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Der Lotuskrieg 2 - Kinslayer
Der Lotuskrieg 2 - Kinslayer
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eBook784 Seiten9 Stunden

Der Lotuskrieg 2 - Kinslayer

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Über dieses E-Book

Das aufsehenerregende Debüt vom Autor der NEVERNIGHT-Bestsellersaga!
Eine ungewöhnliche neue Heldin in einer dystopischer Steampunk-Welt, die dem feudalen Japan gleicht.
Nachdem die Sturmtänzerin Yukiko dem Leben des wahnsinnigen Shōgun Yoritomo ein Ende gesetzt hat, droht dem Inselreich Shima ein Bürgerkrieg. Die Lotusgilde schmiedet ein Komplott, um die unterbrochene Dynastie zu retten und gleichzeitig die aufflackernde Rebellion zu unterdrücken: Sie unterstützt einen Nachfolger des Shōgun, der sich nichts sehnlicher wünscht als Yukikos Tod.
SpracheDeutsch
HerausgeberCross Cult
Erscheinungsdatum6. Dez. 2021
ISBN9783966586184
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    Buchvorschau

    Der Lotuskrieg 2 - Kinslayer - Jay Kristoff

    1

    DAS MÄDCHEN, DAS ALLE GILDENMÄNNER FÜRCHTEN

    Mit der Eleganz fetter Säufer, die auf den Abtritt zu torkeln, brummten drei Gildenschiffe über den blutroten Himmel. Riesig waren sie, schwer gepanzert – sie gehörten zu den wuchtigsten Schlachtschiffen, die binnenlands in den Werften gebaut wurden. Ihre Ballons hatten die Farbe von Feuer. Geschütztürme ragten wie Stacheln auf, und die Maschinen spien schwarze Abgase in den vergifteten Himmel.

    Das Flaggschiff war dreißig Meter lang. Drei mit Lotusblüten bestickte rote Flaggen flatterten am Heck. Sein Name war in breiten, schwungvollen Kanji auf den Bug gemalt – eine Warnung an alle Narren, sich ihm nicht in den Weg zu stellen.

    Izanamis Hunger.

    Bruder Jubei ließ sich nicht anmerken, ob ihm beklommen dabei zumute war, auf einem Schiff zu dienen, das nach den Gelüsten der dunklen Mutter benannt worden war. Trotz des eisigen Windes war ihm warm in seinem Atmos-Panzer. Er versuchte, das nervöse Flattern seines Magens zu ignorieren und durch tiefe Atemzüge seinen Herzschlag zu beruhigen. Stumm wiederholte er das Mantra – »die Haut ist stark, das Fleisch ist schwach, die Haut ist stark, das Fleisch ist schwach« – und rang darum, seine Mitte zu finden. Doch so sehr er sich auch bemühte, es gelang ihm nicht, das Gefühl der Unzufriedenheit niederzukämpfen.

    Der Kapitän der Flotte stand an der Reling und schaute auf das Iishi-Gebirge hinab. Verschlungene Muster schmückten seinen Atmos-Panzer, stahlgraue Einlegearbeiten, die in Messing und Kolben eingelassen waren. Ein Mech-Abakus saß auf seiner Brust: ein Gerät, das aus Stäben, Perlen und Elektronenröhren bestand und unermüdlich zirpte wie ein Aufziehinsekt. Ein Dutzend präparierte Tigerschwänze hingen an den Schulterstücken des Kapitäns. Es wurde gemunkelt, sie seien ein Geschenk des großen Flottenmeisters des Tora-Kapitelhauses selbst gewesen, des alten Kioshi.

    Der Name des Kapitäns lautete Montarō, doch für seine Mannschaft war er die Geißel der Gaijin. Er war ein Veteran der Invasion Morchebas; als Oberbefehlshaber über die Gildenflotte hatte er die Bodentruppen des Shōgunats gegen die rundäugigen Barbaren jenseits des östlichen Meeres unterstützt. Doch dann war der Shōgun ermordet worden, die Offensive war zusammengebrochen, und das Kapitelhaus Kigen hatte den Kapitän zurückgerufen, um ihn im eigenen Land auf einen neuen Feind anzusetzen. Zu Bruder Jubeis großem Stolz hatte die zweite Blüte Kensai unter all den Neuerwachten in Kigen ihn dazu ausgewählt, Montarō zur Hand zu gehen.

    »Kann ich etwas für dich tun, Kapitän?« Jubei stand in respektvollem Abstand hinter der Geißel, den Blick gesenkt. »Brauchst du etwas?«

    »Mit einer Spur unserer Beute wäre ich vollauf zufrieden.« Das knisternde Summen, das aus den Lautsprechern drang, klang ein wenig ärgerlich. »Das schwache Fleisch selbst«, er klopfte sich auf die Brust, »braucht keine besondere Aufmerksamkeit.« Dann legte er einen Schalter um und sprach in sein Handgelenk. »Siehst du was von da oben, Shatei Masaki?«

    »Es bewegt sich nichts, Kapitän.« Die Antwort drang nur schwach zu ihnen durch, obwohl sich der Ausguck lediglich zehn Meter über ihnen befand. »Aber das Blätterdach da unten ist auch so dicht wie Nebel. Selbst mit dem Fernrohr hat man kaum eine Chance, es zu durchdringen.«

    »Kluges Kaninchen«, zischte die Geißel. »Hat unsere Maschinen gehört und ist in ein Loch gekrochen.«

    Steuerbords zog eine Felsspitze vorbei wie ein schwarzer Eisberg, der in einem Meer aus Ahorn und Zedern schwamm. Die Gipfel des Gebirges waren mit gefrorenem Schnee verkrustet, Schleierwolken hatten sich daran verfangen. Das Donnern der Maschinen und das Knattern der Propeller echote unter ihnen durch den Wald. Der Herbst hatte bereits die Arme ausgebreitet, um die Iishis kalt zu umschlingen. Zögerlich begannen die Blätter, sich an den Rändern rot zu färben.

