zuhause, der die Wärme nützen hätte können.

    Nun hatte ihn die Welt aber wieder bei Bewusstsein. Wieder ein Tag voll Mühen und Ärgernissen über das Menschentum außerhalb seiner Festung der angestrebten Einsamkeit.

    Mit festen hellbeigen Winterschuhen, einer dunkelblauen Daunenjacke und einer weißen Haube ausstaffiert, nahm Aaron nochmals einen tiefen Atemzug durch die Nase, um der nicht weichen wollenden Schlaftrance endlich zu entfliehen.

    Als er die Eingangstüre seiner Wohnung öffnete, fuhr ein frostiger Wind in sein Gesicht, welcher sich seinen Weg von Stockwerk zu Stockwerk durch das gesamte Stiegenhaus des Wohnblocks bahnte.

    „Danke für den Empfang du scheußliche Welt. Schönen Donnerstagmorgen", murmelte der passionierte Nörgler vor sich her, während er sich bückte um die Morgenzeitung von seinem Fußabstreifer zu heben und seinen, am Vortag vorgepackten blau-weiß karierten Rucksack, über die Schultern zu werfen.

    Entgegen allgemeiner Fabrikation hatte diese Wohnung keine Türmatte mit dem Wortlaut ´Willkommen!´, sondern wies den Schriftzug ´Home sweet Home´ aus.

    Trotz des frostigen Starts in den Tag machte er sich nun flotten Schrittes auf, die drei Stockwerke Richtung Erdgeschoss, so schnell als möglich, zu bewältigen. Zehn Stiegen hinunter, vier Schritte rechts, zehn Stiegen hinunter. Schon war Stockwerk zwei erreicht und dort wartete auch gleich die erste unangenehme Überraschung des frühen Tages. Die untere Nachbarin war ebenfalls gerade dabei ihre Morgenzeitung aufzusammeln und in diese, ihre schon seit Stunden vorgeheizte Wohnung, an ihren reich, mit Discount-Lebensmitteln gedeckten Frühstückstisch zu bringen.

    „Die dümmsten Menschen lesen keine Zeitung und die weniger Dümmeren wohl nur reißerische Idiotenblätter", ärgerte sich Aaron, als er der Nachbarin näherkam.

    „Guten Morgen, ich wünsche einen schönen Tag", grinste er gekünstelt über das gesamte Gesicht und versuchte der, sich mit dem Revolverblatt in der Hand wieder aufrichtenden, übergewichtigen, lump bekleideten und mit ungewaschenen, fettigen Haaren bedachten Frau so lange als möglich in die Augen zu schauen.

    Außer einem kurzen nach oben Ziehen der Mundwinkel und einem spärlichen Nicken, erhielt er für seine zwischenmenschliche Überwindung keine Resonanz und so setzte er seinen Abwärtsgang in unvermindert hohem Tempo, fort. In Stockwerk eins angekommen, biss er sich in den linken Zeigefinger und ärgerte sich, dass dieser Tag für ihn noch mindestens neun Stunden außerhalb seiner Wohnung bereithielt.

    „Genauso eine", ärgerte sich der selbsternannte Menschenfeind, während der Schmerz in seinem Finger unerträglich wurde. Die Pein erinnerte ihn daran, dass aus seiner Sicht, solche Menschen der Grund waren, warum die Welt aus den Fugen brach. Früher hatten auch solche ungebildeten, Populisten-Wähler, Plastikverschwender und paternalistischen Gesellschaftsdenker eine Arbeit. Nun mussten Leute, wie er, die etwas gelernt hatten, auch für die Unwilligen arbeiten gehen. Denn er war ein selbsternannt Gebildeter, ein gesellschaftlicher Philosoph, ein Erhabener über den kleinkarierten Kollektivismus seiner Umgebung. Andere sahen in ihm schlicht einen zweckpessimistischen Impertinenten.

    Zu seinem Glück blieben die restlichen Nachbarstüren auf Stiege vier versperrt. Stiege vier beherbergte insgesamt zwanzig Wohnungen, aufgeteilt auf fünf Stockwerke und außer seiner unteren Nachbarin, die er noch nie ohne Jogginganzug gesehen hatte und welche sich ausschließlich via Aufzug vom Erdgeschoss in den zweiten Stock fortbewegte, hatte er niemanden aus seinem engeren Wohnumfeld je wirklich getroffen. Für den menschenfeindlichen Morgenmuffel aus Stockwerk drei keinerlei Negativum.

    Nun konnte er genau das Gefühl auskosten, was ihm vor gut acht Jahren vom Land in die Großstadt zog, nämlich die Unbeschwertheit der absoluten Anonymität, zwischen Arbeitsplatz und Wohnung. Ein Betonlabyrinth, ein einsames Paradies voller zwei Millionen Menschen, welche ihn nicht kannten und welche er nicht kennenlernen wollte. Zögernd stieß er die Eingangstüre des quarzgrauen Wohnblocks auf und sowie sie einen Spalt geöffnet war, bohrte sich ein Schwall von Autolärm, dröhnendes Hupen, das Bimmeln der Straßenbahnen sowie ein rauschender Strom von Menschenmassen, die sich von links nach rechts und von rechts nach links, den Weg über die pseudonymen Straßen der Hauptstadt bahnten, entgegen.

    Was für einen Landmenschen das liebliche, niemals abklingende und erdende Rauschen eines Baches oder Flusses war, war für den Großstädter der seit jeher bestehende und niemals zu versiegende Straßenverkehrslärm. Genau an so einem kalten und feuchten Februarmorgen war es für Aaron wichtig den nächsten Bus um sieben Uhr fünfzehn zu erhaschen, um einerseits der eisigen Witterung nur so kurz als möglich ausgesetzt zu sein und andererseits nicht zu spät in die Arbeit zu kommen. Das Aufbegehren der Kollegen, die ermahnenden Worte seines Chefs, all das lag ihm schon in den Ohren, als er, trotz Laufschritts, den Bus nur abfahrend von hinten betrachten konnte.

    Nun musste er, wie fast an jedem Morgen, fünf Minuten Wartezeit überbrücken, welche noch reichlich Zuwachs bekommen sollten, da er mit dem Verpassen des Busses in weiterer Folge auch die U-Bahn und dann den zweiten Umstieg auf die Straßenbahn nicht rechtzeitig erreichen würde. Traditionell fing der Langschläfer an, die Zeitung von hinten zu lesen. Den Sportteil zuerst. Zumindest konnte er sich als Letztangekommener, aber in weiterer Folge Erstwartender, einen der spärlichen Sitzplätze an der Haltestelle sichern. Vertieft in seine morgendliche Lektüre fingen seine Beine wieder an zu schlottern und die temporäre Aufwärmung, vom halbnackten in den angezogenen Zustand, verpuffte im minderen Windschutz der immerhin überdachten Bushaltestelle. Als auch noch leichter Nieselregen einsetzte und die kleinen Tropfen durch die Spalten der eher künstlerisch anmutenden, als ernsthaft schützenden, seitlichen Glasverbauungselemente, immer heftiger werdende eiskalte Böen gepeitscht wurden, ließ er seinen Blick durch die morgendliche Dunkelheit zu seinem gut fünfzig Meter entfernten Balkon schweifen. Nochmals bekräftigte er seinen, mit sich geschlossenen Pakt, gleich nach dem Heimkommen und einer warmen Dusche, wieder in sein wohlig warmes Bett zu verschwinden.

