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Spiegelscherbensymphonie
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Spiegelscherbensymphonie
eBook306 Seiten4 Stunden

Spiegelscherbensymphonie

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Über dieses E-Book

Spiegelstaub, Geigenklang und Neumondnacht – Seit der Katastrophe des Weihnachtsballs leidet Thea unter Albträumen und findet keinen Zugang zur Musik mehr. Sie und die Geister glauben, Juli für immer verloren zu haben, da schenkt ihnen eine Überlieferung neue Hoffnung. Die Freunde fassen den Plan, Juli der Geisterjägerin zu entreißen.
Während Thea ihre Gegnerin nicht aus den Augen lässt, bereitet ihre Zukunft mit Jonah ihr zunehmend Sorgen und das Stipendium hängt bald am seidenen Faden.
Als ihre Freunde – lebende wie tote – ins Visier der Geisterjägerin geraten, muss sie deren düsteres Geheimnis lüften, bevor die Geister der Neumondnacht zum Opfer fallen.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum22. März 2021
ISBN9783753183442
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    Buchvorschau

    Spiegelscherbensymphonie - Katja Hemkentokrax

    3_-_Spiegelscherbensymphonie_ebook.jpg

    Inhalt

    1 Jonah

    2 Thea

    3 Jonah

    4 Thea

    5 Jonah

    6 Thea

    7 Jonah

    8 Thea

    9 Jonah

    10 Thea

    11 Jonah

    12 Thea

    13 Jonah

    14 Thea

    15 Jonah

    16 Thea

    17 Jonah

    18 Thea

    19 Jonah

    20 Thea

    21 Jonah

    22 Thea

    23 Jonah

    24 Thea

    25 Jonah

    26 Thea

    27 Jonah

    28 Thea

    29 Jonah

    30 Thea

    1 Jonah

    Es war bereits tiefe Nacht, als ich durch das Fenster auf das kleine Dach stieg. Der Mond war noch fast voll, die Sterne hell, der Himmel klar und tintenschwarz. Aber dafür hatte ich im Moment keinen Blick.

    Alles, was ich sah, war der Rücken des Typen, den ich seit Stunden suchte. Er saß am Rand des Daches, die Schultern eingefallen wie bei einem alten Mann, dem sämtliche Kraft ausgegangen war, und regte sich nicht.

    „Felix."

    Meine Stimme hörte sich fremd und falsch an, als hätte sie nicht die Berechtigung, hier zu sein. Alles kam mir so vor. Das Dach, die Schule, der verdammte klare Himmel. Als sollte nichts davon existieren. Als hätte die Welt anhalten müssen.

    Obwohl ich schon lange keine echte Anstrengung mehr spürte, fühlte mein Körper sich schwer an, während ich die wenigen Schritte über das Dach ging.

    „Felix, ich habe dich überall gesucht."

    Er antwortete nicht. Regte sich nicht einen einzigen Millimeter. Als ich mich neben ihn setzte, wandte sich nicht einmal sein Blick in meine Richtung. Stattdessen starrte er einen unsichtbaren Punkt in der Luft vor sich an.

    Eine Weile saßen wir einfach nur da, am Rande des Daches, und ich beobachtete die Statue, die so an unseren Oberlehrer erinnerte. Und gleichzeitig auch nicht. Konnten Geister verblassen?

    Schließlich hielt ich die Stille nicht mehr aus. Ganz vorsichtig, um ihn nicht zu erschrecken, legte ich eine Hand auf seine Schulter. „Rede mit mir."

    Erst dachte ich, dass er mich gar nicht gehört hatte, doch dann öffnete sich sein Mund. Mein schon längst nicht mehr wirklich schlagendes Herz schien einen Sprung zu machen – aber über Felix’ Lippen kamen keine Worte. Stattdessen presste er sie wieder aufeinander und sein Kopf bewegte sich zu einem Schütteln.

    Er ist vollkommen zerstört.