    Die Geißel seufzte, hallend und metallisch. »Selbstverständlich ist das nur eine Regung meines schwachen Fleisches … Doch muss ich zugeben, dass ich den Himmel über Shima vermisst habe.«

    Jubei war überrascht. Wurde von ihm erwartet, dass er mit seinem befehlshabenden Offizier plauderte? Ein unbehaglicher Augenblick verstrich, dann kam der junge Gildenmann zu dem Schluss, dass es unhöflich wäre, nichts zu erwidern.

    Zaghaft fragte er: »Wie lange warst du in Morcheba stationiert, Kapitän?«

    »Acht Jahre lang. Und es gab die ganze Zeit über nichts anderes zu jagen als Bluttrinker und Hautdiebe …«

    »Ist es wahr, dass der Himmel über den Ländern der Rundaugen blau ist?«

    »Nein.« Die Geißel schüttelte den Kopf. »Nicht mehr. Heutzutage ist er eher blasslila.«

    »Irgendwann würde ich ihn gern einmal sehen.«

    »Tja, wenn wir unser Kaninchen rasch erlegen, steht dem nichts im Wege.« Finger in Panzerhandschuhen trommelten auf die Reling. »Ich hatte gehofft, wir würden es erwischen, ehe es die Iishis erreicht. Aber es ist findig.«

    Jubei blickte sich zu den Schiffen an ihren Flanken um. Sie strotzten vor Waffen und Söldnern. Unzufrieden biss er die Zähne zusammen, bevor er sich einen Ruck gab.

    »Entschuldige, Kapitän«, sagte er vorsichtig. »Darf ich dich fragen … Natürlich weiß ich, dass der Sohn des alten Kioshi ein Verräter ist. Er hat dem Donnertiger Flügel gebaut, und dafür muss er bestraft werden. Aber diese Flotte … So viel Mühe, nur um einen einzigen Jungen unschädlich zu machen, das scheint mir …«

    »Übertrieben?«

    »Hai.« Jubei nickte langsam. »Ich habe gehört, dass der alte Kioshi und die zweite Blüte Kensai wie Brüder gewesen sein sollen. Dass Kensai-sama den Verräter wie einen Sohn aufgezogen hat. Aber, und bitte vergib mir meine Kühnheit … Kommt es dir nicht auch so vor, als gäbe es wichtigere Beute zu jagen?«

    »Du sprichst von Yoritomos Attentäterin.«

    »Und den Kage-Rebellen, die sie verstecken.«

    Der Kapitän warf ihm einen Blick zu. »Verstecken?« In seiner Stimme schwang grimmige Belustigung mit. »Diese junge Dame versteckt sich nicht vor uns, junger Bruder. In den letzten zwei Wochen ist sie in allen vier Clan-Hauptstädten aufgetaucht. Hat die Hautlosen beinahe zur offenen Rebellion getrieben. Und vergiss nicht, dass sie den Shōgun dieser Nation umgebracht hat, indem sie ihn bloß angeschaut hat.«

    »Haben wir da nicht einen Grund mehr, sie zur Strecke zu bringen?« Jubei bebte vor rechtschaffenem Zorn. »Die Leute auf der Straße sagen, wir in der Lotusgilde hätten Angst vor ihr! Vor so einem schmächtigen Ding. Einem Kind! Weißt du, wie sie sie nennen, Kapitän? Die Hautlosen, meine ich. Wenn sie sich in ihren dreckigen Spielhöllen oder in ihren Rauchhöhlen versammeln … Weißt du, welchen Namen sie ihr gegeben haben?«

    »Sturmtänzerin«, erwiderte die Geißel.

    »Viel schlimmer!«, fauchte Jubei. »Sie nennen sie das Mädchen, das alle Gildenmänner fürchten!«

    Ein kurzes hohles Lachen drang aus dem Helm der Geißel. »Nicht dieser Gildenmann.«

    Jubei starrte auf seine Stiefelspitzen hinunter und fragte sich, ob er sich zu viel herausgenommen hatte. Der Kapitän blickte zu einem der anderen Schiffe hinüber, der Lotuswind, die in anderthalb Kilometern Abstand folgte. Sie zog zwei blauschwarze Abgasstreifen hinter sich her; Backbord- und Steuerbordmaschine arbeiteten tadellos. Montarō berührte einen anderen Schalter auf seiner Brust und sprach wieder in sein Handgelenk. In seiner Stimme blitzte Stahl.

    »Kapitän Hikita, Bericht!«

    »…ne Spur.« Die Antwort war so schwach, dass sie durch das statische Rauschen kaum zu hören war. »…ber wir sind fast genau über der Stelle, an der die Gl… und Gloria im Somm… das … tsune-Mädchen an Bord genommen ha… Der Stützpu… sollte in der Nähe sein.«

    »Er muss hier irgendwo sein«, knurrte die Geißel. »Erst letzte Nacht hat er den Fluss verlassen, und zwar zu Fuß. Lass deine Waffenmeister eine Feuerblockade vorbereiten. Hundertfünfzig Meter lang, vom Ufer aus. Es wird Zeit, dass wir das Häschen aufscheuchen.«

    Die Bestätigung kam knisternd und hallend über die Funkverbindung.

    Die Lotuswind legte sich gemächlich auf die Seite, wendete dann und flog zurück nach Süden. Das eintönige Surren ihrer Propeller entfernte sich. Jubei sah, wie die Feuermannschaft über das Deck schwärmte – aus der Ferne sahen die Männer wie gepanzerte Ameisen aus. Sie bereiteten Brandbomben und Anzündladungen vor. Als Jubei gerade versuchte, durch das undurchdringliche Blätterdach zu spähen, meldete der Kapitän der Lotuswind, alles sei bereit.

