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In der Warteschleife: Über ein Ankommen in Deutschland
In der Warteschleife: Über ein Ankommen in Deutschland
In der Warteschleife: Über ein Ankommen in Deutschland
eBook138 Seiten1 Stunde

In der Warteschleife: Über ein Ankommen in Deutschland

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Über dieses E-Book

Es ist die Zeit der ersten großen Flüchtlingswelle in Deutschland. In vielen Städten gibt es im Sommer 2014 Notaufnahmelager. Flüchtlinge werden provisorisch in Zeltstädten untergebracht oder sie schlafen in den heißen Sommerwochen sogar ungeschützt im Freien, wie in München. Das Wort Willkommenskultur gibt es bereits, und eine humanistische Haltung, die diese Willkommenskultur vor allem im darauffolgenden Jahr in ganz Deutschland prägen wird, zeigt sich auch schon in diesen Sommerwochen.
Der Autor erzählt die Geschichte von Hans, der zusammen mit einer Kollegin für einige Zeit zum Leiter eines Notaufnahmelagers ernannt wird, mit ihr gemeinsam Problemstellungen in der kurzen Zeit des Bestehens des Lagers erkennt und zugunsten der Flüchtlinge zu meistern versucht
SpracheDeutsch
HerausgeberTWENTYSIX
Erscheinungsdatum13. Okt. 2020
ISBN9783740769925
In der Warteschleife: Über ein Ankommen in Deutschland
Autor

Werner Lutz

Werner Lutz, Jahrgang 1954, war bis 1988 Verwaltungsbeamter bei der Stadt Erlangen. 1988 freiwilliges Ausscheiden aus dem Öffentlichen Dienst. Tätigkeit als Journalist, danach arbeitslos, von 1990 bis 2017 wieder im Öffentlichen Dienst als Arbeiter im städt. Klärwerk. Von 1998 bis 2017 Personalrat. Ab Ende der 70er erste kulturelle Aktivitäten als Liedermacher. Zahlreiche Auftritte in der Friedensbewegung, bei Streiks, Betriebsbesetzungen und Demos gegen Nazis bundesweit, vor allem aber in Franken. Seit Anfang der 80er auch Verfasser von Satiren und Kurzprosa. Seit 1993 Herausgeber des Deutschen Einheiz-Textdienstes, eines monatlich erscheinenden Satire-Rundbriefes mit Monologen, Dialogen, Aphorismen und Sachtexten zu aktuellen politischen Themen. Seitdem zahlreiche Publikationen in Zeitungen, Satirezeitschriften, Anthologien, Kalendern. Verschiedene Buchveröffentlichungen.

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    Buchvorschau

    In der Warteschleife - Werner Lutz

    In der Warteschleife

    In der Warteschleife

    Impressum

    In der Warteschleife

    I

    Mojo liebte diese Farbe. Sie war so wie ihre Mütze, die ihr Spielgefährte Huruh immer auf hatte.

    Mojo wußte noch nicht, wie man hier in dem neuen Land diese Farbe nennt. Aber es war ihre Lieblingsfarbe, ebenso wie die Farbe vom Mond, den ihr die Mama abends oft gezeigt hat vor ihrer Hütte. Und die Farbe der Mütze war genauso wie die Farbe des großen Wassers, auf dem sie und Mama viele Tage im Boot gefahren waren, eng aneinander geschlungen und hungrig.

    Sie wußte nicht, wie lange sie auf diesem großen Wasser unterwegs waren, aber es kam ihr ewig lang vor und es ging ihr schlecht. Sie mußte sich oft übergeben, obwohl sie kaum etwas gegessen hatte. Immer wieder mußte sie brechen, und sie hatte viel Angst.

    Sie mußte auch oft weinen, manchmal leise, manchmal laut, wenn sie es nicht mehr aushielt, und ihre Mama drückte sie fest an sich.

    Mojo liebte viele Farben. Am meisten liebte sie die Farben, die ihre Mama an ihren Kleidern hatte oder an den Tüchern, die sie auf ihrem Kopf trug. Alle Farben, die ihre Mama trug, fand sie schön, manche von ihnen waren so golden wie der Mond, und manche Punkte von ihnen so wie das Gras vor ihrer Hütte, wenn es geregnet hat.

    Mojo liebte auch die Farbe von dem Ei, das sie schon die ganze Zeit in der Hand hielt und manchmal davon abbiss. Es war ein rotes Ei. Solche und andere Farben auf den Eiern, alles schön bunt, gab es hier fast jeden Tag beim Frühstück.

    Mojo fühlte sich hier inzwischen wohl. Seit sie und ihre Mama über das große Wasser gekommen waren, hatten sie jeden Tag wieder etwas zu essen, und es gab hier aus vielen Hähnen Wasser, das ganz klar war und nicht modrig roch wie zuhause.

    Und Mojo hatte jeden Tag, seit sie hier war, viel zu gucken. Es gab viele Menschen hier, die mit ihr hier dreimal täglich in dem großen Zelt gemeinsam aßen. Und alle sahen anders aus. Die meisten nicht dunkelhäutig wie ihre Mama und sie, und die beiden anderen schwarzen Frauen, die mit ihnen auf dem Boot waren damals.