    Als der Gedanke in mir aufblitzte, bekam ich tatsächlich Angst. Felix war von uns immer der Vernünftige gewesen, der mit dem kühlen Kopf, der den Überblick und die Ruhe bewahrte. Der Fels in der Brandung.

    Aber nun, da der Geisterjäger Juli in seine Klauen bekommen – ihn vernichtet – hatte, schien es, als wäre von Felix nichts mehr übrig. Als wäre mit Juli ein Teil von ihm verloren gegangen. Mir war nicht klar, wie und ob ich das wieder richten konnte.

    „Bitte." Ich wusste nicht, was ich noch sagen sollte. In meinem Kopf klangen alle Worte nichtssagend, zu bedeutungslos für die Situation, sodass es mich gar nicht mehr wunderte, warum Felix stumm blieb.

    Erst als ich den Griff an seiner Schulter etwas verstärkte, bewegte sich sein Kopf. Er sah mich an, und im nächsten Moment wünschte ich mir fast, er hätte es nicht getan. Der dunkle Blick seiner Augen war kaum auszuhalten, aber an seinem gleichgültigen Gesichtsausdruck änderte sich nichts.

    „Was ...? Seine Stimme brach, er räusperte sich und versuchte es erneut: „Was soll ich machen?

    Die Verzweiflung in seiner Frage sprang augenblicklich auf mich über. Erwartete er wirklich einen Rat von mir? Felix war doch derjenige, der immer einen Plan aus dem Ärmel schüttelte, der immer irgendwie eine Portion Optimismus auftrieb. Wenn selbst er keine Hoffnung mehr hatte, was sollte ich dann noch ausrichten?

    Am liebsten wäre ich zurückgewichen und vor seiner Mutlosigkeit geflohen, aber das konnte ich Felix jetzt nicht antun. Ich legte ihm meine andere Hand auf die freie Schulter und hielt seinem Blick stand.

    „Was kann ich für dich tun? Willst du reden, soll ich einfach zuhören? Oder nur hier sein? Soll ich dich in Ruhe lassen? Willst du schreien? Oder den verdammten Geisterjäger ... willst du ...?"

    Keine Ahnung, was mir da durch den Kopf ging, aber ich konnte die Worte sowieso nicht aussprechen. Sie wären nicht richtig gewesen. Stattdessen holte ich tief Luft. „Sag mir, was du brauchst, Felix. Bitte. Ich will dir helfen."

    Er sah mich an, einen langen Moment. Dann schien er weiter in sich zusammenzusacken. Wieder dieses Kopfschütteln.

    „Nichts, sagte er, seine Stimme nur noch ein Flüstern. Als er sanft meine Hände von seinen Schultern nahm, füllten sich seine Augen mit Tränen. Sie liefen ihm über die Wangen, ohne dass sein Gesicht sich bewegte, und sein Blick fing wieder den unsichtbaren Punkt in der Luft ein. Ich spürte förmlich, wie er mir davon glitt. „Du kannst nichts tun, Jonah. Ihr könnt nichts tun. Er ist weg.

    Ich biss die Zähne aufeinander, dann versuchte ich es noch einmal anders: „Wir wissen jetzt, wer der Jäger ist. Wir können ihn – sie schnappen. Vielleicht gibt es einen Weg, um ..."

    Felix schüttelte abwesend den Kopf. „Kom– ... komplette Zerstörung ...", sagte er tonlos, als hätte er wieder den Text aus dem alten lateinischen Wälzer vor Augen.

    Ich erinnerte mich an das, was er vor den Ferien über die Gefangenschaft und Vernichtung von Geistern übersetzt hatte. Ich wusste, dass Juli für immer verloren war. Aber dass das für Felix ebenso gelten sollte, würde ich nicht akzeptieren! Er war schließlich noch hier – auch wenn er die meiste Zeit ins Nichts blickte, als wäre er weit weg. Als hätte er mich ebenfalls verlassen.

