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Fenster zum Park
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eBook401 Seiten5 Stunden

Fenster zum Park

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Über dieses E-Book

Es geht um Liebe, Träume und die Zerbrechlichkeit des Glücks vor dem Hintergrund zweier historischer Ereignisse, 9/11 in New York und den Mauerfall in Berlin.

Henrik Heller, ein aus Deutschland stammender New Yorker Journalist, hat auf tragische Weise seine Partnerin verloren und versucht, als Großstadteremit diese Lebenskrise und noch ein anderes Trauma zu überwinden. Dabei schreibt er ein Buch, in dem er erzählt, wie alles gekommen ist.

Vom Glück der Freiheit, ihren Gefahren und ihrer Gefährdung.
SpracheDeutsch
HerausgeberTWENTYSIX
Erscheinungsdatum5. Okt. 2021
ISBN9783740778026
Fenster zum Park
Autor

Peter Schnellhardt

Peter Schnellhardt wurde 1949 in Eisfeld/ Thüringen geboren. Abitur am Altsprachenzweig der EOS Ernst Abbe in Eisenach. Darauf Beginn eines Theologiestudiums in Jena. Nach dessen Abbruch hat er zunächst als Krankenpfleger gearbeitet, dann Medizin in Leipzig und Erfurt studiert. Anschließend war er bis zu seinem Ruhestand 2010 als Allgemeinarzt tätig. Seit vielen Jahren schreibt er Gedichte und Kurzgeschichten, die er vorwiegend in Anthologien veröffentlicht hat. 2021 erschien sein erster Roman Fenster zum Park.

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    Buchvorschau

    Fenster zum Park - Peter Schnellhardt

    1

    Henrik schloss die Tür hinter sich ab, zog seine Schuhe aus, die er kreuz und quer stehen ließ, schmiss seine Jacke auf den Flurboden, ging schnurstracks in sein Wohnzimmer, haute sich auf die nahezu neue Couch und beschloss, seine Wohnung nicht mehr zu verlassen, nie mehr. Er war fertig mit sich und der Welt. Diese Schweine, und überhaupt, was hat das Leben jetzt noch für einen Sinn, dachte er. Eine Weile lag er wie gelähmt da und stierte schwarze Löcher in die Luft. Schließlich schlief er ein.

    Als er kurze Zeit darauf wieder aufwachte, dämmerte es. Seine Glieder waren bleischwer, aber seine Blase drückte und so schleppte er sich schlaftrunken zur Toilette. Zurück im Wohnzimmer schaute er, weiterhin ganz benommen, aus der großen Fensterfront seines Apartments im 52. Stock. Es goss in Strömen und der Regen formte im Zwielicht des Abends aus den Silhouetten der Hochhäuser graue Stalagmiten von unterschiedlicher Größe, zwischen denen Irrlichter hin und her flackerten. Allmählich füllten sich die Stalagmiten mit Licht, das die Fenster erleuchtete und über die der Regen nach unten schoss. Abertausende Augen, so wirkte es auf ihn, aus denen Ströme von Tränen flossen.

    Ich verlasse diese Wohnung nie mehr, bekräftigte er seinen Entschluss, jedenfalls nicht mehr, bevor sie nicht diese Schweine, diese Mistkerle gefunden haben.

    Er hatte keinen Hunger, aber wenigstens etwas trinken wollte er. Eine Tasse guten Tee hatte Lisa hin und wieder getrunken, wenn sie am Boden war oder einfach nur mal eine kleine Stärkung brauchte.

    Gedankenverloren ging er in die Küche, stellte den Wasserkocher an und nahm etwas Tee aus der blauen Dose, die in dem Schrankteil neben der breiten, meist offenen Durchreiche zum Wohnzimmer stand.

    Mit Tee hatte er es eigentlich nicht so. Er war Kaffeetrinker. Selten trank er auch mal einen Tee und wenn, dann eher Früchtetee. Jetzt jedoch erinnerte er sich daran, wie gut Lisa der Tee immer getan hatte. Anfangs stammte der Tee noch von diesem Guru. Wenn er auch nur an ihn dachte, wurde er schon wieder unruhig. Er atmete einige Male tief ein und aus.

    Später brachte Mrs Callyhan, ihre Putzfrau, Tee aus Jackson Heights mit. Sie machte gelegentlich auch ein paar Besorgungen und da es in ihrer Nähe einen guten Teeladen gab, bot sich das an. Lisa füllte damit ihre blaue Dose neu auf und der Tee war mindestens genauso gut wie der des Gurus.