    Mojo stellte überhaupt fest, daß ihre Welt mit Menschen interessanter geworden war. Es gab hellhäutige Menschen mit gelben Haaren, fast wie der Mond, oder mit roten Haaren wie das Auto von einem Beamten, als sie einmal in der großen Stadt war vor langer Zeit. Und es gab hellbraune Menschen mit dunklen Haaren, und ganz viele Kinder, ebenso verschieden.

    Mojo biss wieder vom Ei ab, und dachte mit Sehnsucht an Huruh.

    ***

    Hans öffnete den Nike-Schuhkarton. Locher, vier Filzstifte, Bleistifte, Büroklammern, Klebestift, Tesa, drei Kulis, Zettelbox ohne Zettel, Lineal, ein Stempelkissen. – Natürlich, ein Stempelkissen, das darf immer noch nicht fehlen bei der Büroausstattung einer deutschen Stadtverwaltung.

    Dann zwei Aktenordner, die bereits gefüllt waren, der eine mit vielen gelben Durchschriftzetteln in DIN A5-Format, es waren die bereits ausgefüllten Bestätigungen der Taschengeldauszahlung, einsortiert alles in ein Alphabet-Register. Wo waren eigentlich die Stempel, wenn es schon ein Stempelkissen gab?

    Er durchstöberte den Karton noch einmal gründlicher, aber er fand immer noch keinen Stempel. Dann gab es noch ein Laptop, das aufgeklappt auf dem Tisch stand und schon angeschlossen war. Und einen Drucker, der falsch programmiert war, so daß er die Druckaufträge nur immer nachts um drei Uhr abarbeitete, wie sich erst die nächsten Tage herausstellen sollte.

    Dann noch vier Tausender-Pakete einfaches Schreibmaschinenpapier und ein Handy, älteres Modell. Vielleicht war der Stempel wieder mitgenommen worden, vielleicht hatten sie keine Stempel gebraucht für ihre Taschengeldauszahlung. Oder es war eben nie ein Stempel da. Jedenfalls Stempelkissen gibt es immer im Sortiment einer Büroausstattung. Wenn die nicht dabei sind, fehlt was.

    Er blickte sich genauer im Raum um, der ab jetzt gemeinsam mit einer anderen Kollegin für die nächsten Wochen sein Büro sein sollte. Es war ein Klub-Raum eines städtischen Bürgertreffs, der über eine Tanzfläche verfügte mit großer Discokugel und Scheinwerfern und Flash-Light. Außerdem einer großen Theke und einer kleinen Küche nebenan, einem Stammtisch mit geschmiedetem Stammtischschild, einigen massiven hellen Holztischen mit Stühlen, und zwei Toiletten im Flur.

    Nicht ungemütlich, aber nicht unbedingt typisch für ein Büro einer städtischen Verwaltung einer Notunterkunft für Flüchtlinge in einer deutschen Kommune. In einer Zeit wie in diesem „Flüchtlingssommer" – so würde er später in den Medien genannt werden. Und zwar deshalb, weil der massenweise Ansturm von Flüchtlingen, vor allem aus Syrien, so groß war, daß deutsche Kommunalverwaltungen und Landesregierungen damit völlig überfordert waren.

    Hier in seiner Heimatstadt wurden sie jetzt in Großzelten untergebracht, weil es keine festen Gebäude gab, die eine solche Kapazität bereitstellen konnten. Und doch war es ein großes Versäumnis der Landesregierungen, in diesem Fall der Bayerischen Staatsregierung, daß es zu einer solchen Zuspitzung kam. Die Situation nämlich mit der tausendfachen Ankunft von Kriegsflüchtlingen gibt es schon länger, daß weiß er.

    Dabei hatte er sich nie sonderlich dafür interessiert. Bewundert hatte er allerdings noch im letzten Frühling des Kommunalwahlkampfes die städtische Bürgermeisterin, die sich –statt Wahlkampf zu machen, vor allem der unbequemen Diskussion in verschiedenen Wohnvierteln stellte, wenn die Notwendigkeit immer dringender artikuliert wurde, dort Container für Flüchtlinge aufzustellen.

    Den Anruf von ihr, verbunden mit dem Wunsch, daß er hier die Verwaltung des Erstaufnahmelagers mit einer anderen Kollegin leiten sollte, hatte er erst vor vier Tagen erhalten.

    Er stand auf und blickte hinaus. Draußen drückte der Wind einen der beiden Fensterläden an das Fenster. Dann plötzlich riß ein Windstoß den Fensterladen jäh auf die andere Seite, und scheppernd krachte er an die Hauswand. Er öffnete das Fenster und suchte nach einem Hebel, der zur Befestigung des Fensterladens vorhanden sein müßte. Er fehlte.

    Seine Kollegin war unterwegs. Sie hieß Karin. Heute Morgen hatten sie beide offiziell die Verwaltung dieses Erstaufnahmelagers übernommen.