    „Wir sind für dich da, hörst du?, murmelte ich, obwohl das Versprechen sich wie eine leere Phrase anhörte. „Wir alle. Ich, Thea, Ben. Wir sind hier, wenn du uns brauchst. Wir werden dich festhalten.

    Keine Reaktion.

    „Und wir werden uns diese Geisterjägerin schnappen. Ein finsterer Unterton schlich sich in meine Stimme. „Sie wird dafür bezahlen, was sie getan hat. Ich schwöre dir, dass sie es bereuen wird.

    Stille.

    Keine Ahnung, ob Felix meine Worte gehört hatte. Ich bildete mir ein, dass ein kurzer Zug des Leids über sein Gesicht huschte. Nur eine Sekunde lang, bevor er wieder gedankenverloren den unsichtbaren Punkt in der Luft anstarrte.

    Etwas in mir fing Flammen. Wie ein knisterndes Lagerfeuer, das sich zu einem Waldbrand ausbreitete, fraß der glühende Schmerz sich durch mich hindurch und begann zu wüten.

    Ich stand auf und schlich zurück zum Fenster, das in den Flur führte. Kaum war ich auf den glatten Linoleumboden gesprungen, löste sich schon eine Figur aus den Schatten. Fahler Mondschein fiel auf Bens Gesicht. Er sah blass und müde aus.

    „Wie geht es ihm?"

    „Nicht gut, gab ich zurück und schüttelte den Kopf. „Er braucht ... Zeit, denke ich.

    Zeit. Wenn wir Geister eines hatten, dann war es Zeit. Aber wie viel benötigte man davon, um den Verlust seines Bruders zu verarbeiten? Jahre? Jahrhunderte? Konnte Felix das, was die Jägerin ihm angetan hatte, überhaupt jemals verschmerzen?

    Ein Funkensturm wehte durch meinen Brustkorb und ich glaubte, ihn mein Herz versengen zu spüren.

    Ben kam einen Schritt näher. „Und wie geht es dir?"

    „Mir?" Ich drehte mich langsam zu ihm.

    Er nickte zögerlich. „Ja. Ich meine, Juli war doch ... er war doch auch dein ..."

    Das Feuer schoss in meiner Brust hoch und bevor ich die Worte sorgfältig wählen konnte, kamen sie mir schon über die Lippen: „Mein kleiner Bruder."

    Als ich loslief, streckte Ben die Hand aus. Er wollte nach meinem Arm greifen, ein normaler Reflex, aber seine Finger gingen durch mich hindurch. Statt einer Berührung war da nur ein Prickeln, ein eisiges Schaudern für ihn und ein warmes für mich. Ich blieb stehen und drehte mich um, schaffte es aber nicht, meinem ältesten Freund in die Augen zu sehen.

    „Gib mir ... einen Moment."

    „Klar", sagte Ben und rieb sich die Arme.

    Ich wandte mich zur Treppe. „Danke", sagte ich und rannte los.

    Ich war ziellos, musste nur weg von den Gedanken, die das Feuer in mir weiter anfachten. Aber es schien hier keinen Ort zu geben, der mich beruhigte, der die Flammen besänftigte.

    Als ich in den unteren Flur kam, sah ich eine Erinnerung von Juli an mir vorbeirennen. Mit einem breiten Grinsen, das eine Zahnspange entblößte, und das zu fragen schien: Warum schaust du schon wieder so griesgrämig, du Pappnase? Ich änderte meine Richtung und eilte in die Eingangshalle, doch nun saß die Juli-Erinnerung auf dem alten Sessel von Joseph Engelbert I. Der Kleine lachte so hemmungslos, dass die Sommersprossen auf seiner Nase zu tanzen schienen. Hey Jonah, lass uns Verstecken spielen!