    Sukzessive füllte sich das Bushaltestellenhäuschen und aus dem geruhsamen Sitzplatz wurde für den einzelgängerischen Aaron ein unangenehmes Eckplatzgefängnis, welches ihn, durch leicht klaustrophobische Schübe bedingt, dazu veranlasste aufzuspringen und die Menschentraube in Richtung peitschendem Nieselregen zu verlassen. Vielleicht auch begründet durch sein Aufwachsen als Einzelkind vom Land, hasste er Menschenansammlungen und fühlte sich schnell unfrei, wenn ihm jemand zu nahe kam. Sitzplätze in öffentlichen Verkehrsmitteln waren da zumindest der Kompromiss, nicht mit einem Fremden Gesicht an Gesicht stehen zu müssen. Dazu hatte er sich ein eigenes System zurechtgelegt, um immer als erster in Bus, U- oder Straßenbahnen einsteigen und sich einen Sitzplatz zu ergattern.

    Über Wochen und Monate hatte der Bakterien-Phobiker genau beobachtet, wo jedes Verkehrsmittel, in welcher Station, genau haltmachte. Anhand seiner Empirie wusste er nun genau, dass der hintere Einstieg dieses Busses, in dieser Station, immer sieben Schritte von einem bestimmten Verkehrsschild entfernt war. Während sich seine Mitreisenden nun aus der, nur teilweise schützenden Haltestelle, Richtung einfahrendem Bus bewegten, hatte Aaron schon seine sieben Schritte absolviert und wartete, bis sich die hintere Türe des Personentransportwagens vor seiner Nase öffnete. Gesagt getan, stieg er ein und sicherte sich seinen Fenstersitzplatz, weit abseits der drängenden Menge in der Mitte des öffentlichen Verkehrsmittels. Gleiches Spiel zwei Stationen weiter und genau zehn Schritten von einem Müllkübel aus, gegen die Fahrtrichtung, auf dem U-Bahnsteig. Mit seiner Morgenzeitung in der Hand trat er als Erster die Sitzplatzmusterung an und versuchte sich zugleich mit dieser abzulenken, als sich ein Grummeln in seinem Magen einstellte.

    „Morgenwäsche, Morgenzeitung, aber keine Morgentoilette", ärgerte sich der notorische Spätaufsteher, als das Gluckern in leichte Bauchkrämpfe überging. Das Natürlichste, aber gesellschaftlich gesehen, verruchteste Geschäft des Tages rief, nein schrie unüberbrückbar nach seiner Erledigung.

    Die wöchentlichen Versuche seiner Freundin seine Ernährungsgewohnheiten zu ändern, schmetterte er immer wieder unverhohlen mit dem Argument, dass er einen unverwüstlichen Magen sein Eigen nannte, ab. Selbst als sie ihm zu einer Lebensmittelunverträglichkeitsprüfung überreden konnte und die Ergebnisse klar aufzeigten, dass Käse und rotes Fleisch, zumindest für eine Zeit lang, von seinem Speiseplan zu verdammen wären, hielt er sich nicht daran.

    „Was bleibt mir sonst noch im Leben außer genüsslich Schlemmen?", warf er der besorgten Partnerin stets entgegen. Obwohl der selbsternannte Gourmand mittlerweile einen beträchtlichen Bauchumfang aufwies, welcher aber noch im Rahmen der allgegenwärtigen mittelständischen Wohlstandsleibung war, wollte er partout nichts an seinen abendlichen Fast-Food-Ausschweifungen und Heurigenplatten-Auftischereien ändern. Nein, es war vielmehr eine Belohnung für ihn. Die Beute eines anstrengenden Tages mit nach Hause zu bringen und in den eigenen vier Wänden zu verzehren. Seiner schlechten Ernährung bewusst, geizte er, in der einen oder anderen alkoholgetränkten Zechrunde, auch nicht mit Kritik an jenem Gesundheitssystem, das ihn genauso besteuerte, wie gesunde Topsportler.

    „Warum muss der Ungesunde nicht mehr zahlen? Ich würde es sofort!", behauptete der beschwörende Systemkritiker des Öfteren, mit einer seltenen Zigarette im Mundwinkel und einem Bier an den Lippen.

    Nachdem weder das Wohlstandsbäuchlein, noch die immer tiefer ins kurze Haupthaar ragenden Geheimratsecken seine Freundin störten, änderte der fettige Feinschmecker auch an seiner Lebensweise nichts.

    Wieder fünf Stationen mit der U-Bahn geschafft. Raus aus dem Waggon, die Rolltreppe auf der linken Seite nutzend, um die Rechtsstehenden zu überholen, eilte er, mit seinem schlingernden, blau-weißen Rucksack geschultert, zur Straßenbahnplattform herab. Die körperliche Anstrengung multiplizierte das unangenehme Gefühl des aufstauenden Druckes nur noch. Der Hetzende musste einsehen, dass man dem Stuhlgang nicht davonlaufen konnte. Sein schlimmster Feind, war ihm bekanntlich am nächsten. Ein infiltrierter Quälgeist. Ein individuell-epidemisches Darm-Damoklesschwert, das über seinem schütteren Haar hing.

    Nun war auch der Sitzplatz in der einfahrenden Straßenbahn nicht mehr das Wichtigste auf der Welt. Schnaufend stürmte er zur einfahrenden Tram und quetschte sich, entgegen dem aussteigenden Fahrgaststrom, in den ersten Waggon, den er von den Rolltreppen aus, erreichte. Zumindest hatte er Glück und das Verpassen des Busses, gut zwanzig Minuten zuvor, hatte, wenigstens an diesem Tag, keine weitere Wartezeit als Konsequenz. Die tiefsitzenden Ärgernisse über die Menschenmassen, das feuchtkalte Wetter, der Gestank der Großstadt nach Abgasen, die im Sommer unerträglich wurden, all das rückte in den Hintergrund, wenn er seine einfachsten menschlichen Bedürfnisse nicht befriedigen konnte.