    Während er den Tee aufbrühte, dachte er ständig an sie. Was mache ich bloß ohne sie?, fragte er sich zum x-ten Mal. Alles hier in der Wohnung erinnerte ihn an sie, jeder Stuhl, jedes Bild, jeder Fleck auf dem Bettlaken.

    Wieder im Wohnzimmer stellte er Kanne, Tasse und alles andere, was er so brauchte, auf den Couchtisch, ließ sich in seinen Sessel fallen, schaltete den Fernseher ein und sah sich die News des Tages an. Anschließend kam ein Film, er schaltete um, eine Talkshow lief, in der sich ein Moderator wichtigtat. Nein, das konnte er nicht ertragen, er zappte weiter. Auf dem nächsten Kanal lief ein Reisebericht über Neuseeland. Der Dokumentarfilmer erzählte von der grandiosen Landschaft, den steilen Bergen, die gleich hinter der Küste aufragen, den grünen, saftigen Wiesen und den Rindern, die die Schafherden mehr und mehr verdrängen.

    Das lag ihm schon eher, das beruhigte seine Nerven und so blieb er bei diesem Kanal, schenkte sich eine Tasse Tee ein, gab ein Stück Kandiszucker dazu und goss einen ordentlichen Schuss Brandy hinterher. Der Brandy war in diesem Fall Weinbrand. Tee mit Weinbrand zu trinken, war eine Angewohnheit aus seiner alten Heimat, vor allem wenn es kalt war, und es war kalt in diesen Tagen, um ihn und in ihm.

    Auch den Bericht über Neuseeland konnte er sich nicht lange ansehen. Alles war so belanglos, so nichtig geworden. Er trank eine weitere Tasse Tee mit Weinbrand, wobei sich das Verhältnis wandelte und es jetzt doch eher Weinbrand mit Tee war. Nach der zweiten Tasse ging er erneut in die Küche und holte sich eine Packung Butterkekse. Die hat noch Lisa gekauft, ging es ihm durch den Kopf, weshalb er nach zwei Keksen schon wieder mit dem Essen aufhörte. Der Gedanke an sie, daran, was mit ihr passiert war, bedrückte ihn und ließ den letzten Rest Appetit verschwinden.

    Beinahe regungslos saß er nun auf der großen hellen Ledercouch, den Oberkörper zurückgelehnt, die Beine ausgestreckt, schaute in Richtung Lisas kleinen Flügel und versank in seinen Erinnerungen. Und je länger er über alles nachdachte, desto mehr beschlich ihn das Gefühl, dass auch er nicht ganz frei von Schuld ist. Unbeabsichtigt zwar, aber eben doch in schicksalhafter Weise mit ihrem tragischen Tod verstrickt, machte er sich Vorwürfe.

    Anstelle seiner Tee-Brandy-Mischung nahm er jetzt gleich einen kräftigen Schluck aus der Flasche. Ins Bett zu gehen brachte er auch diese Nacht nicht fertig und so legte er sich, müde geworden, samt seinen Sachen wieder auf die Couch und schlief ein.

    Mitten in der Nacht wachte er schweißgebadet auf, gehetzt von einer Gruppe Langbärtiger. Gerade wollten sie ihn erschlagen, als er sich in im letzten Augenblick in die Realität retten konnte. Aber was war die Realität? Dunkelheit und Einsamkeit.

    In der Folge versuchte er wieder einzuschlafen, wälzte sich von einer Seite auf die andere, fantasierte im Halbschlaf, stieß mit einem Fuß an den Couchtisch und wurde daraufhin ganz wach.

    Doch die Langbärtigen waren immer noch da. Er wusste nun nicht mehr, ob er träumte oder ob alles real war.

    Verunsichert und fragend ging sein Blick durch den Raum.

    Das war kein Traum, stand es jetzt für ihn fest. Die Langbärtigen hatten sein Zimmer besetzt und wollten, dass er seine Wohnung räumt. Zusehends wurde er unruhiger. »Ihr spinnt wohl, das ist meine Wohnung. Wie kommt ihr überhaupt hier rein? Macht, dass ihr wegkommt! Sonst rufe ich die Polizei, die wird euch schon rauswerfen!«, rief er laut.

    Sie grinsten nur. Einer schob seinen langen weißen Umhang etwas zur Seite und ließ fast beiläufig den Lauf einer Maschinenpistole sehen.

    Henrik griff nach der Tasse, die noch auf dem Couchtisch stand, und warf sie mit voller Wucht nach ihm. Es schepperte gewaltig, dann waren die Gestalten weg.