    Ein Feuersturm zischte mir durch den Schädel. Rauchschwaden drohten, mir die Sicht zu nehmen. Die Haut meiner Arme und Beine brannte. Obwohl ich mir selbst sagte, dass ich bereits tot war, dass ich nicht atmen musste und auch nicht in Flammen stehen konnte – ich glaubte, an dem Schmerz sterben zu müssen.

    Ich brauche frische Luft.

    Also stürmte ich raus. Auf den Pausenhof, über den gepflasterten Weg und den Sportplatz in Richtung des Waldes. Einen Moment noch konnte ich die Juli-Erinnerung jauchzend hinter mir hersprinten hören. Sie rief: Ich renn auch immer, wenn ich nachdenken muss. Feuert das Gehirn an!

    Am Waldrand hatte ich sie endlich abgeschüttelt, doch ich blieb nicht stehen. Das Feuer pochte noch immer in meinen Schläfen. In mir knisterte und krachte es, als erschütterten schmerzhaft starke Herzschläge meinen gesamten Körper.

    „Warum?, stieß ich hervor. Meine Stimme klang rissig. Dann brüllte ich in die Dunkelheit des leeren Waldes: „WARUM JULI?

    Ich rannte durch das Unterholz, schloss die Augen, rauschte durch Baumstämme hindurch und versuchte, mich nur auf meinen geisterhaften Atem zu konzentrieren.

    Dann traf ich auf eine Barriere, mit solcher Wucht, dass sie mich zurückwarf. Ich fluchte. Hier war ich anscheinend zu Lebzeiten nie gewesen.

    Ich rappelte mich hoch, schlug eine andere Richtung ein und rannte – bis ich erneut auf eine unsichtbare Wand traf. Mit aller Kraft warf ich mich dagegen, schrie und schlug um mich, auch wenn ich wusste, dass es zwecklos war. Die Welt hinter dieser Grenze existierte für mich nicht.

    Je tiefer ich in den Wald hineinlief, desto öfter traf ich auf Sackgassen. Im Gegensatz zu Felix war ich nie der große Spaziergänger gewesen und so blieben mir die meisten Wege hier verwehrt. Als es irgendwann überhaupt nicht mehr weiterging, wurde mir klar, dass ich mich zu weit von der Schule entfernt hatte. Ich war schließlich an Sankt Engelbert gebunden.

    Wie ein Tiger im Käfig lief ich an der unsichtbaren Barriere auf und ab. Es war unmöglich, meinen Gedanken davonzurennen, wenn ich hier eingesperrt war.

    „LASS MICH RAUS!, brach es aus mir hervor und ich wusste noch nicht einmal, mit wem ich da sprach. „ICH WILL RAUS! LASS MICH FREI!

    Mein Körper bebte vor Zorn und der Feuersturm in mir drin schien kurz davor zu sein, mich explodieren zu lassen. Ich musste an Thea denken, die Sankt Engelbert nur noch ein paar Jahre lang besuchen würde. Wie konnte ich ein richtiger Freund für sie sein, wenn ich nicht einmal in der Lage war, das verdammte Schulgelände zu verlassen?

    Das spielt jetzt keine Rolle. Sie braucht mich, rief ich mir das wirklich Wichtige in Erinnerung.

    Besonders nach dem, was mit Juli geschehen war, musste ich für Thea da sein. Aber würde ich sie tatsächlich schützen können – ohne Körper, ohne Leben? Bei Juli hatte ich schließlich auch versagt.

    „Juli ..."

    Ich wollte gegen herumliegende Steine treten, wollte mit den Fäusten gegen Baumstämme schlagen, bis meine Kraft verbraucht und meine Knöchel blutig waren.

    Aber ich konnte nicht. Ich konnte das Feuer, die unbändige Wut, nicht auf diese Art loswerden, weil ich tot war. Da war kein Blut mehr, das durch meine Adern floss. Ich konnte überhaupt nichts mehr tun, außer ...