    Fest der Einstellung, dass ihm das Schicksal stets das ein oder andere Fünkchen Glück zuwarf und ihm in der nächsten Sequenz seines verbitterten Lebens wieder nahm, musste er schnell feststellen, dass kein Sitzplatz mehr frei war. Nur im ganz hinteren Waggon, wo er üblicherweise einstieg, freute sich nun ein hinkender Fahrgast, seine geschundenen Beine zu entlasten. Indessen er den Innenraum der Straßenbahn musterte, um nicht vielleicht doch noch sitzend an sein Ziel zu gelangen, drängten immer mehr Fahrgäste in den unglückseligen mittleren Waggon, indem an jeder Haltestelle schier die ganze Welt ein- und aus stieg. Gewiss war sein Schicksal besiegelt. Sein Standplatz für die nächsten vier Stationen war eingequetscht zwischen einer von Kondensat triefende Scheibe, linkerhand einem Rudel Jugendlicher, welche sich lautstark unterhielten, um die aus ihren Smartphones erschallende Musik zu übertönen und rechterhand von zwei Männern in dreckigen violetten Overalls, jeweils mit einem qualitätsfremden Bier in der Hand bewaffnet. Zwischen ihm und der Doppelschwenktüre in die Freiheit waren weitere zwanzig Menschen, dicht an dicht gedrängt.

    Wieder einmal musste er einen Kampf mit seinem Magen, bei unpassendster Gelegenheit ausfechten, wieder einmal musste er, schwitzend und bedrängt, seinem Arbeitsplatz entgegenfahren, wo er, endlich Heilung erfahren sollte. Wenigstens lenkten ihn die Gespräche der jugendlichen Musik-Übertüncher so ab, dass er seine pressenden Unterleibsschmerzen für zwei Stationen vergaß. Dem Darmdruck wich reine Aggressivität, denn der, ohne ausreichende Verwendung von Adverbien und mit nur mäßigem Gebrauch von Artikeln behafteten, jugendlichen Konversation lauschend, fühlte er sich wie ein Giftstachel in seinem unnachsichtigen Mantra an.

    Vernunft und reflektierendes Verhalten. Das predigte Aaron immer wieder. Trage ich mit meinem Verhalten etwas zu einer besseren Allgemeinheit bei oder nicht? Schränke ich andere mit meinem Verhalten in ihrem persönlichen Freiraum und Wohlbefinden ein oder nicht? „Alles ärgerliche Menschen!", monierte der eigenbrötlerische Freizeitphilosoph leise, wieder in seinem Verdauungsschmerz zurückkehrend.

    Aus dem Stehgreif hätte Aaron mindestens dreißig Punkte aufzählen können, die er an den Jugendlichen als abstoßend und verwerflich empfand. Alleine das Tragen von Jogginghose im öffentlichen Raum und die Undercut-Frisuren reichten für ein vernichtendes Urteil. Empathie, Ignoranz, Verunglimpfung der eigenen Muttersprache. Nichts würden diese Halbstarken zu einer dynamischen Zivilgesellschaft beitragen. Nicht einmal mit dem Begriff etwas anfangen. Arbeitslosigkeit, Schmarotzertum und Kriminalität. Schnell hätte Aaron sich seine Welt wieder zusammengedichtet. Aber dafür war jetzt keine Zeit.

    Zu seinem Glück hatte er schon zwei Stationen geschafft und die eingezwängte Menschenansammlung lichtete sich im stets hochfrequentierten mittleren Waggon.

    Doch wie das Schicksal, aus der egozentrischen Egomanen-Sicht, oft mit ihm spielte, stand er nun vor seinem nächsten Problem. Die gewonnene Bewegungsfreiheit brachte mit sich, dass er sich unweigerlich an einer der Stangen und Bügel im Straßenbahninneren anhalten musste.

    Der kleinst-anzunehmende Vorteil von dicht an dicht gequetschten Mitreisenden war ausgestiegen. Für jemanden, der sich, gut zwanzig Mal am Tag, die Hände wusch und nach jedem Handschlag hastig zu einem Desinfektionsspray griff, waren gleichgewichtsaustarierende Halterungen in öffentlichen Verkehrsmitteln so schrecklich, wie ein Griff in eine Bahnhof-Toilette, welche der Reinheitsfanatiker nicht in tausenden Jahren benützen würde.

    Da der unablässige Druck eines Amboss in seinem Enddarm immer schlimmer wurde und er nicht auch noch auf dem durchnässten Boden der Tram landen wollte, griff er in seine Jackentasche und holte ein Taschentuch hervor. Behutsam legte er es in seine Handfläche und überwand sich zum ersten Mal einen Haltebügel, oberhalb seiner rechten Schulter, zu umgreifen. So stand der bakterielle Saubermann nun im dampfenden, nur noch halb überfüllten, mittleren Waggon der Straßenbahn, Konversationen aus jugendlichem Ghetto-Slang lauschend, außerhalb ein dunkler und nasskalter Februarmorgen und rings um ihn über zwei Millionen Menschen, die ihn nicht kannten und die er nicht kennenlernen wollte.

    „Zum Glück haben die zwei ein Frühstück", scherzte Aaron selbstironisch und versuchte sich abermals von seinen Unterbauchqualen abzulenken, als ihm hie und da eine Hopfenpriese des scheußlichen neunundzwanzig Cent Morgen-Bieres, der Overall-tragenden Handwerker, in die Nase stieg.

    Aaron sah sich als Macher, der die Welt änderte und sich nicht der Welt anpasste. Zumindest hatte er es bis hierher versucht. Schnell war seine Einschätzung der beiden Männer vollzogen. Ungebildet, Alkoholiker, weil zu schwach um etwas an ihren bedeutungslosen Leben zu ändern, zu mutlos für Veränderungen, andere sind an ihrem Unglück Schuld, allen voran jeder Politiker dieses Planeten. Noch nie hatte er sich so sehr einen Sitzplatz gewünscht.

    Endlich öffneten sich die Doppeltüren der Straßenbahn und der Gemarterte stolperte in die nasskalte Freiheit. Nun, dem Ziel des Toilettengangs so nahe, meldete sich sein murrender Feind umso mehr. Die Aufstauung kaum noch haltend und das Versagen über seine Schließmuskeln kommen spürend, konnte er weder die erfrischende Morgenluft im Vergleich zur stickigen Subatmosphäre der Tram genießen, noch den abklingenden Nieselregen wahrnehmen, der wie eine zweite Taufe seine Qualen der fünfunddreißig minütigen Fahrt von ihm abwusch.

    Auf Zehenspitzen humpelnd und seine Pobacken zusammengekniffen, schleppte er sich, wie am rechten Oberschenkel angeschossen, den täglichen Weg zwischen Haltestation und seiner Arbeitsstätte entlang. Es war immer die gleiche Häuserblocklänge, aber heute kam es dem vollgestopften Fast-Food-Liebhaber vor, als ob er in seinem prekären Zustand einen Marathon hinkte.