    Die Stimme der Geißel zischelte über alle Funkkanäle. »Auf den Ausgucken: Augen auf! Kapitän Hikita, beginne mit dem Bombardement.«

    Jubei beobachtete, wie ein Schwarm schwarzer Umrisse aus dem Bauch der Lotuswind fiel und im Laub verschwand. Eine Sekunde später erschütterte eine Folge dumpfer Explosionen den Frieden des Waldes. Stichflammen loderten zwischen den Bäumen auf. Sie schossen dreißig Meter in die Höhe, und die Hitzewellen warfen die Hunger herum, als sei sie das Spielzeug eines kleinen Kindes. Jubeis metallene Haut vibrierte schwach. Die Lotuswind kreuzte über dem Flussufer und steckte große Stücke des Waldes in Brand.

    Die Flammen leckten mit fiebrigen Zungen über trockene Blätter und breiteten sich rasch aus. Eine erstickende Wolke aus Ruß und Asche wälzte sich durch den Wald. Auf der Steuerbordseite ließ das zweite Geleitschiff, die Stimme aus dem Abgrund, ebenfalls Feuerbomben auf die uralten Bäume hinabregnen. Die Echos der Explosionen dröhnten durchs Flusstal. Kreischend stoben Vogelschwärme auf, und alle Arten von Tieren flohen durch das Unterholz nach Norden, um den gierigen Flammen zu entkommen. Fasziniert beobachtete Jubei, wie die machtvolle Gildentechnologie in wenigen Augenblicken Baumriesen verschlang, die Jahrhunderte lang gewachsen waren.

    »Irgendein Zeichen von ihm?«, fragte die Geißel über Funk.

    »Negativ«, berichteten die Späher auf der Lotuswind.

    »Nichts zu sehen«, kam es aus dem Ausguck der Hunger über ihnen.

    Die Antwort von der Stimme war mit schwachem Rauschen unterlegt. »Wir haben Sichtkontakt. Dreihundert Meter Nordnordost. Bestätigung?«

    »Ich sehe ihn!«, meldete ihr eigener Späher. »Siebzig Grad steuerbord!«

    Der Steuermann brachte die Maschinen auf Hochtouren, und das Lied der Propeller steigerte sich um eine Oktave. Der Bug schwang herum. Jubei griff nach seinem Fernrohr und suchte das Blätterdach nach Lücken ab. Schweiß lief ihm in die Augen, und kurz verschwamm das Bild. Zwischen den moosbewachsenen Mammutbäumen stiegen Rauchschwaden auf. Fallende Blätter, fliehende Vögel. Ein Königreich aus Rinde und Stein. Aber endlich sah er ihn, er sah ihn – eine schmale Gestalt, die in schmutziges Grau gekleidet war und zwischen zwei großen knorrigen Ahornbäumen hindurchhuschte.

    »Da!«, rief er. »Da ist er ja!«

    Kurzes dunkles Haar. Blasse Haut. Und schon war er wieder fort.

    »Bodentruppen, bereitet euch auf die Verfolgung vor.« Der Befehl der Geißel war so ruhig wie ein Mühlenweiher. »Werfer-Mannschaften in volle Alarmbereitschaft. Auf Geheiß der zweiten Blüte ist das Ziel sofort zu liquidieren.«

    Die Geschützpforten in der Bordwand der Stimme öffneten sich, dann die der Hunger. Die Rohre der Shuriken-Werfer schoben sich hindurch. Rasiermesserscharfe Wurfsterne sprühten aus den Flanken der Schiffe und zerfetzten das Blättermeer unter ihnen. Abgetrennte Zweige stürzten zu Boden, das Knattern der Werfer übertönte selbst das Brüllen der hungrigen Flammen. Jubei glaubte, ihre Beute durchs Unterholz rennen zu sehen, durch einen Hagel glitzernden Metalls. Die Marineinfanteristen an Bord überprüften ein letztes Mal ihre Waffen; in wenigen Minuten würden sie über dem Wald abspringen. Feuer im Süden. Beschuss von oben. Söldner, die den Wald zu Fuß durchkämmten. Gepanzerte Kriegsschiffe am Himmel.

    Jubei lächelte still. Die Flammen spiegelten sich auf seiner Messinghaut. Das Kaninchen hatte ihnen Zeit abgetrotzt, so viel war sicher. Aber zu guter Letzt hatte das Glück Kioshis Sohn doch noch verlassen.

    Die Geißel wandte sich von der Reling ab. Als er sprach, war ihm die Genugtuung anzuhören. »Gut möglich, dass du Morcheba schneller zu sehen bekommst, als du …«

    Ein Lichtblitz flammte auf.

    Blendend. Weiß wie brennendes Magnesium. Es dauerte eine Sekunde, bis die Schockwelle das grelle Leuchten eingeholt hatte. Hell, hell, hell! Lichtreflexe auf Messinghaut. Dann folgte der Donner – ein bebender, markerschütternder Knall, der die Hunger seitlich über den Himmel stieß. Die Maschinen heulten und qualmten protestierend. Jubei verlor das Gleichgewicht und klammerte sich zu seiner grenzenlosen Beschämung am Arm der Geißel fest, um nicht lang hinzuschlagen.

    Eine Welle heißer Luft. Gequältes Metall kreischte. Weitere Explosionen, ausgelöst durch die erste. Jubei drehte sich um, und der Atem stockte ihm. Er begriff nicht, was er sah.

    Das Schlachtschiff steuerbords. Die Stimme aus dem Abgrund. Eine Besatzung, die aus zwanzig Gildenmarineinfanteristen bestand, zwölf Lotusmännern, vier Werkmeistern, sechs Offizieren und dreißig Mannschaftsmitgliedern.

    Sie stürzten ab.