    Langsam hob ich den Kopf zum Himmel. Durch die Baumkronen blitzte die Sichel des abnehmenden Mondes hindurch und beleuchtete den Wald um mich herum. Ich verkrampfte die Hände zu Fäusten und dann brüllte ich auf, so laut ich konnte. Legte meine ganze Wut, den ganzen Schmerz in die Stimme, die ich noch hatte.

    Das Feuer schien aus meinen Fingern zu fließen und den Wald in Brand zu setzen. Es war wie ein Sturm, der sich um mich herum bildete. Wind peitschte durch die Äste, Zweige knackten und brachen, die Blätter am Boden wurden aufgewirbelt und führten einen tobenden Tanz in der Luft auf. Und dann ließ ich, in der Einsamkeit des Waldes, die Gedanken zu, die ich die ganze Zeit zu unterdrücken versuchte.

    Ich habe ihn nicht beschützt. Ich hätte da sein müssen. Ich hätte wissen müssen, dass es nicht der Arndt war, hätte daran zweifeln müssen. Ich hätte irgendetwas tun sollen – darauf bestehen, dass wir zusammen bleiben! Ich hätte Juli nicht die ganze Zeit ärgern dürfen, ich hätte netter zu ihm sein und öfter mit ihm spielen müssen. Ich hätte ihm sagen sollen, wie wichtig er mir ist.

    Und dann: Ich habe meinen kleinen Bruder verloren.

    Der peitschende Wind um mich ließ nach. Ein paar Zweige segelten aus den Baumkronen, die Blätter schwebten wieder zu Boden, und dann breitete sich Stille im Wald aus. Eiskalte, leere Stille, die kein Ton dieser Welt hätte füllen können. Außer Julis Stimme.

    2 Thea

    „Jonah, nein!" Keuchend fuhr ich auf und strampelte mich aus der Decke frei. Das Schlafshirt klebte mir am Oberkörper und auch mein Haar war schweißnass. Hatte da jemand geschrien? Nein, ich hatte geträumt.

    Aus den Augenwinkeln nahm ich eine Bewegung wahr und schnappte nach Luft. Ein Windstoß wehte durch das gekippte Fenster und blähte die Gardine auf, die im Mondlicht wabernd leuchtete.

    Ich wischte mir eine Locke aus der Stirn und atmete erleichtert aus. Es war warm für eine Januarnacht und ein Unwetter schien in der Luft zu liegen.

    Mit nackten Füßen tapste ich über die Dielen, zog die Gardine zur Seite und öffnete das Fenster komplett, um mich hinauszulehnen. Ich schaute auf zum Himmel.

    So viele Sterne. Ob Juli bei ihnen war? Ob er über das Firmament flitzte und lachend mit den Sternschnuppen Fangen spielte? Ein Kloß bildete sich in meinem Hals.

    Wahrscheinlich nicht.

    Ich hatte keinen Schimmer, was mit einem Geist geschah, wenn er im Innern eines Quecksilberspiegels gefangen wurde. Aber die Chancen standen schlecht, dass unser kleiner Geisterfreund noch ... existierte.

    Er ist weg, brauste ein vertrauter wie verhasster Gedanke in meinem Kopf auf. Deinetwegen. Du hast ihm versprochen, dass er bei dir sicher ist. Du hast –

    „Ich weiß." Meine Stimme klang heiser. Ich ließ den Wind mein glühendes Gesicht kühlen, während die ersten Tränen flossen. Ob es jemals leichter werden würde? Ob ich mich irgendwann an die Trauer und Schuld gewöhnte und nachts wieder durchschlief? Ich hoffte nicht.

    Zu Beginn des Schuljahres hatte ich oft weinend wachgelegen, weil ich das Meer und Oma Gerti vermisst hatte. Sie war für mich der wichtigste Teil meiner Familie gewesen, hatte mir Sicherheit, Liebe und meine Geige geschenkt. Ihr Tod hatte eine Lücke hinterlassen, eine leere Stelle, die nichts füllen konnte. Und doch hatte die Wunde zu heilen begonnen.