    Doch noch hatte er den Kampf gegen seinen, ihm am nächstgelegenen Feind, nicht verloren. Trotz lediglich drei Grad Plus perlte der Schweiß von seiner hohen Stirn und nur mit Mühe und Not konnte er seinen Schlüssel aus der Hosentasche ziehen, um das Schloss der altehrwürdigen Massivholz-Eingangstüre des Gründerzeitgebäudes zu öffnen. In einer stockwerkweisen Schichtung von Luxuswohnungen kämpfte sich Aaron mittels Lift in den vierten Stock, wo sein Arbeitsplatz inmitten von Immobilien lag, welche er sich niemals hätte leisten können und dessen Bewohnermehrzahl das einfache Geld mit der Vermietung von überteuertem Wohnraum an Mittelschichtszugehörige wie ihn machten, vor. Nicht einmal zum Eintreiben von Mietrückständen würden sie sich in sein Viertel verirren. Aber bis auf einen älteren Herrn, den er gelegentlich, mit Golftasche geschultert, im Vestibül begegnete, musste er noch keine Bekanntschaft mit einem Ansässigen machen. Fürwahr hätte er in dieser Situation kein „Gutes Spiel", für den alten Mann übrig gehabt. Zu dringlich bahnte sich eine unfreiwillige Entleerung seines Hintereinganges an.

    Den Schlüsselbund noch in Händen haltend, humpelte er verkrampft wie man in solch einer Lage nur sein kann, zur Eingangstüre seiner Arbeitsstätte. Zu Aarons Glück war diese einen Spalt geöffnet, was ihm kostbare Zeit einbrachte. Trotz dieser glücklichen Fügung blieb ihm keine Sekunde mehr, bis sein Leiden weigerlich oder unweigerlich ein Ende finden sollte. Nur vier Schritte in den Büroflur getan, riss er die Toilettentür rechts neben sich auf und verschwand aus diesem auch wieder so schnell, wie er eingetreten war. Hastig schlang er seinen Gürtel auf, streifte sich die Jeans vom Gesäß und bevor seine Hinterbacken noch die Toilettenschüssel berührten schoss es, ohne Beigabe von aktivem Druck, aus ihm heraus.

    Ein Mal, zwei Mal, drei Mal.

    Für einen Moment des absoluten Glücks und Wohlbefindens vergaß er all das Schlechte, was er für gewöhnlich in der Welt sah. Da war es auch nebensächlich, dass die Klobrille noch oben war. Unvorstellbar für einen notorischen Klopapierausleger. Stück für Stück kränzte er normalerweise das gerollte Reinigungsutensil über den Sitzbereich. Nun saß er mitten in der Kloake. Der scheißende Putzfanatiker spürte, wie die Bakterien seine hinteren Oberschenkel anfraßen. Aber was sollte er machen? Zu schön war die köstliche Befreiung. Erstmals auf dem stillen Örtchen eingerichtet, legte er nun auch Jacke sowie Rucksack ab und kramte aus letzterem seine Morgenzeitung heraus.

    Für die nächsten paar Minuten sollte nur ein bisschen Ruhe einkehren.

    Kapitel 2 Mittagserwachen

    Mit dem wenig fantasievollen Klingelton „Ring-Ring riss sein altehrwürdiges Nokia 105 Kommissar Sebastian Ulman aus seinem seichten Schlaf. Schon beim dritten „Ring zuckte er am Rücken liegend auf und tastete den Nachttisch nach dem bimmelnden Unruhestörer ab. Während er, geblendet von den wenigen Sonnenstrahlen, die sich zwischen Fensterrahmen und Jalousien, den Weg in sein mäßig verdunkeltes Schlafgemach bahnten, stieg der immer wilder werdende Drang in ihm hoch, dem ruhestörenden Geläut ein Ende zu bereiten. Ein Utensil nach dem anderen warf seine blind-tastende Hand vom Nachtisch, begleitet von einem lauten Geschrei. Der Schlaftrunkene erhob sich mit tobendem Gebrüll aus seinem Bett und malträtierte den Lichtschalter, nebst seiner Schlafstätte mit einem Faustschlag, so dass dieser von nun an das Zimmer hell auf erleuchtete. Bereits Taschentuchspender, Schlaftabletten und eine halbleere Flasche Bier lagen am Boden, bis Ulman endlich sein Mobiltelefon ergreifen und abnehmen konnte.

    „Wissen Sie wie spät es ist?", murmelte er mit seiner tiefen, kratzigen Reibbrettstimme in den Apparat.

    „Ich bitte vielmals um Entschuldigung Herr Kommissar. Hier spricht die Leitstelle der Metropolpolizei Distrikte Süd-Ost. Ich weiß, Sie kommen aus der Nachtschicht und konnten nur wenige Stunden rasten", entgegnete eine zittrige, eingeschüchterte Stimme am anderen Ende der Leitung.

    Kommissar Ulman war von Haus aus kein Mann langer Konversationen und schon gar nicht über das von ihm verhasste Mobiltelefon. Daher versuchte er stets Fragen, welche eine Unterhaltung verlängern würden zu vermeiden und lieber eigenständig zwischen den Zeilen zu lesen oder das Gehörte in interpretative Kombination zu setzen.

    „Ich hatte Sie gefragt wie spät es ist? Aber egal. So weiß ich es nun auch. Mahlzeit", entgegnete er dem Anrufer mit einem leicht versöhnlicherem Ton.

    „Herr Kommissar, Sie müssen unbedingt zu einem Tatort kommen. Ich sende Ihnen die Adresse per SMS. Ihre Hilfe wird dringend benötigt!"

    Ulman beendete das Telefonat mit einem tiefen Seufzer und der kurz angebunden Antwort „Ja", betätigte den roten Druckknopf seines Tastentelefons und warf es wieder auf den Nachttisch.