    Durcheinander und fassungslos starrte er in die Dunkelheit. Was war das denn? Er konnte es nicht glauben, was er da eben gesehen hatte. »Wäre ja noch schöner, ich lasse mich doch nicht aus meiner eigenen Wohnung vertreiben, Gesindel, Halunken, Verbrecher«, sprach er mit sich selbst.

    Missmutig quälte er sich von der Couch hoch. Auf dem Weg zur Toilette trat er in eine Scherbe, jaulte fürchterlich auf und machte sofort wieder die Langbärtigen dafür verantwortlich. Scheißkerle, haben mir eine Fußangel gelegt, war es für ihn klar.

    Im Bad wollte er eigentlich eine Beruhigungstablette einnehmen, ließ es aber sein, weil er Schnaps getrunken hatte und außerdem waren die Gestalten ja nun wieder weg.

    Ins dunkle Wohnzimmer zurückgekehrt, warf er einen flüchtigen Blick aus dem Fenster. Der Regen hatte nachgelassen und die Stalagmitenlandschaft hatte sich in eine futuristische, extraterrestische Großstadt verwandelt. Vielleicht bin ich ja in Coruscant, war nun sein Eindruck. Ich werde die Jedi-Ritter benachrichtigen, die werden den Langbärtigen schon Manieren beibringen.

    Im Vertrauen auf diesen Gedanken torkelte er zu seiner Couch und schlief wieder ein.

    Ein greller Blitz traf ihn genau in der Sekunde, als er seine Augen öffnen wollte. Ein Atomblitz, schoss es ihm durch sämtliche Gehirnwindungen. Es ist aus. Mit zusammengekniffenen Augen verharrte er eine Minute, dann merkte er, dass er noch lebte, und machte einen erneuten Versuch, sie zu öffnen.

    Die Sonne hatte die Wolkendecke durchbrochen und schien ihm direkt ins Gesicht. Sein Schädel brummte indessen so sehr, dass er wieder ins Zweifeln kam, ob nicht doch eine Bombe explodiert war, eine Bombe, mitten in seinem Kopf.

    Ich vertrage aber auch gar nichts mehr, dachte er. Gar nichts war eine halbe 0,75-Liter-Flasche 40 %tiger Brandy.

    Beim Aufstehen stieß er einen lauten Schrei aus und setzte sich sofort wieder auf die Couchkante. »Verdammt, mein Fuß«, stöhnte er. Sein linker Fußballen war blutig, worauf er auf einem Bein in das kleinere der beiden Bäder hüpfte, das gegenüber von seinem Arbeitszimmer lag und das er, schon seit ihrem Einzug, fast ausschließlich benutzte.

    Zuerst duschte er seinen linken Fuß und stellte erleichtert fest, dass es nur eine kleine Wunde war, die nicht genäht werden musste. Dann duschte er sich ganz und zum Schluss wieder seinen linken Fuß – man weiß ja nie, was sich alles so für Keime in der Dusche befinden, war seine Befürchtung. Zum Glück hatte er noch etwas Antiseptikum, das er auf die Wunde sprayte, und zuletzt klebte er ein Pflaster darüber.

    Im Anschluss daran machte er sich einen starken Kaffee, um seinen Kopf wieder frei zu bekommen, setzte sich im Wohnzimmer an den Esstisch und aß die am Abend zuvor angebrochene Packung Kekse.

    Nunmehr wieder bei klarem Verstand und im Vollbesitz seiner fünf Sinne trat er vor sein Fenster und schaute nach draußen. Die letzten Regenwolken waren abgezogen und die Sonne strahlte und spiegelte sich hoch oben in den Glasscheiben und Stahlteilen der Wolkenkratzer, sodass es überall glitzerte und blitzte, während weiter unten die Welt in einem Gemisch aus Nebel und Abgasen verschwand. Der weißgelbe Feuerball am Himmel gab alles, was er zu bieten hatte, aber selbst das helle, gleißende Licht der Schöpfung, das zugleich Anfang und Ende von allem ist, konnte nicht in die Tiefe durchdringen.

    Nein, ich werde diese Wohnung nicht mehr verlassen, egal was da draußen passiert, dachte er erneut. Ich bleibe hier in meinem Turm, in meinem Adlerhorst, bis sie diese Scheißkerle gefasst haben und in der Zwischenzeit mache ich das, was ich schon immer wollte, ich schreibe endlich ein Buch. War er auch mit der Welt fertig, mit sich, war er es noch nicht ganz. Ein Buch, wenigstens ein Buch, wollte er in seinem Leben geschrieben haben. Das nahm er sich fest vor. Das gehörte fortan zu seiner Selbstverpflichtung, zu seinem Versprechen, zu seinem Schwur.