    Dass es mit Juli auch so sein würde, war unvorstellbar. Ich war für ihn verantwortlich gewesen. Er war brutal aus seinem Geisterdasein gerissen worden und das war meine Schuld.

    Nun begann ich doch zu frösteln, aber ich konnte den Blick nicht vom tiefschwarzen Nachthimmel lösen. Ich flüsterte: „Juli, falls du mich hören kannst. Es tut mir unendlich leid. Meine Worte klangen hohl und bedeutungsleer. „Du fehlst mir.

    Hätte Felix mich so gesehen, wäre ich umgehend mit einem tadelnden Kommentar und einem fürsorglichen Lächeln zurück ins Bett geschickt worden. Er hatte immer Angst, dass ich mir eine Erkältung einfing, und ich hatte mich schon oft über seine Bemutterung lustig gemacht.

    Doch seit ich Anfang der Woche aus den Weihnachtsferien zurückgekommen war, hatte ich ihn noch nicht getroffen. Meine Streifzüge durch das Schloss waren einsam und erfolglos geblieben und er hatte mich auch nicht besucht. Langsam befürchtete ich, dass er mich vielleicht für immer meiden würde. Dass er mir insgeheim die Schuld gab.

    Wer hätte gedacht, dass Felix ein noch größerer Meister im Versteckspielen ist als Juli?, hatte Jonah an diesem Morgen zerstreut gefragt. Selbst er hatte Probleme, den ehemaligen Schülersprecher ausfindig zu machen. Wie sehr ihn das besorgte, konnte er vor mir nicht verbergen. Er sprach und bewegte sich, als würde die Last der ganzen Welt auf seinen Schultern ruhen. Als wäre er ein Superheld, der all seine Kräfte verloren hatte.

    Unwillkürlich ballten meine Hände sich zu Fäusten und ich biss die Zähne aufeinander. Wenn man einen geliebten Menschen verlor, war es wohl normal, Wut zu empfinden. Wahrscheinlich war es für die Trauernden meistens schwierig, dieses Gefühl zu kanalisieren. Auf was sollte man wütend sein? Das Schicksal, den Lauf der Zeit, eine Krankheit oder einen Gott?

    Nun, in meinem Fall hätte das eigentlich keine Frage sein sollen. Trotzdem richtete sich mein Zorn meistens gegen mich selbst. Anstatt gegen sie. Hannah Sanddorn.

    Seit dem Weihnachtsball hatte ich versucht, nicht über die Vertrauenslehrerin von Sankt Engelbert nachzudenken. Zu überwältigend und verstörend waren die Emotionen, wenn ich es tat. Enttäuschung, Trauer, Hass. Verständnislosigkeit.

    Doch seit ich aus den Ferien zurück war, drängte sich mir die Erinnerung an unseren Kampf auf dem Dachboden immer wieder auf. Die Unbarmherzigkeit und Härte, mit der sie mich von sich gestoßen hatte. Die berechnende Kälte in ihrer Körpersprache, als sie Juli stumm aufgefordert hatte, sich zu ergeben. Wie hatte sie ihm das antun können? Ausgerechnet Frau Sanddorn, die seit meiner Ankunft auf Sankt Engelbert so freundlich und hilfsbereit gewesen war. Die mir Mut gemacht und sich beim Herzog für mich eingesetzt hatte. Meine einzige Verbündete im Kollegium der Schule. Warum musste es ausgerechnet sie sein?

    Nicht zum ersten Mal kam mir der Gedanke, dass Frau Sanddorn nur nett zu mir gewesen war, weil sie geahnt hatte, dass ich mit den Geistern in Kontakt stand. Und ich hatte sie geradewegs in Julis Versteck geführt.