    Für gewöhnlich tat er sich mit dem Wachwerden recht einfach, hatte er doch seit geraumer Zeit Probleme einzuschlafen und seine Arbeit war dadurch eine willkommene Abwechslung zu der tristen Einsamkeit in seiner kleinen Garconniere. Vielleicht war es genau diese Tätigkeit, die ihm den Schlaf raubte? Der alternde Ermittler war einer jener Menschen, die lebten um zu arbeiten und nicht arbeiteten um zu leben. Doch die stetigen Kopfschmerzen nach dem Erwachen, ließen ihn die natürliche Lust auf Schlafen vergehen. Seine spärliche Freizeit verbrachte er in Beisln, Kneipen, Spelunken, Bars und im Zusammenbau von Modelschiffen, welche die Regale und Stellagen seines engen Wohnraums zierten. Durch den von Schmutzwäsche, Zigarettenstummeln, Verpackungsrelikten, leeren Bierflaschen und Essensresten übersäten Laminatboden seiner Wohnung kämpfte er sich von seiner Schlafstätte, durch die kleine Küche, in das Badezimmer, welches nur aus einer schmalen Dusche und einem Waschbecken bestand, vor. Die im Stiegenhaus verortete Toilette durfte er sich mit seinen zwei Nachbarn teilen. Am putzigen Waschbecken des Minibadezimmers angekommen, welches sich seit dem letzten, lange zurückliegenden Putzganges, schon von weiß in ein leicht gräuliches Braun verwandelt hatte, wusch er sich sein Gesicht mit warmen Wasser ab und starrte für kurz in den darüber hängenden Spiegel. Kaum noch ein säuberliches Bild seines Benutzers gab dieser wieder, war er doch ebenfalls seit einiger Zeit nicht mehr von verkalktem Spritzwasser- und Haarfettresten befreit worden. Zumindest zurückgebliebene Zahnpaste-Reste konnten die Beobachtung seines Antlitzes optisch nicht einschränken, weil eine Spülung mit Mundwasser seinen Hygieneansprüchen einer Morgentoilette genügte. Zwar brachte ihm diese Herangehensweise bereits die Verluste von drei Backenzähnen und eines Schneidezahnes ein, doch dies kombinierte der Mittsechziger eher mit seinem Frühpensionsalter.

    Seine genicklangen, schwarzen Haare hingen in sein faltiges Gesicht und verdeckten seine tiefliegenden, rehbraunen Augen, die bei jedem ersten Kennenlernen seinem Gegenüber einen vertrauten Eindruck hinterließen, aber auch nur, wenn der Lichteinfall für den Betrachter der richtige war und diese nicht durch seine ausgeprägte Augenbrauenpartie beschattet wurden.

    Ulman öffnete ein kleines Kästchen nebst des Spiegels und kramte einen schwarzen Kamm hervor, der ihm seit Jahrzenten gute Dienste leistete, legte ihn auf das Waschbecken und presste einen dicken Patzen Haargel darauf. Alle Bewegungen liefen in Zeitlupe ab, um seinen, von Kopfschmerzen geplagten Kopf, so wenig wie möglich zu bewegen. Die genicklangen Haare frisch nach hinten gekämmt und zu einem Zopf gebunden, roch er an seiner Vortagskleidung, die über den Duschtürrahmen hing. Dem Genuss von gut zwanzig Zigaretten während der letzten Nachtschicht, sowie ein frühmorgendlicher Besuch in seiner Stammkneipe, bevor er sich in sein einsames Bett windete, war es zu verdanken, wollte er das gelb-braun-grün gestreifte Hemd und die graue Stoffhose, wie gewöhnlich noch zumindest einmal tragen, dass er das Gewand vom verrauchten Gestank des Vortages befreien musste. Hierzu warf er beide Kleidungsstücke in die Dusche und deckte sie mit einer großen Gaswolke voll Deodorant ein. Obwohl seine, einst weiße Unterwäsche, ebenfalls schon die Farbe des Waschbeckens angenommen hatte, streifte er Hemd und Hose über diese und trappte zur Eingangstüre der Garconniere, wo er Dienstwaffe, Marke und seine billige Armbanduhr, dessen Lederband bereits spröde und ausgeleiert war, anlegte.

    „Heute mal Frühstücken?, überlegte sich der großstädtische Ermittler, „ja, heute nehme ich mir die Zeit.

    Vorbei an seiner mit ungewaschenem Geschirr zugepflasterten Küchenarbeitsfläche, kämpfte sich die hagere und knöchrige Gestalt nochmals über den, am Boden befindlichen Unrat, zu einer Kommode, welche die einzige in dem Wohnraum war, die nicht mit Modellschiffen, übervollen Aschenbechern oder eingegangenen Topfpflanzen bestückt war. Sein rechter Zeigefinger streifte über eine Aneinanderreihung von sorgfältig angeordneten Glasflaschen. Der großstädtische Ermittler war sich unschlüssig: „Rum, Whisky, Wodka oder doch Gin?" Seine Frühstücksmusterung endete bei einer Flasche ´Don Papas´-Rum, den er sich friedlos in ein schmutziges Glas leerte und hinunterschlang.

    War Sebastian Ulman vielleicht nicht der gesprächigste, best-gekleidete oder Körperhygiene hochachtungsvollste Kommissar des Morddezernats, er hielt jedoch viel von hochwertigem Hochprozentigen. Und entgegen seiner Kneipenbesuche, die er mal gesprächig am Tresen, mal leise trinkend in einer dunklen Ecke verbrachte, bis er kein Glas mehr halten konnte, genoss er es, dass zumindest ein etwas anspruchsvolles Zuhause auf ihn wartete. Es konnte auch schon einmal vorkommen, dass ihn seine Spirituosensammlung sogar hie und da dazu verleitete eines von zwei Fenstern seines Wohnraums zu öffnen und mit einem guten Glas in der Hand, das darunter befindliche, städtische Parktreiben zu beobachten.

    Sicherlich war es auch sein Alter von Anfang sechzig, das seiner Meinung nach die tiefen Falten auf seiner Stirn und seinen hohlwangigen Wangen mit sich brachte, doch diese Art von Frühstück trug sicher einen großen Teil dazu bei, dass die tiefblauen Augenringe, welche sein Gesicht markant zierten, seinen genetisch, vorbestimmten Zellverfallsprozess deutlich beschleunigte. Sein Spiegel vermochte ihm keinen genauen Anblick seiner selbst zulassen und tief in seinem Inneren wusste er auch wohl, warum der nächste Wohnungs-Putzgang schon seit zwei Monaten auf sich warten ließ, denn wie er es auch hasste von anderen belogen zu werden, so belog er sich selbst täglich am meisten. Keine fünf Sekunden dauerte es, da war des Modellbauers Frühstück auch schon Geschichte. Und weg waren die Kopfschmerzen. Er surfte wieder auf seiner Welle.

    Gekonnt platzierte er das gebrauchte Glas auf dem Geschirrberg in der Küche, ohne dass dieser aus dem Gleichgewicht kam. Das verhasste Mobiltelefon eingesteckt und nur mit einer dünnen Frühlingsjacke bekleidet, verließ er seine Festung der deprimierenden Einsamkeit in Richtung Tatort.

    In seinem himmelblauen Citroen AX sitzend, die Standheizung voll aufgedreht, machte sich der alternde Ermittler daran, die von der Polizei-Leitstelle per SMS zugsandte Adresse nachzulesen. Wie er zum wiederholten Male die falsche Tastenkombination seines Nokia 105 drückte und noch immer nicht in das gewünschte Sub-Menü vorstoßen konnte, schleuderte er es mit einem lauten Schrei auf die Innenseite der Beifahrertür, so dass es auf dem Beifahrersitz zum Liegen kam. Der Grobmotoriker aus einem anderen Jahrzehnt hatte keine Nerven für diesen technischen Firlefanz und stieg aus seinem Auto aus, um dem Beisel auf der anderen Straßenseite einen kurzen Besuch abzustatten. Während sich sein, in die Jahre gekommenes Fortbewegungsmittel, noch immer unverschlossen auf offener Straße per Standheizung aufwärmte, trat Ulman in die, ihm gut bekannte, Spelunke ein und bat um Benützung des Festnetztelefons.