    Er wandte sich vom Fenster ab und war gerade im Begriff, in sein Arbeitszimmer zu gehen, da fiel sein Blick auf die Scherben der Teetasse, die noch von der vergangenen Nacht her wie ein Orakel am Boden lagen. Die letzte Sammeltasse von Tante Amelie, schade, sorry, dachte er. Wehmütig fegte er die Bruchstücke zusammen, als wären es die Scherben seines ganzen Lebens, und ließ sie langsam in den Mülleimer gleiten.

    Einmal in der Küche, machte er den Kühlschrank auf, um sich zu vergewissern, dass noch genügend zu essen da war. Es war. Auch der Tiefkühlschrank war gut gefüllt. Das reicht für den Anfang, bestätigte er sich selber, und ging in sein Arbeitszimmer.

    Dort setzte er sich an seinen Schreibtisch, schaltete seinen Computer ein und legte ein neues Dokument an. Womit beginne ich?, überlegte er. Am besten mit meiner Studentenzeit.

    Es war 1987, ich wohnte in Berlin zusammen mit meinem Freund Lukas, war der erste Satz, den er soeben formuliert hatte, da fiel ihm ein, es müssen doch noch irgendwo alte Bilder sein. Er kramte im untersten Fach seines Schreibtisches herum, zog ein zerfleddertes Album hervor und fand die Bilder von damals. Das Album gehörte zu den wenigen verbliebenen Sachen, die er sich von seinem Freund später in die Carol Street von Brooklyn hatte schicken lassen, wo er vor seinem Umzug nach Manhattan gewohnt hatte. Eine Aufnahme zeigte ihn und Lukas vom Kopf bis zum Oberkörper, wie einer die Hand auf die Schultern des anderen legte. Ja, das war er. Das Foto hatten sie in ihrer Studentenzeit machen lassen. Mensch, waren das noch Zeiten, damals, im vorigen Jahrtausend.

    Lukas hatte schulterlange braune Haare, eine Nickelbrille und ein verschmitztes Lächeln im Gesicht. Ein bisschen sah er wie John Lennon aus. Seine eigenen Haare waren nicht so lang, bedeckten nur leicht die Ohren, dunkelbraun wie seine dichten Augenbrauen. Er selbst lachte. Sah eher dem jungen Paul McCartney ähnlich, obwohl die Beatles nicht mehr ihre Zeit war und so dicke Freunde waren die beiden ja auch nicht unbedingt gewesen, jedenfalls später nicht. Wo ist nur mein Lachen hin, fragte er sich und schüttelte kaum merklich seinen Kopf.

    Er legte das Album wieder weg, und obwohl er erst einen Satz geschrieben hatte, hörte er auch schon wieder auf. Mit einem Mal war die leichte Freude über das alte Foto verschwunden und ins Gegenteil umgeschlagen. Traurig, geknickt und in sich versunken, saß er auf seinem Stuhl, den Blick ins Leere gerichtet, der Welt entrückt.

    Mehr automatisch als bewusst klickte er auf seinem Desktop Spiele an und begann alle möglichen Fieslinge zu jagen, kam aber nie auf die letzte Ebene und so gab er nach einer Stunde genervt auf. Eine Stunde, sinnlos vertan. Na ja, vielleicht war es doch nicht ganz so sinnlos, zumindest hatte er sich abgelenkt und den inneren Groll ein wenig abgebaut.

    Darauf klickte er wieder das Dokument mit seinem ersten Satz an und schrieb noch einen weiteren, musste jedoch feststellen, dass er nicht richtig denken konnte, weil ein flaues Gefühl in seinem Magen stärker war, als sein Drang zu schreiben.

    Gemächlich stand er auf und ging in die Küche. Rührei mit Speck war so ziemlich das Einzige, was er an warmen Speisen zubereiten konnte. Dazu eine Scheibe Brot und ein Wasser, das reichte ihm. Er setzte sich an den Wohnzimmertisch und aß in aller Ruhe sein selbst zubereitetes Essen, das ihm sichtlich schmeckte und guttat. Gestärkt brachte er den leeren Teller in die Küche, räumte ihn in die Spüle, ging zurück ins Wohnzimmer und stellte sich vor die kürzere, linke Seite der Fensterfront.