    Der Ballon war nicht mehr da; stattdessen schwoll ein lang gezogener Feuerball in dem schwarz verkohlten Exoskelett an. Flammen fraßen sich an der Takelage hinab und steckten das Deck in Brand. Trossen rissen und die Maschinen wimmerten, als das Schiff sich unter ungebremstem Schub aufbäumte. Der Bug zeigte in den Himmel, doch die Stimme fiel weiter. Über Funk hörten sie entsetzliche Schreie: Winzige brennende Gestalten stürzten über die Reling und auf die Felsschlünde zu, die Hunderte Meter unter ihnen klafften. Ein paar Mannschaftsmitglieder kämpften tief geduckt mit dem Rettungsboot am Heck. Dann ein weiteres ohrenbetäubendes Krachen: Die Chi-Reserven der Stimme hatten sich entzündet. Das Heck explodierte, flammende Bruchstücke der Hülle schossen durch die Luft, und das Schiff überschlug sich – so wirbelte es seinem Untergang entgegen.

    »Im Namen der ersten Blüte!«, bellte die Geißel. »Was war das? Bericht!«

    An Bord der Hunger herrschte Chaos. Marineinfanteristen hasteten über das Deck, um die zusätzlichen Shuriken-Werfer zu bemannen. Befehle wurden gebrüllt. Alles rannte. Schützen schrien, dass sie die Zielkoordinaten bräuchten; die Männer in den Ausgucken versuchten, mit ihren Fernrohren durch den wabernden Qualm zu spähen; Asche fiel wie Regen vom Himmel. Jubei sah den blau-weißen Lichtschein von Raketendüsen: Brüder, die die Explosion überlebt hatten und denen es gelungen war, von der Stimme zu entkommen.

    »Da!«, schrie er. »Überlebende!«

    Zehn, vielleicht zwölf Meter war der vorderste Shatei noch von der Reling der Hunger entfernt, da schimmerte inmitten des Rauches etwas Weißes auf. Metall kreischte. Ein erstickter Aufschrei. Und dann sah Jubei, wie das blaue Feuer der Düsen flackerte und erstarb. Ein Nebel aus feinen, roten Tröpfchen, und der Bruder fiel vom Himmel – zuerst die Beine und dann, mit einiger Verspätung, der Oberkörper.

    »Erste Blüte, rette uns!«, flüsterte Jubei.

    Die Hunger erbebte. Ein tiefes Grollen hallte über den blutroten Himmel. Das Fleisch in seiner Haut schlotterte erbärmlich. Nieten ächzten und stöhnten, und das Deck zitterte wie ein ängstliches Kind in der Finsternis. Ein Donnerschlag, unverkennbar. Und doch war der Himmel, vom Qualm einmal abgesehen, so klar wie poliertes Glas …

    »Gefechtsstationen!«, brüllte die Geißel. »Alle Mann auf Gefechtsstation!«

    Erneut knatterten die Werfer, Shuriken-Salven pfiffen durch die Luft, Druckgas entwich zischend, Munitionsgurte klapperten dumpf. Überall glitzerte Stahl in der Luft, blind in den Rauch geschossen. Der Mech-Abakus auf Jubeis Brust surrte und klackte: Das Kapitelhaus in Kigen verlangte nach Informationen. Er konnte jedoch die Hände nicht ruhig genug halten, um zu antworten.

    Wieder Schreie. Dazwischen Rufe: »Sichtkontakt! Sichtkontakt!« Eine winzige Flamme hinter ihnen. Jubei schaute gerade rechtzeitig zurück, um eine weiße Gestalt zu erblicken, die um den Ballon der Lotuswind herumschoss. Eine geflügelte Bestie. Ihre Klauen zerfetzten das verstärkte Segeltuch des Schwesterschiffes wie feuchtes Reispapier.

    Kurz erstarrte die Welt – eine Reglosigkeit wie die Todesstille zwischen zwei Herzschlägen. Jubei schaute über den Abgrund hinweg, der sich zwischen ihm und der weißen Bestie auftat. Über den Himmel aus sirrendem Stahl und beißendem Rauch. Und in diesem flüchtigen Augenblick sah er sie: eine schwarze Silhouette auf dem Rücken der Bestie. Ihr langes Haar flatterte im Funkengestöber, sie duckte sich zwischen metallenen Schwingen. Die Bestie, ein Fabelwesen, das es unmöglich wirklich geben konnte, zerfetzte noch immer den Ballon. Die Reiterin hielt etwas in der Hand: eine Leuchtfackel, an deren Ende eine orangerote Flamme brannte. Ihre Finger öffneten sich. Sie ließ die Fackel fallen.

    Dann kam das Licht. Die furchtbare Explosion.

    Die Hunger krängte nach Steuerbord, die Druckwelle fegte übers Deck und schleuderte vier Marineinfanteristen über die Reling. Eine Feuerkugel – der Ballon der Lotuswind platzte wie eine übervolle Blase. Holz barst. Erstickender Qualm stieg auf. Die Geißel bellte Befehle. Die Shuriken-Werfer ratterten, die angeschlagenen Maschinen kreischten. Das gepanzerte Kriegsschiff drehte sich wie ein Kreisel. Der Shuriken-Hagelsturm schien die weiße Bestie nicht weiter zu beeindrucken: Sie ging im Sturzflug nieder, riss die Backbordmaschine ab und verschwand dann hinter der Lotuswind.

    So schnell. Wie kann sie so unglaublich schnell sein?

    »Bündelt das Feuer! Alle Werfer: Feuer! FEUER!«

    Die Bestie hielt sich hinter dem abstürzenden Schiff, bis sie außer Reichweite der Shuriken-Werfer war, dann tauchte sie hinter eine hoch aufragende Felsspitze aus schwarzem Stein. Im nächsten Augenblick schlug die Lotuswind im Tal auf. Mit einem donnernden Krachen explodierten die Chi-Tanks, und das Wrack des Schlachtschiffs glühte auf wie eine zweite Sonne. Es steckte alles um sich her in Brand. Der Steuermann der Hunger warf das Ruder herum, und die Nase des Schiffs schwang in die Richtung, in die das weiße Ungeheuer verschwunden war. Jubei sah im dichten Qualm Raketendüsen leuchten, hörte das Rauschen von Flügeln – und dann einsame, furchtbare Schreie. Dazu Shuriken-Salven. Metallstiefel auf Holzplanken. Die Geißel brüllte dem Funker Befehle zu: Er solle den Feindkontakt melden, Verstärkung anfordern. Über den offenen Kanal stürzte ein Tumult aus überschnappenden Stimmen auf Jubei ein.