    „Guten Morgen Basti!, begrüßte ihn der verwunderte Wirt, der gerade mit Gläsern abtrocknen beschäftigt schien, „schon wieder im Dienst nach der harten Nacht?

    Die wenigen Gäste, die aufgeteilt auf dem Tresen und den gut zehn Bistrotischen des dunklen Etablissements saßen, blickten alle auf den wiederkehrend Eintretenden und erwarteten in ihrer nichtstuerischen Neugier eine Antwort.

    „Das Verbrechen schläft nie. So wie ich. Was ist nun mit dem Telefonat?", entgegnete, der in Eile geratene Kommissar.

    Der exzentrische Wirt presste seine Lippen zu einem Kussmund zusammen und deutete zum Standort des gewünschten Apparates, um dann die so oft gestellte Frage aller Fragen in Richtung des immer wiederkehrenden Gastes zu stellen: „Und was darf es zum Trinken sein, Rum?"

    „Nein. Heute nicht, lehnte Ulman dankend ab, während er die Telefonnummer der Leitstelle skoptisch eintippte. Nach dem ersten Wählton fuhr er dann doch mit seiner Ausführung fort: „Heute nehme ich einen „Black Label.

    „Leitstelle der Metropolpolizei Distrikte Süd-Ost. Wie kann ich Ihnen helfen?"

    „Ja, Kommissar Sebastian Ulman hier", sprach er in den Hörer und beobachtete zugleich das Einschenken seines hochprozentigen Getränkes.

    „Der Kommissar Ulman? Es ist mir eine Ehre. Warum rufen Sie auf der Notrufnummer an?"

    „Egal. Bitte. Ich wurde zu einem Einsatz gerufen und kann die Adresse von diesem Mobiltelefon nicht ablesen. Es muss kaputt sein."

    „Haben Sie schon versucht in das Menü zu gehen und auf ‚Nachrichten abrufen‘ zu tippen?"

    „Los, geben Sie mir einfach nochmals die Adresse durch."

    „Entschuldigen Sie Herr Kommissar, aber ich darf Ihnen die Adresse nicht per Telefon durchsagen. Vorschriften. Ich habe alles über Ihre schwierigsten Fälle in der Polizeischule gelernt. Ich möchte Ihnen sagen wie sehr ich Sie bewun …"

    „Geh scheißen!", schrie der passionierte Choleriker und nippte lieber an seinem frisch servierten Whisky.

    Der alternde Ermittler drosch den Hörer auf das Wählgerät und rannte aus dem Beisel, um mit dem Slalomlauf durch die stauenden Autos, auf die andere Straßenseite, zu seinem parkenden französischen Oldtimer, zu gelangen. Wenn ihm eines im Leben wichtiger war, als sich sein derbes Dasein schön zu saufen, dann seine Arbeit. In seinem nun vollständig auf fünfundzwanzig Grad aufgeheizten Fahrzeug angekommen, erinnerte er sich nochmals, was ihm sein junger Kollege im Telefon vorgeschlagen hatte. Der Technikverächter replizierte nochmals seine Worte, während er sein Mobiltelefon genau betrachtete. „Menü drücken. Dann Nachrichten abrufen. Ha!, jubelte er, „ich habe es geschafft. Niemanden brauche ich, außer meinen Verstand!

    Freudig legte er den ersten Gang seines Citroen AX ein und machte sich auf den Weg zu der gesandten Tatortadresse. Während er sich von Ampel zu Ampel staute, stand ein breites Grinsen inmitten seines Dreitagesbartes. Endlich schien wieder ein spannender Fall, in einem gut betuchten Wohnviertel seinen tristen Arbeitsalltag aufzupeppen.

    Karriere über seinen Kommissarsposten hinweg wollte der morbide Mittsechziger sowieso nie machen, da er den übermäßigen Umgang mit dilettantischen Menschen sowieso nur aus dem Weg ging, wo er nur konnte und ihm mögliche Personalverantwortung an den Schreibtisch fesseln würde.

    Kommissar Sebastian Ulman war ein Kind der Großstadt. Ein Mann, der knifflige und schwierige Fälle durch seine Kombinations- und Beobachtungsgabe löste und dabei, von seiner Kindheit in einem übervölkerten Sozialbau, profitierte. Musste er schon Menschen um sich herum dulden, dann zumindest solche, welche seine rauborstigen Sprache und Umgangsformen verstanden. Diese empathischen Fähigkeiten gegenüber der einfachen Bevölkerung konnte man auf keiner Polizeiakademie erwerben und mit ausgelerntem Kadetten-Frischfleisch, wie er seine nachrückenden, jungen Kollegen nannte, wollte und konnte er sich nicht herumschlagen. Keiner von denen würde mit einem Schritt den rechten Pfad der Vorschriften verlassen. Ulman schon. Und das war, mitunter, sein Erfolgsrezept.

    Die Wartepausen bei unzähligen roten Ampeln nutzte er mit einem routinierten Griff in das Handschuhfach seines 1988 vom Band gelaufenen französischen Vehikels, welches schon so gut wie reif für die Schrottpresse war, allerdings noch immer zweiunddreißig Jahre weniger auf dem Buckel hatte als sein Besitzer und holte eine Tablette Aspirin Akut hervor, welche er prophylaktisch runterschluckte.

    Nur im Schritttempo vorankommend kurbelte der nikotinsüchtige Mordermittler das Fahrertürfenster nach unten, um den überheizten Wagen durchzulüften und zündete sich dabei gleichzeitig eine Zigarette an. Der nun hereintönende Straßenlärm machte ihm nichts aus, denn was für einen Landmensch das erdende Rauschen eines Baches oder Flusses war, war des Großstädters, der seit jeher bestehende und niemals versiegende Straßenverkehr. Mit einem tiefen Zug von seinem Glimmstängel hoffte er nun, dass für die nächsten paar Minuten ein bisschen Ruhe einkehrte.