    Gegenüber versperrte der Metropolitan Tower seinen Blick und tief unten verlief die West 56th Street. Der Dunstschleier hatte sich verzogen und jetzt waren die Ameisenströme zu sehen, die sich tagein, tagaus zu irgendeinem imaginären Ziel fortbewegten. Menschen, Autos, Busse und Lastwagen in schier endloser Folge. Die West 56th Street verläuft von West nach Ost und ist nicht ganz so verkehrsreich, doch er wusste nur zu genau, dass nicht viel weiter auf der Sixth Avenue und auf der 57th Street die Hölle los ist. Bloß vom Zusehen und der Erinnerung an den Lärm empfand er schon den Druck dieses Molochs, hörte er das ständige Rauschen und das Martinshorn der Polizeiwagen oder der Rettungsfahrzeuge, wenn sie wie wahnsinnig durch die Straßen fegten. Aber im Großen und Ganzen war er hier in seinem Turm hinter den dicken Scheiben vor dem Getöse und dem irrsinnigen Getümmel da unten sicher. Hier war er abseits von Lärm und Hektik. Aber war er hier wirklich sicher? Nein, sicher konnte er sich auch hier nicht sein. Ja, das dort unten waren Ameisenströme, eine unendliche Masse, in der der Einzelne nichts galt, gar nicht wahrgenommen wurde, und doch gab es Momente, in denen ein Einzelner für viele stand.

    Noch bis vor Kurzem hatte er dieses Treiben geliebt, das bunte Menschengewirr, die endlosen Blechlawinen, das ganze pulsierende Leben, das sich durch die Schluchten aus Beton, Stahl und Glas ergoss. Die Leuchtreklame, die Geschäfte, Cafés und Restaurants, die sich ohne Unterbrechung aneinanderreihen, das ganze verrückte Treiben des Big Apple, das ihm das Gefühl gab zu leben, am richtigen Ort zu sein.

    Hier gehörte er hin, hier wollte er immer sein, hier fühlte er sich an der Spitze der Entwicklung, des Fortschritts, am Puls der Zeit, im Pacemaker der Menschheit.

    Nur, jetzt spielte das alles keine Rolle mehr. Ohne Lisa hatte das alles keine Bedeutung. Unsichtbare, dunkle Mächte hatten den Pacemaker abgeschaltet und eine Rhythmusstörung ausgelöst. Alles war aus den Fugen geraten, durcheinander, orientierungslos.

    Es kam ihm nun vor, als wären die Ameisen da unten keine Ameisen mehr, sondern Lemminge, die unaufhaltsam vorwärtsliefen. Vor seinem geistigen Auge sah er jetzt, wie die Lemminge von der 56th Street in die Sixth Avenue rannten, dort dicht gedrängt bis zur 57th Street stürmten, links abbogen, in vollem Tempo nunmehr von Ost nach West liefen und schließlich in den Hudson stürzten.

    Schwer atmete er aus und starrte hilflos aus dem Fenster in die Tiefe. Er wollte schreien, wollte sie warnen, aber er hatte keine Kraft mehr, er wollte nur noch seine Ruhe haben. Er suchte die Einsamkeit, er brauchte sie, um sich zu sammeln, um das, was ihn bedrückte, verarbeiten zu können.

    Und, als ob er dort Erlösung finden könnte, schleppte er sich zurück in sein Arbeitszimmer, zurück zu dem Dokument mit seinen ersten Formulierungen. Er kroch geradezu in seinen Computer hinein, ging auf in dem, was er schrieb, verschwand in seinen Sätzen, die seine letzte Zuflucht waren. Es war, als suchte er in den Zeilen, was er in seinem Leben verloren hatte: Halt, Sinn – Lisa.

    2

    Unsere Studentenbude war erstaunlich geräumig, mit zwei stabilen Betten, einem massiven Schreibtisch, zwei Stühlen, einem Sessel und einem Wandschrank. Außerdem gehörte eine Kochecke dazu, wo wir auch das Wasser für unsere großen weißgelben Porzellanschüsseln zum Waschen einlaufen lassen konnten. Mehr brauchten wir nicht. Selbst die Toilette, die sich eine Treppe tiefer im Treppenhaus des fünfstöckigen alten Gebäudes befand, war für uns kein Problem. Wir wohnten im letzten Stockwerk, ganz für uns und ganz billig, ein Fünfer für uns arme Studenten im damaligen Osten von Berlin, in jeder Hinsicht.