    »Hast du es gesehen?«

    »Meldet eure Position!«

    »Was war das?«

    »Ich brauche Munition! Werfer vier, bin bei zwanzig Prozent.«

    »Werfer sieben, fünfzehn Prozent!«

    »Konzentriert euch auf den Himmel! Sie haben bisher von oben angegriffen!«

    »Siehst du irgendetwas?«

    »Arashitora!«

    »Hier spricht Kapitän Montarō!« Die Stimme der Geißel schnitt durch das Stimmengewirr wie ein Kettensägenkatana. »Ruhe, aber sofort! Der nächste Bruder, der dazwischenfunkt, landet vorzeitig in der Inochi-Grube!«

    Augenblicklich herrschte Stille. Das statische Rauschen klang beinahe furchtsam.

    »Die Werfer nachladen, auf der Stelle. Den Ballon im Auge behalten, Auftriebskompensatoren bemannen. Steuermann, bring uns aus diesem verfluchten Qualm raus. Hart nach Backbord. Maschinen volle Kraft. Dreißig Meter aufsteigen.«

    Der Kapitän marschierte zum Rand des Steuerstandes hinüber, sodass die Mannschaft ihn sehen konnte. Der Lärm der Maschinen schwoll an, ein tiefes, bebendes Heulen, unterlegt vom dumpfen Knattern der Propeller. Der Rauch wurde dünner. Asche häufte sich auf dem Deck, grauen Schneeverwehungen ähnlich.

    »Ich kenne euch, Brüder. Seit Jahren dienen wir zusammen auf diesem Schiff. Die Gaijin sprechen nicht umsonst voller Furcht von der Izanamis Hunger, Schrecken der Lüfte. Noch nie ist sie im Kampf besiegt worden! Ich sage euch: Nein, wir werden nicht verzagen, auch nicht angesichts dieses …«

    »Sichtkontakt! Backbord! Backbord! In der Höhe!«

    »Aus der Sonne! Sie kommen aus der Sonne …«

    »FEUER!«

    Wieder erklang jener furchtbare Donnerhall, bei dem sich Jubeis Magen verkrampfte. Die Hunger sackte ab, als hätten zornige Götter ihr einen Stoß gegeben. Jubeis Beine waren weich wie Pudding, sein Mund so trocken, als sei er mit Asche gefüllt. Er klammerte sich verzweifelt an der Reling fest, seine Panzerhandschuhe gruben Rillen in das Holz. Er wollte, er könne sich den Helm vom Kopf reißen und sich das Salz aus den Augen reiben. Dann ginge es ihm wenigstens einen Augenblick lang ein wenig besser …

    Die unklaren, verworrenen Visionen seines Erwachens fielen ihm ein, der Blick auf die Zukunft, die ihn erwartete – gesetzt den Fall, er besäße die innere Stärke, sie auch zu ergreifen. Von dem, was er in der Rauchkammer gesehen hatte, hatte er nur das Wenigste verstanden. Nichts hatte jedoch darauf hingedeutet, dass er über einhundert Kilometer von seiner Heimat entfernt auf diesem Schiff verbrennen oder in den schwarzen Schluchten des Gebirges zu Tode stürzen würde! Und als die Shuriken-Werfer wieder zu rattern begannen, die Späher in Panik gerieten und das weiße Ungeheuer aus der Sonne auf sie zugestürzt kam, spürte Jubei, wie etwas in ihm zerriss. Ein roter Nebel stieg vor seinen Augen auf, die Furcht erstickte jede Vernunft. Alle Mantras und Lehrsätze waren vergessen, nur eine einzige Wahrheit flammte hell in seinem Geist.

    Er war nicht dazu bestimmt, hier zu sterben.

    Also rannte er los. Den gebrüllten Befehl der Geißel hörte er gar nicht. Verängstigt fummelte er an seinem Handgelenk herum und suchte den Knopf, der die Raketendüsen zündete. Kaum hatte er ihn gefunden, sprang er auf die Reling. Seine Metallsohlen rutschten über das polierte Holz, die Schwerkraft griff nach ihm, zerrte an ihm, aber blau-weiße Flammen fingen ihn auf. Die Vibration des Raketenantriebs schüttelte ihn durch. Hinter ihm flackerte ein schreckliches grelles Licht auf. Ohrenbetäubender Donner verriet ihm, dass der Ballon der Hunger explodiert war. Über Funk hörte er das Brüllen der Feuersbrunst und die Todesschreie qualvoll verbrennender Männer. Er schaltete den Empfänger aus. Nun summte ihm nur noch der panische Hochfrequenz-Datenstrom seines Mech-Abakus in den Ohren, die drängende Forderung, jemand – irgendjemand! – möge Bericht erstatten.

    Er drehte die Düsen voll auf, schoss davon und ließ das dem Untergang geweihte Schlachtschiff hinter sich zurück. Sah es nicht am Berghang zerschellen, hörte nur die Explosion und ihren lang anhaltenden, donnernden Widerhall. Vor seinem geistigen Auge stand das Bild der Bestie, eine Lithografie, mit Tusche aus Angstschweiß und Adrenalin zu Papier gebracht. Schillernde Metallschwingen, die Flügelspannweite gewaltig. Gefiedert an Kopf und Hals, Augen in der Farbe geschmolzenen Bernsteins, die Vorderbeine eisengrau. Schneeweißes Fell an den Hinterläufen, pechschwarze Streifen, der lange Schwanz eine Peitsche. Der Schnabel, die Klauen. Ein Greif, den Legenden entsprungen und über und über mit dem Blut seiner Gildenbrüder bedeckt.

