Symphonie aus Lust und Leid (Adieu Valentin): Kurzgeschichten
Von Nicola Schorm
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Über dieses E-Book
Sie schloss die Augen und ihre Gedanken flogen zu dem Tag im August vor fünf Jahren zurück, als alles begonnen hatte. Als er beim Frühstück ohne jegliche Vorwarnung die verhängnisvollen Worte ausgesprochen hatte:
„Es ist aus. Ich gehe.“
Die neue Kurzgeschichtensammlung von Nicola Schorm nimmt den Leser mit auf eine literarische Reise in Gefühlswelten der Verzweiflung und in innere Zustände des existentiellen Zweifels und Leids – aber gleichzeitig zu Momenten voller Güte, Liebe, Glück und Weisheit. Im Mittelpunkt der raffiniert miteinander verwobenen Episoden schlägt mit dem „Haus der Schmetterlinge“ das beunruhigende und anrüchige, pulsierende Herzstück der Erzählungen – ein Buch im Buch, das zu imaginären und verbotenen Orten führt.
Nicola Schorm
Nicola Schorm wurde in Sindelfingen geboren und lebt mit Mann und Kindern in Buenos Aires, Argentinien. Nach einem abgebrochenen Studium der Theater- und Literaturwissenschaft in München studierte sie Zahnmedizin in Argentinien und schreibt neben der Ausübung ihres Berufes Reisetagebücher und Erzählungen.
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Buchvorschau
Symphonie aus Lust und Leid (Adieu Valentin) - Nicola Schorm
Symphonie aus Lust und Leid
(Adieu Valentin)
Kurzgeschichten
von Nicola Schorm
Impressum
Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN: 978-3-95894-077-2
Coverabbildung: © ElDen-1 / Shutterstock
© Copyright: Omnino Verlag, Berlin / 2018
Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen und digitalen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten.
An meine Leser
Wie ein Komponist die Noten aneinanderreiht, um eine Melodie zu erschaffen, so fädle ich Wort an Wort, um meine Geschichten zu weben.
Jeder Satz hat seinen Rhythmus und seinen Sinn. Es gibt leise Erzählungen und andere, die laut wie Trompetenstöße oder wie ein Trommelwirbel klingen; auch Crescendos und Synkopen, verspielte Melodien, Motive und helle Glockenschläge, die sich wiederholen, die wieder aufgenommen werden, und den Verdacht nahelegen, dass, was losgelöst und getrennt wirkt, in Wirklichkeit in engster Beziehung zum Gesamten steht.
Leider kann ich kein musikalisches Werk verfassen, obwohl mir bewusst ist, dass die Musik die vollständigste aller Künste darstellt und den direkten Weg zur Seele findet. Nichts wünsche ich mir mehr, als dass meine Geschichten in Ihnen, meinen Lesern, ein Gefühl oder eine Empfindung, eine Veränderung Ihres Gemütszustandes auslösen.
Herzlichen Dank meiner Erstleserin, die mir stets bedingungslos und hilfreich zur Seite steht, und welcher ich dieses Buch in Liebe widme: meiner Mutter. Es tut mir leid, dass ich kein Musikstück für sie komponieren kann, welches sie auf dem Klavier spielen könnte.
Inhalt
Erster Satz: Lose Etüden zur Herbstzeit
Zweiter Satz: Variationen in Moll
Dritter Satz: Improvisation über das Ende
Erster Satz: Lose Etüden zur Herbstzeit
1. Schlaflos
2. Ratlos
3. Maßlos
4. Namenlos
5. Farblos
6. Furchtlos
7. Sinnlos
8. Sprachlos
9. Atemlos
1. Schlaflos
Er erinnerte sich an die trägen endlosen Sommernachmittage, die gleißende Hitze, die Fliegen, die die kleinmaschige Netzstruktur der Verandatür überlistet hatten und die die wahren Herrscher des Hauses waren. Alle Bewohner hassten sie, selbst die Oma, die die geduldigste, warmherzigste Frau der ganzen Welt war. Er konnte es heute, nach so vielen Jahren, immer noch nicht begreifen, wie schnell sie die Fliegen mit der bloßen Hand zu fangen pflegte – sie war so flink, so geschickt, dass er sich oft mitten ins Märchen von dem tapferen Schneiderlein versetzt fühlte – nur dass das Schneiderlein das Gesicht seiner Oma trug und eine Frau war. „Sieben auf einen Streich", oh ja, das hätte sie ohne Weiteres geschafft.