    Lukas kannte ich schon seit der Grundschule. Wir waren zwar nicht in der gleichen Klasse, gingen aber beide in die Arbeitsgemeinschaft Schach und später in den Leichtathletikverein. Ab der neunten Klasse besuchten wir dann gemeinsam die Salzmannschule, die Erweiterte Oberschule in Waltershausen, Ortsteil Schnepfenthal. Ch. G. Salzmann und J. Ch. Friedrich GutsMuths hatten hier im 18. Jahrhundert den ersten deutschen Turnplatz eingerichtet, und zwar noch bevor Ludwig Jahn seinen Turnplatz in der Berliner Hasenheide eröffnete. Turnvater Jahn hatte zuvor an der Salzmannschule bei GutsMuths das Turnen erlernt und so kann man diesen durchaus als Turn-Großvater bezeichnen.

    Gemeinsam nahmen wir auch am fakultativen Lateinunterricht teil und waren auch sonst außerhalb der Schule dicke Freunde. Wir kamen beide aus einem christlichen Elternhaus und wunderten uns, dass wir überhaupt an die EOS durften. Staatsbürgerkunde und Geschichte waren uns ein Grauen und das, obwohl wir eigentlich an Politik und Geschichte sehr interessiert waren. Aber die kommunistische Indoktrination, das ständige Sichverbiegen-Müssen, waren uns zuwider.

    Irgendwann hatte Lukas dann beschlossen, Theologie zu studieren, und verweigerte den Dienst mit der Waffe. Er wollte als Bausoldat gehen, war aber vorerst noch nicht eingezogen worden und konnte daher gleich mit seinem Theologiestudium beginnen.

    Ich hatte mich für Medizin entschieden, obwohl ich lieber Germanistik studiert hätte. Das war mir aber schon wieder zu politisch, hatte doch die SED-Krake auch dieses Fach fest in ihrem Griff. Später bereute ich es, vielleicht war ich da auch etwas zu voreingenommen. Im Nachhinein erscheint halt manches einfacher, als es in Wirklichkeit war. Zum Glück hatte ich gute Noten, wodurch sich meine Möglichkeiten erweiterten. Was den Wehrdienst angeht, so war ich mit achtzehn Monaten davongekommen, mussten sich doch nicht wenige, die Medizin studieren wollten, »freiwillig« für drei Jahre verpflichten. Ein halbes Jahr habe ich anschließend noch in der Psychiatrie in Stadtroda gearbeitet.

    Zwei Jahre nach dem Abitur begann ich dann mein Studium in Berlin, da war Lukas schon im dritten Studienjahr. Ich hatte bei ihm angefragt, ob er ein Zimmer für mich wüsste, und wie es manchmal so ist, war sein bisheriger Studienfreund, mit dem er das Zimmer geteilt hatte, eine Woche zuvor ausgezogen.

    In der ersten Vorlesung an der Humboldt-Uni traf ich Uschi, die ich vom Sehen her aus einer der Parallelklassen der Salzmann-Schule in Schnepfenthal kannte. »Na du alte Schnepfe, das ist ja eine Überraschung, dich hier zu sehen«, begrüßte ich sie.

    Schnepfe war der Spitzname für die Mädels unserer Schule, was gleich die Begegnung auflockerte und einen Hauch von Intimität erzeugte. Ihre großen braunen Augen strahlten und ein erotisches Lächeln machte mich an. Noch am Nachmittag desselben Tages lagen wir in ihrem Bett. Wir lernten und vögelten uns durch das erste Semester. Dann war der Ofen aus, ich war noch nicht reif für eine längere Beziehung. Wenn ich Lukas sah, der inzwischen schon drei Freundinnen gehabt hatte, kam in mir das Gefühl auf, ich verpasse da etwas.

    Unsere Bude am Boxhagener Platz war ein beliebter Treffpunkt für alle möglichen Leute, die er mitbrachte, hauptsächlich Theologiestudenten, und alle möglichen Weiber. Wir diskutierten oft bis weit in die Nacht hinein und das Zimmer füllte sich mit blauen Nebelschwaden, dass man seinen Nebenmann kaum noch sehen konnte. Ich kam mir vor wie in der Kneipe um die Ecke.

    Das war am Anfang ganz toll, vor allem, wenn man wie wir aus der Enge und Biederkeit einer Kleinstadt kam, obwohl Engstirnigkeit damals überall in der Republik herrschte, auch in Berlin. Im Gegenteil, Berlin war quasi der Ausgangspunkt, die Quelle der Engstirnigkeit.

    In Moskau hatte Michael Gorbatschow begonnen, mit seiner Glasnost und Perestroika die alten, starren Strukturen aufzubrechen. Was wir da hörten, war einfach unglaublich. Entweder war das eine Finte oder die Parteiführung würde ihn über kurz oder lang entmachten, war unsere Meinung.