    Jubei betete. Zum ersten Mal in seinem Leben. Zu Göttern, die es nicht gab und die ihn deshalb wohl auch nicht erhören würden. Hirngespinste, Krücken für die Hautlosen. Die Unwissenden. Aberglauben, dem kein Gildenmann wirklich anhing. Und doch betete er mit einer Inbrunst, mit der es kein Priester hätte aufnehmen können. Lasst mich schneller fliegen, flehte er stumm, bringt mich fort! Oh, bitte, erlaubt nicht, dass sie mich kriegen … Sein Puls hämmerte so hart, dass er fürchtete, seine Adern könnten platzen. Und doch – wäre sein Herz ein Motor gewesen, hätte er ihn zur Höchstleistung angetrieben, auf die Gefahr hin, ihn zu überlasten. Wäre Chi in seinen Venen geflossen, hätte er sie geöffnet und noch den letzten Tropfen in seine Kraftstofftanks geleert, um nur einen halben Meter weiterzukommen.

    Trotzdem holten sie ihn ein.

    Ein Rauschen hinter ihm, der Donner schlagender Trommeln. Als er über die Schulter zurückblickte, waren sie schon da. Sie prallten gegen ihn, und Funken regneten auf ihn herab. Panisch bäumte er sich im Griff des monströsen Greifen auf, die Arme konnte er nicht bewegen. Seine Haut kreischte wie eine verwundete Aasratte, und er schrie sich die Kehle wund, bis ihm endlich aufging, dass er zwar in den Klauen der Bestie hing wie der Leichnam eines Gaijin über der Inochi-Grube, dem Tier und seiner Reiterin vollkommen ausgeliefert – aber er war noch am Leben.

    Sie hatten ihn nicht umgebracht.

    Eine Ewigkeit verstrich. Sie flogen nach Süden über Bergkämme, die den Himmel berührten. Unter ihnen erstreckte sich ein grüner Ozean, der sich flammend rot zu färben begann, ein endloser gewellter Teppich, gewebt aus flüsternden Bäumen und verschneiten Bergspitzen. Endlich sanken sie tiefer und kreisten um einen ebenen, schneebedeckten Felsvorsprung. Darunter die grauen Gebirgsausläufer. Hier waren die Iishis zu Ende.

    Fünf Meter über dem Felsvorsprung ließen sie ihn fallen. Sein Panzer dröhnte wie eine Glocke, als er aufschlug, Funken stoben und Metall knirschte. Sein Schädel prallte von innen gegen seinen Helm, und er biss sich auf die Zunge. Auf dem Rücken seiner Haut rutschte er über den rauen Felsen und blieb kaum einen halben Meter vor dem Abgrund liegen.

    Verängstigt, wie er war, wagte er es nicht gleich, sich zu rühren.

    Sie landeten hinter ihm. Die Klauen des Ungeheuers knirschten auf Raureif. Der Wind heulte. Schwerfällig rollte sich Jubei auf die Seite, und da war die Bestie: Massig ragte sie über ihm auf, das schneeweiße Fell von oben bis unten scharlachrot gesprenkelt. Sein Blick irrte zwischen dem Schnabel und den Klauen hin und her. Schließlich sah er, dass zusammengesunken auf dem Rücken des Greifen Kioshis Sohn saß – das Kaninchen, das sie mit drei Schlachtschiffen über die ganze Insel gejagt hatten. Er umklammerte seinen blutenden Arm. Zwar war er bleich und schweißgebadet, doch eindeutig am Leben. Schmutzige graue Kleider, kurze dunkle Stoppeln auf dem Kopf, intelligente graue Augen. Viel her machte er nicht. Ganz sicher kam er Jubei nicht wie ein Rebell vor, der seine Herkunft verraten und sich gegen seine Familie gestellt hatte. Seinetwegen sollte eine ganze Flotte vernichtet worden sein?

    Aber dann vergaß er Kioshis Sohn wieder, denn das Mädchen – nur ein Mädchen! – schwang sich vom Rücken der Bestie. Die Sturmtänzerin. Federleicht setzte sie auf dem Boden auf. Ihr Hakama und ihre Uwagi waren schwarz und weit geschnitten, langes dunkles Haar umfloss ihre Schultern. Ihre blasse Haut war mit Asche überstäubt und mit Blut befleckt. Sie hatte sich eine polarisierte Schutzbrille umgeschnallt und trug ein altmodisches Katana auf dem Rücken. In ihrem Obi steckten Leuchtfackeln. Sie war schlank, hübsch und unglaublich jung.

    »Nimm das ab«, sagte sie kalt und deutete auf seinen Helm. »Ich will dein Gesicht sehen.«

    Jubei fummelte gehorsam an den Verschlüssen an seinem Hals herum und zog sich den Helm vom Kopf. Eisiger Wind biss ihm ins Fleisch. Er spuckte Blut in den Schnee. Wie hell es war! Das grelle Sonnenlicht tat ihm in den Augen weh.

    Sie zog ihr Katana – die Klinge sang, als sie aus der Scheide glitt –, marschierte auf ihn zu und setzte sich rittlings auf seine Brust. Der Arashitora knurrte warnend, ein tiefer, grollender Ton, der die Platten seiner Haut zum Schwingen brachte. Das Mädchen streifte die Schutzbrille ab, sodass Jubei ihm in die Augen sehen konnte: Sie sahen aus wie schwarzes Glas und funkelten vor Zorn. Das Mädchen setzte ihm die Klinge an die Kehle.