    Kapitel 3 Tagwerk Tatort

    Die Anzahl an Tatorten die Kommissar Sebastian Ulman in den letzten neununddreißig Dienstjahren beim Morddezernat zu sehen bekam, hatten in ihm eine Abgestumpftheit gegenüber dem Anblick von verstümmelten Leichen, dem Empfinden von Mitgefühl für die Hinterbliebenen und der Nachsicht mit vermeintlichen Verdächtigen aufgebaut. Obwohl er zu Beginn seiner Karriere das traumatisierende Gesehene, oftmals abends nur mit einem Sechserpack Bier oder einem Besuch an seiner hauseigenen Spirituosenbar verdauen konnte, wich über die Jahre die Betroffenheit einem stetig wiederholenden Ritual nach Schichtende. Auch wenn seine größten und spektakulärsten Fälle schon einige Jahre zurücklagen, hatte er nie den Elan für seine Arbeit verloren. Was Ulman am meisten reizte war der Blick hinter die Fassade eines Tathergangs und des Täters. Dabei vermisste er die gute alte Zeit, in der Kommissare noch zuschlagen durften, bevor Fragen gestellt wurden. Doch diese Zeit war vorbei, der Mittsechziger in ihr aber moralisch und methodisch verblieben. Es ging ihm mehr um das Reinhalten seiner Stadt, um den Revierkampf gegen die Verbrecher, die ohne seine Erlaubnis sein Territorium aus dem Gleichgewicht brachten.

    Geistig und kulturell waren die Distrikte der vornehmen Viertel an der Westseite nie sein Gebiet, doch brachte es ihm heitere Freude, dass auch diese elitäre Gesellschaft nun die Hilfe von Kommissar Sebastian Ulman benötigte. Dem dünnen, hageren und schmalbrüstigen Kind aus dem Sozialbau, der sich im Leben alles hart erarbeiten musste und der am Liebsten in einer Zeitschleife festhängen würde, wo die Verbrechen noch selten, aber spektakulär waren und kein Kommissar ständig via Mobiltelefon erreichbar war. Zu seinem Leidwesen hatten sich die Zeiten geändert und so musste der großstädtische Kommissar verdutzt feststellen, dass der ihm zugewiesene, großräumig abgesperrte Tatort, nur so von Schaulustigen, Fernsehkameras und Einsatzfahrzeugen aller städtischen Blaulichtorganisationen wimmelte.

    Noch vor fünf Stunden humpelte diese Häuserblocklänge Aaron Röttgers mit zugekniffenen Pobacken entlang und nun war sie für die Öffentlichkeit abgeriegelt. Keine Autos konnten sich mehr auf der dreispurigen Prachtstraße entlang gen Westen stauen, keine Straßenbahn, welche überfüllte Mittelwaggons durch die Großstadt beförderte und keine konsumsüchtige Menge an einkaufswütigen Kunden in den Boutiquen, welche die Erdgeschosslokale der imposanten Gründerzeitbauten beherbergten, war zu sehen. Nur eine Traube von sensationssüchtigen Leuten, die sich mit kameraschulternden und berichterstattenden Journalisten, trotz wiedereinsetzendem Nieselregen, hinter Absperrgittern, um die besten Plätze rangen. Was für ein Anblick für den wortkargen Kommissar, der deshalb in einer schwach frequentierten Seitenstraße, quer über zwei Behindertenparkplätze, seinen rauchenden 1988er-Dieselspucker abstellte und vor dem Aussteigen noch seine Mordkommissionsparkplakette, die ihm zum Parken an jedem Ort der Hauptstadt bemächtigte, auf das Armaturenbrett legte, um sich unbemerkt in die abgesperrte Tatzone zu schleichen.

    „Kommissar Ulman?", fragte ihn eine jugendliche Stimme aus seinem Rücken tretend, als er das Gebäude durch die altehrwürdige Massivholz-Eingangstüre, unter rufenden Fragestellungen der Journalisten, betreten wollte.

    „Ja?", antwortete der alternde Ermittler und wandte sich dabei, mit seiner stetigen Überbetonung der Vokale, so dass sich jedes Wort wie ein Befehl anhörte, dem Fragesteller zu.

    Seine tiefliegenden rehbraunen Augen erblickten einen blondgelockten Polizisten, ein junger Wachtmeister Anfang zwanzig, mit freudigem Gesichtsausdruck, in perlnachtblauer Uniform. Als hätte Ulman den Hauseingang nicht schon selbst gefunden, wies ihm der junge Gesetzeshüter den Weg und begleitete ihn ins Vestibül. „Herr Hauptkommissar, ich möchte sagen, wie sehr ich Sie und Ihre Fallstudien bewundere", umgarnte er den, fassungslos vor dem versiegelten Fahrstuhl stehenden Großstadtneurotiker.

    „Warum kann ich den Aufzug nicht benutzen?", warf er dem Wachtmeister mit grobem Ton, in seiner gewohnt-einfachen, mundartigen Artikulation an den Kopf, ohne ihn dabei eines Blickes zu würdigen.

    „Von der Spurensicherung noch nicht freigegeben", klärte ihm sein blondgelockter Verehrer auf.

    Nun mussten die teergetauchten Lungen des Mittsechzigers auch noch zu Fuß in den dritten Stock wandern. Seine Stirn wurde immer runzeliger und zog seine Augenbrauen über seine rehbraunen Augen. Erregt ob der kommenden körperlichen Anstrengung, schubste er seinen jungen Kollegen zur Seite und verabschiedete sich mit den Worten: „Wischen Sie sich das ekelhafte Grinsen aus dem Gesicht. Ich finde alleine hoch. Und übrigens, nur Kommissar! Keine Beförderung der Welt kann so reizend sein, um Frischfleischdilettanten wie Sie von einem Schreibtisch aus zu delegieren!" Perplex blieb der junge Wachtmeister im Vestibül des Neo-Renaissance-Stil-Baus stehen und verfolgte voller Desillusion den schleppenden Aufstieg seines detektivischen Idols.

    Schnaufend und stöhnend zog sich Ulman, an den reichlich mit Verschnörkelungen verzierten, gusseisernen Stiegen-Geländer aufstützend, von Stockwerk zu Stockwerk, vorbei an prächtig verzierten und dekorierten Sicherheitstüren. Keuchende Laute begleiteten seinen Weg bis in den dritten Stock, wo es bereits von Mitarbeitern der Spurensicherung wimmelte. Mit Einweg-Overalls, Überziehschuhen und Plastikhandschuhen adjustiert, pinselten sie die elfenbeinfarbig-gestrichenen Wände und die weiß-schwarz-karierten Marmorfliesenmuster am Boden des Treppenhauses, in der Hoffnung einen tatrelevanten Finger- oder Schuhabdruck zu finden, mit Rußpulver ab. Als der teerlungengeschädigte Kommissar endlich wieder einer normalen Atmung nachgehen konnte, deutete er auf die Dienstmarke auf seinem Gürtel und signalisierte einem seiner pinselnden Kollegen, ihm bitte die gleiche beweismittelschonende Montur zu reichen. Während er sich hüftsteif in den weißen Overall quälte und nur mit Mühe und Not, in Ermangelung eines trainierten Gleichgewichtssinns, seine schnürsenkellosen Lederslipper, die das gleiche Baujahr wie sein Auto zu haben schienen, mit dem Schuhschoner überstreifte, steckte er sich eine Zigarette in den Mundwinkel. Profihaft genoss er, ohne Einsatz seiner Finger, die derweil mit dem Überstreifen von schwarzen Plastikhandschuhen beschäftigt waren, die ersten Züge seines Glimmstängels. Mit aufgeladenen Nikotintanks machte er sich nun auf den Weg Richtung Eingangstüre des Tatorts, welche, entgegen dem Eintreffen Aarons vor gut fünf Stunden, nicht mehr leicht, sondern sperrangelweit offenstand.