    Im Laufe der Zeit nahm ich auch den einen oder anderen von meinen Kommilitonen mit auf unsere Bude. Vor allem mit Frieder und Lars hatte ich mich angefreundet. Erst lernten wir zusammen und dann soffen, rauchten und diskutierten wir die halbe Nacht lang. Je mehr es jedoch auf die Prüfungen zuging, umso mehr störte es mich, dass laufend irgendwelche Leute auftauchten und hier rumhingen.

    »Das geht so nicht weiter«, meinte ich zu Lukas, »ich muss in Ruhe lernen können.«

    »Mach dir mal keine Sorgen, ich werde bald ausziehen, zu Nele.«

    »Ah, eine neue Flamme.«

    »Die ist die Richtige, hoffe ich.«

    »Freut mich für dich. Und für mich ist es ja wirklich das Beste, wenn ich erst mal alleine bin. Obwohl es mir schon leidtut, dass du dann nicht mehr hier bist.«

    »Wir bleiben auf jeden Fall in Kontakt, das ist doch gar keine Frage und offiziell ummelden werde ich mich auch noch nicht.«

    Eine Woche später war er weg. Nun begann die lernintensivste Zeit des ganzen Studiums: Examen in Anatomie, Physiologie und Biochemie.

    Zur Feier des Physikums machten wir erst einmal richtig einen drauf. Mein Gott, was habe ich damals vertragen. An einem Abend in einer Studentenkneipe am Prenzlauer Berg ging es hoch her.

    Am Tisch vor uns saßen zwei hübsche Mädels und zwei Kerle, ein großer Blonder und ein etwas kleinerer Dunkelhaariger, die ich hier noch nie gesehen hatte. Lukas und einige andere Theologen waren auch da. Wir waren ausgelassen, tranken einen halben Liter Bier nach dem anderen und sangen alle möglichen Studentenlieder: Es saßen die alten Germanen, Gaudeamus igitur, Oh alte Burschenherrlichkeit und Die alten Rittersleut. Das Ganze schaukelte sich regelrecht zu einem Sangeswettstreit hoch. Die Theologen sangen eine Strophe, wir Mediziner ließen die nächste folgen und so weiter. Die beiden Mädels und der Dunkelhaarige sangen auch die eine oder andere Strophe mit, während sich der große Blonde auffallend zurückhielt.

    Plötzlich stimmte einer der Theologen Die Gedanken sind frei an. Da konnten wir uns natürlich nicht lumpen lassen und stimmten ein.

    Der große Blonde und auch einige an den anderen Tischen schauten verdutzt und ernst in unsere Richtung. Mir war auch nicht ganz wohl dabei, aber die Hochstimmung, der Gruppenzwang und nicht zuletzt meine innere Einstellung ließen mich munter mitsingen.

    Danach stand ich auf und ging zu dem Tisch mit den fremden Mädels. Ich fragte die mit dem rotbraunen, glänzenden Haar, das in prächtigen Wellen über ihre Schultern fiel und mit den Spitzen bis zu ihren Brüsten reichte, die sich verführerisch durch ihren BH und ihr T-Shirt drückten:

    »Zu was für einem Verein gehört ihr denn?«

    »Germanisten«, antwortete sie und richtete sich dabei etwas auf, wodurch ihre schönen, vollen Brüste noch besser zur Geltung kamen.

    »Ist ja interessant, Germanisten seid ihr«, sagte ich und zog meine Augenbrauen hoch, weil ich nun erst recht neugierig wurde.

    »Ja, außer meinem Bruderherz hier, der studiert Klinische Psychologie«, antwortete sie und schaute den dunkelhaarigen Burschen an ihrer Seite an.

    »Ist auch interessant, aber Germanistik hätte ich lieber studiert. Darf ich mich setzen?«, fragte ich und hatte schon den leeren Stuhl an der Vorderseite des Tisches in der Hand.

    »Bitte, der ist noch frei«, sagte sie mit einem Lächeln.

    Ich setzte mich und strahlte sie an. Sie tuschelte und kicherte mit ihrer Freundin. Die beiden Mädels freuten sich, nur der große Blonde hatte einen mürrischen Gesichtsausdruck.

    »Ich bin der Henrik.«

    »Miriam, und das ist Saskia. Und was studierst du?«

    »Medizin.«

    »Ah, ein Streber«, sagte ihre nicht minder attraktive Nachbarin mit etwas kürzeren dunklen Haaren.