    Er warf noch einmal einen Blick auf die Unterlagen. Die Listen der Flüchtlinge befanden sich angeblich auf dem Laptop. Er versuchte nach dem Hochfahren die angegebene Exel-Datei zu öffnen, doch es funktionierte nicht. – Naja, er würde bestimmt noch früh genug mit dem Verwaltungskram zu tun bekommen.

    Bei der Übergabe hatte ihm sein Vorgänger gesagt, daß es für diese Aufgabe eigentlich keiner Qualifizierung bedarf. Die Anforderungen würden lediglich sein, ein wenig organisieren zu können, unvorhergesehene Probleme zu lösen, Regelungen für die Versorgung und den Aufenthalt von dreihundert Menschen zu treffen, damit ihnen das Leben hier wenigstens einigermaßen angenehm gestaltet werden konnte. Das Wort „Menschenwürde" fiel bei der Äußerung des Kollegen nicht. Aber eine gut gemeinte und freundlich-ironische Bemerkung, daß sie, die beiden Neuen, nur das von ihren Vorgängern angelegte Beet zu gießen brauchten…

    Einen Rundgang durch die beiden großen Schlafzelte hatte er vorhin das erste Mal gemacht, mit seinem Vorgänger. Es war kurz vor 8 Uhr gewesen, Anfang Oktober. Draußen war es schon warm, ein schöner Herbsttag würde es wieder werden. Und in den Zelten, wo noch viele Menschen schliefen, war eine Temperatur von 28 Grad. Die Zeltheizung war gelaufen die ganze Nacht. Es war sicher eine Umstellung für viele Menschen hier. Zwar war es zum Beispiel in Syrien sicher nachts auch kalt, aber dafür tagsüber glühend heiß. Deutschland hat eben ein anderes Klima.

    Der erste Eindruck, den er nach dem Durchgang in den Schlafzelten gewonnen hatte, erinnerte ihn an einen Begriff aus der Tieraufbewahrung. Es handelte sich hier eindeutig um Lagerhaltung. Wie lange konnte man das aushalten, auf so engem Raum mit so vielen Menschen? Die meisten von ihnen waren jetzt über sechs Wochen hier.

    Es waren doch alles Persönlichkeiten, wo jeder das berechtigte Bedürfnis nach Rückzug, Individualität, Bewegungsfreiheit, ruhiges Schlafen und manchmal Ungestörtheit hatte.

    Immerhin, für manche Familien gab es Holz-Stellwände, die mobil zurechtgerückt werden konnten. Von dieser Möglichkeit hatten vor allem Familien Gebrauch gemacht, sie hatten mit den Stellwänden und einigen Decken einen Sichtschutz um ihr beengtes provisorisches Familiendasein gebaut, ein kleiner Luxus an Abgeschlossenheit.

    Er hatte ein mulmiges Gefühl, ob er die ihm übertragenen Aufgaben wirklich würde bewältigen können. Ihm fielen schon seit gestern Abend - vor dem ersten Arbeitstag - alle möglichen Katastrophen ein, die auf ihn und sie beide einstürzen konnten. Immerhin, sie erhielten bei der Übergabe einige Listen mit wichtigen Telefonkontakten, die von ihren Kollegen erarbeitet worden waren. Er besah sich den Stoß an Papieren, die auf dem achteckigen Stammtisch ungeordnet herum lagen.

    ***

    Mojo lag neben ihrer Mutter auf dem Feldbett im Zelt. Ihre Mutter schlief. Es war die Zeit nach dem Essen, wo viele sich zurückzogen in die Zelte und sich hinlegten. Manche schliefen, manche hörten Musik über Kopfhörer oder beschäftigten sich mit ihren Handys.

    Mojo beobachtete den Schlaf ihrer Mutter. Sie lag mit geschlossenen Augen auf dem Rücken und atmete ganz flach. Ihr Gesicht wirkte entspannt. Mojo kannte diesen Gesichtsausdruck, sie sah ihre Mutter oft an im Schlaf hier im Zelt. Sie weckte ihre Mutter dabei auch selten auf, nur wenn es ihr einmal ganz besonders langweilig war, oder wenn sie aufs Klo mußte.

    Daß ihre Mutter so ruhig schlief, war nicht immer so gewesen. Bevor sie die große Fahrt mit dem Boot über das Wasser gemacht hatten, waren sie auf einer Wanderung ganz lange unterwegs mit anderen Familien. Es war heiß und staubig, und sie hatten wenig zu essen und auch wenig Wasser. Das ging so viele Tage.

    In dieser Zeit hatte Mutter einen unruhigen Schlaf gehabt. Sie hatte oft auf der Seite gelegen und sich hin und her gedreht, so dass Mojo oft aufgewacht war.

    Und in der Zeit, bevor die große Wanderung begonnen hatte und sie noch in ihrer Hütte mit dem verrosteten Blechdach am Ende des Dorfes lebten, war es noch schlechter gewesen mit dem Schlaf ihrer Mutter. Da lag sie nämlich viele Stunden lang wach und dachte nach.

    Mojo wußte nicht warum. Aber sie hatte die Ängste und Sorgen ihrer Mutter gespürt, sie übertrugen

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