    Es war ein Fehler von Felix gewesen, mir diese Information anzuvertrauen. Der Dachboden hätte weiterhin geheim bleiben sollen, ein Ort, den nur Juli kannte. Doch nachdem der kleine Geist sich Felix gegenüber in den Herbstferien verplappert hatte, waren wir irgendwann alle dort ein- und ausgegangen. Leichtsinnig und dumm. Was hatten wir uns dabei gedacht?

    Nein, was hatte sie sich dabei gedacht?

    Frau Sanddorn hatte mich ausspioniert, manipuliert und benutzt, so wie sie es mit jedem auf Sankt Engelbert tat. Dass sie sich mit Dr. Jarvis angefreundet hatte, diente wahrscheinlich dem Zweck, an das Quecksilber im Chemielabor heranzukommen. Und das Rabenkostüm, das sie auf dem Herbstball getragen hatte, war ein Partnerkostüm gewesen.

    Ich bin Hugin, das Auge Odins, hatte sie auf dem Fest verkündet und mir damit die Chance gegeben, selbst darauf zu kommen, dass es auch einen Munin geben musste. Schließlich hatte Odin zwei Raben und im zweiten Kostüm hatte der Arndt gesteckt und Frau Sanddorn unwissentlich das perfekte Alibi beschafft. Doch ich hatte eins und eins nicht zusammengezählt und Juli hatte für meine Naivität bezahlt.

    Stopp, dachte ich und überraschte mich damit selbst. Das reicht. Ich schloss das Fenster, kroch bibbernd zurück ins Bett und wickelte mich fest in meine Decke. Juli hätte nicht gewollt, dass ich mich selber fertig mache. Schon gar nicht, wenn die Schuldige eindeutig feststand.

    Frau Sanddorn hatte ihn auf dem Gewissen und Frau Sanddorn würde für dieses Verbrechen bezahlen. Ich wusste nicht, wann und wie. Doch auf einmal durchströmte mich eine Ruhe der Gewissheit: Ich würde sie nicht davonkommen lassen. Ich würde in Julis Namen kämpfen und Sankt Engelbert wieder zu einem sicheren Ort machen für alle Schüler, die ihr Nachleben hier verbrachten.

    Mit diesem Vorsatz sank ich in einen traumlosen Schlaf.

    3 Jonah

    Ich schaffte es erst zurück in die Schule, als bereits die Sonne aufging. Die ganze Nacht über war ich die Pfade des Waldes entlanggewandert, die ich passieren konnte. Ich hatte morsche Bäume zum Einknicken gebracht und das Feuer meiner Gedanken ausbrennen lassen.

    Jetzt, wo ich wieder vor dem mächtigen Gebäude stand, in dem langsam die ersten Schüler erwachten, wusste ich nicht mehr weiter. Ich hatte mir die Kapuze über den Kopf gezogen und normalerweise half das, mich in meine eigene kleine Blase zurückzuziehen und zur Ruhe zu kommen.

    Heute nicht. Genau wie es auch in den letzten Tagen nicht funktioniert hatte. Also wo sollte ich jetzt mit mir und diesen Gefühlen hin?

    Ich hob den Kopf und mein Blick wanderte automatisch zu dem fast ausgestorbenen Wohntrakt, in dem sich Thea jetzt wahrscheinlich in ihrem Bett von der einen auf die andere Seite warf. Wenn sie denn überhaupt noch schlief. Ich hatte in den letzten Nächten immer mal wieder einen Blick in ihr Zimmer geworfen, um nach ihr zu schauen und sicherzustellen, dass sie in Ordnung war. Aber das war sie natürlich nicht.

    Ich wusste, dass sie sich Vorwürfe machte, und alle meine Versuche, sie vom Gegenteil zu überzeugen, waren zum Scheitern verurteilt. Es war nicht ihre Schuld, was mit Juli passiert war. Aber wer wusste schon, wie ich mich in ihrer Lage gefühlt hätte?

    Plötzlich stieg in mir die Sehnsucht auf, sie zu sehen. Mit ihr darüber zu reden, was in

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