    Miriam stieß sie an und sagte: »Also, Saskia.«

    Worauf Saskia mich fragte: »Wieso hättest du lieber Germanistik studiert? Arzt ist doch ein Traumberuf.«

    »Und viele können nicht Medizin studieren wegen des Numerus clausus«, warf der große Blonde ein, der seine Sprache wiedergefunden zu haben schien und Ralf hieß.

    »Für Klinische Psychologie ist der Numerus clausus noch schärfer«, schaltete sich Miriams Bruder ein, »das kann man nur in Berlin studieren.«

    Die Luft war schwül und stickig, Rauchschwaden hingen im ganzen Raum und vermischten sich mit dem Biergeruch und den Ausdünstungen der Leute. Und angeregtes Reden und Diskutieren wurden ständig von lautem Lachen unterbrochen.

    »Hey, Henrik, stell uns doch mal deine Freundin vor«, rief Frieder vom Nebentisch herüber.

    Ich hob meinen Kopf. »Ist nicht meine Freundin, aber es dauert nicht mehr lange«, rief ich zurück und grinste Miriam an. Sie grinste nicht abgeneigt zurück.

    Dann stand ich auf. »Entschuldigt, ich muss erst mal eine Stange Wasser ablassen«, sagte ich und ging zur Toilette, die sich außerhalb der Gaststube gegenüber von der Eingangstür befand.

    Als ich wieder aus der Toilette rauskam, stand sie da an der offenen Kneipentür. Im Dämmerlicht der Flurbeleuchtung ging ich auf sie zu. »Ich brauche etwas frische Luft«, sagte sie.

    Doch ich blieb einfach vor ihr stehen und schaute sie frech an. Sie schlug die Augen auf und ich wusste, sie wollte mich. Heiß berührten sich unsere Lippen und ihre straffen, vollen Brüste, die sich an mich drückten, lösten eine jahrtausendealte Reaktion aus, ohne die wir alle nicht wären.

    3

    Am Abend trank Henrik nur eine Tasse von Lisas Tee aus der blauen Dose, den er viel zu lange hatte ziehen lassen, weshalb er auch gleich einen großen Schuss Weinbrand reinkippte.

    So hing er sinnlos auf der Couch rum, aber immerhin, er hatte heute an seinem Buch geschrieben, das erfüllte ihn mit stiller Freude, das gab ihm innere Kraft, das hielt ihn am Leben.

    Keine Stunde später war er eingeschlafen, wachte jedoch gegen Mitternacht aus einer inneren Unruhe heraus auf. Die Langbärtigen hatten wieder die Wohnung übernommen.

    Einer postierte sich an der Zimmertür, ein anderer setzte sich auf den Flügel, ein Dritter war dabei, ins Schlafzimmer zu gehen. Er erkannte den Guru, diesen Mistkerl, und dieses andere Schwein mit dem langen, schon leicht angegrauten Bart war auch dabei. Sein Herz begann zu rasen und er bekam einen Schweißausbruch. »Nein, nicht dahin, lasst Lisa in Ruhe!«, schrie er verzweifelt. Diesmal landete die leere Flasche an der Wand, doch die Bärtigen wollten nicht so schnell weichen, weshalb er einen Stuhl nahm und damit auf einen von ihnen einschlug. Aber ein anderer stellte ihm ein Bein, worauf er der Länge nach hinstürzte, hart mit der Stirn aufschlug und am Boden liegen blieb. Genau in diesem Augenblick stieß ihm eine weitere Gestalt einen Gewehrkolben gegen den Kopf und er verlor das Bewusstsein oder das, was davon noch übrig war.

    Einige Zeit darauf fröstelte es ihn, er zog die Wolldecke von der Couch runter und schlief, weiter auf dem Boden liegend, wieder ein.

    Zum Morgen hin tat ihm die ganze rechte Seite weh, besonders der Kopf. Steif und mit schmerzverzerrtem Gesicht erhob er sich und schleppte sich in sein Bad. Beim Blick in den Spiegel stellte er fest, dass er eine dicke Beule an der Stirn hatte. Er nahm eine Aspirin ein und schaute sich dann seinen linken Fuß an. Die Wunde von gestern hatte sich leicht entzündet, worauf er sie wieder mit seinem Antiseptikum behandelte und ein neues Pflaster darüberklebte. Danach drehte er den Wasserhahn auf und wartete, bis das Wasser eisig kalt war, tränkte einen Waschlappen damit, hielt sich den kalten Lappen an die Stirn und legte sich wieder auf die Couch, wo er erneut einschlief.

    Endlich ausgeschlafen verbrachte er den Rest des Vormittags damit, den ramponierten Stuhl zu

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