    »Du weißt, wer ich bin.«

    Er schluckte schwer. »Hai.«

    »Du hast gesehen, wozu ich in der Lage bin.«

    »H-hai.«

    »Lauf rasch nach Hause zu deinen Herren. Erzähl ihnen, was du hier gesehen hast. Und sag ihnen auch: Wenn sie das nächste Mal ein Himmelsschiff auch nur in die Nähe des Iishi-Gebirges schicken, schneide ich dem Kapitän den Namen meines Vaters in die Brust, ehe ich den Himmel mit seinem Blut tünche. Verstehst du mich?«

    »Ja. Ja, ich verstehe …«

    Sie lehnte sich nach vorn, und die Schneide ihrer Klinge sank in sein Fleisch. Jubei erstarrte. Er wagte nicht zu atmen. Blutstropfen rannen ihm den Hals hinunter. Ihr Gesicht spiegelte ein wildes Gefühl, das ihn zutiefst erschreckte: Sie wollte ihm die Kehle aufschlitzen. Wollte in dem Blut baden, das aus seiner Halsschlagader sprudeln würde, sich die Hände mit dem blutigen Schaum aus seiner Luftröhre einseifen. Sie bleckte die Zähne, und er spürte, wie die Klinge sich bewegte; sie beugte sich über ihn wie eine Schreckensgestalt aus einem Kinderbuch, ein Albtraum, der zum Leben erwacht war.

    Das Mädchen, das alle Gildenmänner fürchten.

    »Bitte«, flüsterte er. »Bitte …«

    Einsam und klagend heulte der Wind zwischen den Felsspitzen, ein dünnes Wehgeschrei, das vom Tod zu künden schien. Von hungrigen Wölfen. Er hörte darin die Schreie seiner sterbenden Brüder. In ihren Augen sah er das Ende. Das Ende aller Dinge. Und er fürchtete sich.

    Da meldete sich der Junge auf dem Rücken des Donnertigers zu Wort.

    »Yukiko?«, fragte er. Er klang besorgt.

    Sie verengte die Augen, ohne den Blick von Jubei zu wenden.

    »Er hieß Masaru«, zischte sie durch zusammengebissene Zähne. Mit dem Handrücken schmierte sie sich Blut über die Wange. »Mein Vater hieß Masaru.«

    Und dann stand sie auf. Sie keuchte, als sei sie gerannt. Den Griff ihres Katanas umklammerte sie so fest, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. Dann wirbelte sie das Schwert herum und rammte die Spitze neben seinem Kopf in den Boden. Zitternd blieb die Waffe im Schnee stecken. Ohne ein weiteres Wort wandte sie sich ab, ging zu der Bestie zurück und kletterte auf ihren Rücken. Ihr Haar flatterte wie ein langes schwarzes Seidenband hinter ihr her. Das Kaninchen legte seine Arme um ihre Taille und lehnte sich gegen sie. Und mit einem Rauschen und jenem furchtbaren Donnerknall sprang der Greif in den Abgrund und schraubte sich auf thermischen Luftströmungen in die Höhe. Eine wirbelnde Aschespur folgte ihnen.

    Jubei beobachtete, wie sie am rauchverhangenen Horizont immer kleiner wurden. Erst als er sie nicht mehr sehen konnte und da nur noch der rote Himmel, die grauen Wolken und der ferne schwarze Qualm waren, schaute er das Schwert an. Eine blasse Spur seines eigenen Blutes zog sich über den Stahl.

    Er schloss die Augen.

    Vergrub das Gesicht in den Händen.

    Und dann weinte er.

    2

    ERTRINKEN

    Die Flammen tanzten im schwindenden Licht des Tages.

    Die Klinge ihres Tantō steckte zwischen glühenden Kohlen. Der gefaltete Stahl mit dem dunklen Wellenmuster – es erinnerte an die Maserung von Holz oder die Wirbel auf einer Fingerspitze – war weder geschwärzt noch rauchte er oder glühte gar wie im Schmiedefeuer. Einem besonnenen Mann wäre jedoch sicher aufgefallen, wie die Luft darüber waberte, und er hätte sich wohlweislich ferngehalten.

    Yukiko starrte das Tantō mit glanzlosen Augen an. Die Zedernscheite knisterten und seufzten. Die Schwüle lastete beinahe so schwer auf ihr wie das Gewicht, das ihre Schultern niederdrückte. Sie sah das Hitzeflimmern über der Klinge, spürte aber nicht den Impuls, zurückzuweichen. Es kam ihr beinahe erstrebenswert vor, wieder etwas zu fühlen.

    Ganz egal, was.

    »Wir könnten hiermit noch warten.« Daichi betrachtete sie über die Feuerstelle hinweg. Im flackernden Schein der Flammen wirkten seine Augenhöhlen tief und dunkel.

    »Wenn nicht hier, wo dann?«, fragte sie. »Wenn nicht jetzt, wann dann?«

    Die Haut des alten Mannes glich Leder, das zu lange in der sengenden Sonne gelegen hatte, seine Oberarme waren kreuz und quer mit Verbrennungen überzogen. Er hatte einen langen Schnurrbart, die Haare jedoch so kurz geschoren, dass sie kaum mehr waren als ein blaugrauer Schatten auf seiner vernarbten Kopfhaut.

    »Du solltest lieber ein wenig schlafen. Morgen ist ein schwerer Tag für dich.« Daichi suchte nach Worten. »Die Feuerbestattung deines Vaters …«

    »Was bringt dich auf den Gedanken, dass ich hingehe?«

    Der alte Mann runzelte die Stirn. »Es wäre besser, Yukiko. Du solltest dich verabschieden.«

    »Von Kigen hierher sind es fünf Tage Flug. Weißt du, was in dieser Zeit mit einer Leiche passiert, Daichi-sama, wenn es so heiß ist?«

    »Ich kann es mir vorstellen.«

    »Dann musst du auch wissen: Was du da morgen verbrennen willst, ist schon lange nicht mehr mein Vater.«

    Daichi seufzte. »Yukiko, geh und leg dich schlafen. Ich bitte dich.«

    »Ich bin nicht müde.«

    Der alte Mann verschränkte die Arme vor der Brust. Seine Stimme war so unbeugsam wie der Stahl, der zwischen den Kohlen glitzerte. »Ich weigere mich.«

    »Nach allem, was ich für dich getan habe. Nach allem, was du mir genommen hast.«

    Endlich hob sie den Blick. Der alte Mann zuckte zusammen, als er ihren Gesichtsausdruck sah.