    So, wie bei der massiven Haupteingangstüre ins Vestibül des Zinshauses, waren auch bei dieser keine Spuren eines gewalttätigen Fremdeindringens zu erkennen. Beide Schlösser und Beschläge waren von zylinderschlitzsuchenden Schlüsseln zerkratzt, aber nicht beschädigt. Gleich einen Meter nach der Türschwelle offenbarte sich dem, von solchen Anblicken bereits abgestumpften großstädtischen Kommissar, ein grässliches Bild.

    Kleine leuchtgelbe Hinweistafeln mit schwarzer Nummerierung von eins bis sechs waren im gut fünf Meter langen und drei Meter breiten Flur verteilt. Inmitten der akribischen Beschilderung lag ein fünfundvierzig- bis fünfzigjähriger, molliger Mann, in einer riesigen Blutlache. Weder seine Augen noch seine Gesichtszüge oder die Farbe seines schütteren Haares waren zu erkennen, war doch eine Pistolenkugel, vermutlich aus kurzer Distanz, in seinen Nasenansatz ein- und am Hinterkopf wieder ausgetreten, was zu einer grauenhaften Entstellung seines Minenspiels führte und den alten Holzboden und die weißen Wände neben ihm mit kleinen Teilen seines Gehirns sowie seiner Haut bespritzte. An den Hautteilen waren noch teilweise die Haare zu sehen. Eingebettet in das schauerliche Bild von Blutspritzern und umherliegenden Gewebefetzen, waren schlecht erkennbare Sohlenabdrücke am Holzboden. Seine Brille lag genau am Steg zerteilt links und rechts neben ihm. Sein weitgeöffnetes, hellbeiges Hemd war in ein dunkles Rot gefärbt, als hätte man seinen Oberkörper in ein Fass voll Blut getunkt.

    Der erfahrene Kommissar beugte sich über die Leiche, ließ seinen Blick auf die früher weißen Flurwände streifen und musterte genau die Verteilung und Intensität der darauf verteilten roten Sprenkel. Es roch wie in einer Schlachthalle, welche gerade desinfiziert und ausgeräuchert wurde. Der abgestandenen Kupferausdünstungen des Todes. Als würde man eine Fleischerei betreten und kein Büro. Intuitiv gewann seine vollste Aufmerksamkeit aber schnell die Suche nach dem Einschussloch, des am Hinterkopf des Opfers ausgetreten Projektils.

    „Wer hat hier von euch das Sagen?, rief der aufgekratzte Ulman den Ruß pinselnden Spurensuchern in das Stiegenhaus entgegen. Bevor die nicht zu reagieren scheinenden, vertieft in ihrer Arbeit steckenden Kollegen, ihm antworten konnten, hallte eine Stimme vom anderen Ende des langen, über zwei Meter siebzig hohen Altbauganges der zu Büroräumen umfunktionierten Luxus-Wohnung: „Hier, ich Herr Kommissar!

    Es war der weitbekannte Chef der hauptstädtischen Spurensicherung Dr. Peter Weiß, der es sich nicht nehmen ließ diesen Tatort, in seinem Wohndistrikt, selbst zu sichern. Zu Ulmans Glück ein Mann der seine Sprache und seine Art der Ermittlung respektierte und dem auch seine privaten Lebensgewohnheiten keine Sorge bereiteten, konnte die Reputation des langjährigen Mordermittlers doch von seinen investigativen Erfolgen der Vergangenheit, bis zu seiner baldigen Pensionierung leicht zehren. Daher war es dem am Boden knienden Mittsechziger auch eine willkommene Abwechslung einen alten Großstadtfuchs, wie er es war, freundlich entgegenzutreten. Der oberste Spurensicherer der Kapitale war es gewohnt, mit vielen unterschiedlichen Charakteren bei den jeweiligen ermittelnden Abteilungen zusammenzuarbeiten und in Ulmans Fall war die Sachlage einer fruchtbaren Zusammenarbeit klar, wenig fragen und dem Hauptermittler vertrauensvoll mit forensischen Fakten zuarbeiten.

    „Herr Doktor Weiss. König aller Klassen. Ich knie vor Ihnen und bitte um die Antwort wo das ausgetretene Projektil eingeschlagen ist?"

    „Auch Ihnen einen Guten Tag Kommissar Ulman. Dem Einschlag in der hinteren Wand des Raumes nach zu urteilen, da wo ich gerade stehe. Die Patronenhülse ist nicht auffindbar und das Projektil wurde aus der Wand entfernt."

    „Also nach dem Austritt muss das Projektil noch gut sechs bis sieben Meter geflogen sein um dort einzuschlagen. Ich tippe auf eine 9mm Pistole. Wie groß ist das Opfer?"

    Dr. Weiss ging dem grübelnden Kommissar entgegen um ihm genau mitteilen zu können: „Ein Meter und dreiundachtzig Zentimeter."

    „Und das Projektil ist glatt ausgetreten. Das heißt der Schütze war circa einen Meter fünfundsiebzig bis einen Meter achtzig groß. Die Einschusskerbe ist leicht links von hieraus gesehen, das heißt er ist Rechtshänder."

    „Sehr gut gesehen, deshalb sind Sie der beste, Ulman. Und er hatte, den blutigen Sohlenabdrücken nach zu urteilen, Schuhgröße sechsundvierzig oder achtundvierzig."

    „Die Schnittverletzungen wurden nach seinem Tod verübt?"

    „Ja, ´post mortem´."

    „Bitte Weiss, sprechen Sie in einer Sprache, die ich verstehe! Also der Täter läutet hier an, schießt dem Mann in den Kopf, schneidet seine Kleidung auseinander und wendet ihn. Nur, um Gewebeteile aus ihm herauszuschneiden?"

    „Sieht so aus."

    „Weiss, alles deutet auf einen Trophäenjäger hin, der das Opfer gekannt hat und die Gegebenheiten vor Ort ebenfalls."

    „Kommen Sie mit, Herr Kommissar, ich zeige Ihnen die anderen Opfer."

    „Andere?", war der alternde Ermittler erstaunt aber nicht betrübt.

    „Ja, es gibt noch zwei weitere Leichen."

    „Scheiße. Aber die Schuhgröße kann nicht ganz zu der Körpergröße des Schützen passen", stellte der spitzfindige Mittsechziger fest, während er über gelbe

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