Wenn er genau darüber nachdachte, was als nächstes mit den hässlichen Insekten geschah, da in der zärtlichen Hand seiner Großmutter, die ihm sanft über den Kopf strich, wenn er fieberkrank im Bett lag, die ihm mit kreisenden Berührungen die heftigen Bauchschmerzen vertrieb, dann wurde ihm schlecht. Sie zerdrückte das Ungeziefer, hatte so gar kein Mitleid mit den niederen Kreaturen; es knirschte und knackte, wenn sie das harte Außenskelett zermalmte. Sie wusch sich die Hände danach, aber manchmal war sie ihm unheimlich.
Ebenso wenig versuchte er daran zu denken, wie sie im Hühnerstall nach dem geeigneten Suppenhuhn für das sonntägliche Mahl ausschaute, das sie ebenso rasch wie die Fliegen mit einer gekonnten Dreh – und Knackbewegung beider Hände, die in vollkommenem Einklang arbeiteten, erdrosselte.
Er liebte Hühnersuppe, verbannte die Gedanken an die Federn, die er erst vor drei Stunden vor dem Stall zusammengefegt hatte.
Irgendwie schaffte er es, die Bilder voneinander abzuspalten, zu trennen, was logischerweise ein – und dasselbe war. Das weiße Fleisch in der Suppe schmeckte vorzüglich und war durch und durch anders als das gackernde Huhn, das lebte, fraß und stank.
Die Hitze war unerträglich, brachte das Hirn in einen Zustand der Auflösung, schmelzte die wirren Gedanken zu einem widerlichen Brei, der klebrig und widerwärtig den Übergang vom Wachsein zum erlösenden Träumen erschwerte, unmöglich machte. Es gab keine Klimaanlagen im Land seiner Kindheit. Aber es gab strenge Regeln, die befolgt werden mussten. Alle Kinder mussten Mittagsschlaf halten, Siesta. Es gab kein Entrinnen und da die Fenster durch dicke Vorhänge verdunkelt wurden, war auch das Lesen ein unmögliches Unterfangen.
Das wäre seine einzige Rettung gewesen, in den Büchern der Realität zu entfliehen, andere Wirklichkeiten zu durchleben, diese üblen zwei Stunden zu einem spannenden Ausflug in andere Welten zu nutzen.
Die Zeit erschien ihm, dem Fünf, Sechs, Siebenjährigen endlos, und auch wenn er tatsächlich an vielen Tagen aufwachte, wenn ihn die Mutter von der Tortur erlöste, er also doch den Schlaf gefunden hatte, waren dennoch die Tage, an denen es nicht so war, in der Überzahl.
Inzwischen hatte er keine Probleme mehr, mittags ein kleines Schläfchen zu halten – im Gegenteil, er genoss es an den Wochenenden, an denen er allen gesellschaftlichen Verpflichtungen aus dem Weg ging, die um die Mittagszeit stattfanden, um so endlich die durch die Arbeitszeit im Büro überfälligen Siestas der ganzen Woche auf einmal nachzuholen. Samstags und sonntags schlief er manchmal bis zu drei Stunden.
Schlaflosigkeit bereitete ihm heute nur noch der Mond. Bei Vollmond wälzte er sich im Bett hin und her, ärgerte sich über sich selbst und las so manches Buch zu Ende.
Und heute – heute war Vollmond, 3.28 Uhr morgens – erinnerte er sich an früher, an die Sonne, an die Fliegen, an die Oma.
2. Ratlos
Die neue Welt war laut und schnell. Grell und schräg. Die Menschen, mit welchen sie früher ohne Probleme ins Gespräch kam, hasteten von einem Ort zum nächsten, verschanzten sich im Zug, im Bus, hinter ihren Handys, drückten wie wild auf die immer kleineren Tasten und hingen mit ihren Ohrstöpseln am Tropf, sicher geschützt und isoliert vor dem Kontakt zu den Anderen, zu ihr.
Manchmal hatte sie das sichere Gefühl, in einem Albtraum zu leben. Außerdem war sie sich nicht ganz sicher, ob sie noch klar im Kopf war. Es gab Anzeichen dafür, dass trotz Kreuzworträtsel und Sudokus ihre Gehirnzellen zu Tausenden abstarben. Wo zum Beispiel hatte sie ihre Lesebrille abgelegt, die sie seit drei Tagen nicht mehr fand? Beim Haarewaschen wusste sie nicht mehr, ob es das erste oder zweite Mal war, dass sie das Shampoo auf den schütteren Haaren verteilte.
Die Ärzte, die sie regelmäßig aufsuchte, versicherten ihr, dass alles stimmte, dass ihr Gehirn ordentlich funktioniere, ebenso wie die anderen Organe – dem Alter entsprechend.
Ob sie sie anlogen?