    »Du bist mir etwas schuldig, Daichi.«

    Der Anführer der Kage ließ den Kopf hängen. Er atmete tief durch und hustete, einmal, zweimal. Es schien ihn zu schmerzen. Als er auf seine Hände hinabblickte, sah sie, was er sah: das Blut, das er nie würde fortwaschen können. Ein ungeborenes Kind. Eine Mutter, die nie wieder ihre Tochter im Arm halten würde. Ihre Mutter.

    Er sprach, als sei das Wort Galle in seinem Mund. »Hai.«

    Dann griff er nach dem Krug Sake, der neben ihm stand, und erhob sich wie ein Mann auf dem Weg zum Richtblock. Er kniete neben ihr nieder und nahm das Tantō aus der Glut.

    Yukiko schaute wieder ins Feuer. Ohne den Blick von den Flammen zu wenden, lockerte sie ihren Obi, streifte sich die Uwagi von den Schultern und bedeckte ihre Brüste mit den Händen. Ihre Irezumi schimmerten im Feuerschein: rechts der kunstvolle neunschwänzige Fuchs auf Schulter und Arm, der Kami ihres Clans, links die Reichssonne, die sie als Dienerin des Shōgun zu erkennen gab. Yukiko warf sich das lange Haar mit einer Kopfbewegung über die rechte Schulter, sodass Yoritomos Symbol bloß lag. Ein paar vereinzelte Strähnen klebten noch an ihrer feuchten Haut.

    Daichi hob das Messer. Jetzt flirrte die Luft zwischen ihnen. »Bist du dir sicher?«

    »Kein Herr.« Sie schluckte. »Kein Meister.«

    Er stellte den Krug zwischen ihnen auf den Boden. »Möchtest du vorher einen Schluck …«

    »Daichi. Mach schon.«

    Wieder atmete der alte Mann tief durch. Dann drückte er die flache Seite der Klinge gegen die Sonnentätowierung.

    Jäh verkrampfte sich jeder einzelne Muskel in ihrem Körper. Es zischte fürchterlich, als würde frischer Fisch in eine heiße Pfanne gegeben, und der Gestank verbrennenden Fleisches verdrängte den Zedernholzgeruch. Ein zitterndes Stöhnen brach aus ihr hervor. Sie kniff die Augen zu und kämpfte gegen den Schrei an, der ihr in der Kehle steckte. Roch, wie ihre eigene Haut briet.

    Verschmorte.

    Verkohlte.

    Verzweifelt streckte sie ihre Sinne aus und tastete nach dem warmen Tier, das vor der Tür auf sie wartete. Federn, Fell und Klauen. Bernsteinfarbene Augen. Sein Knurren ließ die Dielen erzittern. Ihr bester Freund – der Donnertiger, den sie inmitten eines Monsuns gefunden hatte, und den sie nun inniger liebte als jeden anderen unter der Sonne.

    Buruu …

    YUKIKO.

    Ihr Götter … Es tut so weh, Bruder …

    HALT DICH AN MIR FEST.

    Sie klammerte sich an seine Gedanken; er war wie ein Berg aus kühlem Stein in einem Flammenmeer. Daichi löste die Klinge von ihrer Haut, und Ascheflocken schälten sich mit ab. Jene Klinge, mit der sie ihren Liebhaber Hiro erstochen hatte. Die sie in Händen gehalten hatte, als sie Shōgun Yoritomo ums Leben gebracht hatte. Als der Schuss gefallen war, der ihr den Vater genommen hatte. Fünf Tage und eintausend Jahre war das her. Der grausame Schmerz klang ein wenig ab, und sie schnappte nach Luft. Kurz war sie nahe daran, Daichi anzuflehen, das Messer wegzulegen. Aufzuhören. Aber sie schöpfte Kraft aus der Stärke des Donnertigers und rang das Bedürfnis nieder. Die Qual war leichter zu ertragen als der Gedanke, weiterhin das Wappen eines Hundesohns auf der Haut tragen zu müssen.

    Alles war besser als das.

    Sie schaute auf den Krug hinab, der neben ihr stand. Buruus Gedanken streichelten sie wie eine Sommerbrise.

    DAS REICHT FÜR HEUTE, SCHWESTER. DU WARST STARK GENUG.

    Mit zitternder Hand griff sie nach dem Krug und trank ein paar Schlucke flüssigen Feuers, kühler als der Stahl in Daichis Hand. Der Alkohol rann ihre Kehle hinab und verbrannte ihr die Zunge. Versprach jene Gefühllosigkeit, der sie hatte entkommen wollen. Sie hatte die Wahl zwischen Schmerz und Leere. Zwischen dem Leben und der bloßen Existenz.

    In einer Nacht, die so finster war wie diese, stand die Entscheidung fest.

    »Soll ich aufhören?«, fragte Daichi.

    Sie nahm noch einen Schluck und blinzelte die Tränen fort. »Mach es weg«, flüsterte sie. »Mach es ganz weg.«

    Yukiko schloss die geröteten Augen, die in ihren Höhlen zu pulsieren schienen. Unter ihnen raste verschwommen der felsige Waldboden dahin; mit jedem Flügelschlag, den Buruu tat, stoben Herbstblätter auf. In der Luft hing ein Hauch von Frost, der Herbst streckte gierig die Hand nach den Iishis aus. Das Laub der gewaltigen Bäume verblasste; unauffällig verblich geschmeidiges Smaragdgrün zu porösem Gelb. Die Ränder der Blätter röteten und wellten sich bereits.

    Über all das flogen sie dahin: das blasse Mädchen in Trauerschwarz, dessen Haare im schneidenden Wind flatterten, der in schmutzige Lumpen gekleidete Junge mit den dunklen, wissenden Augen und die majestätische Bestie mit den Räderwerkschwingen, die die beiden mühelos auf ihrem Rücken trug.

    Kin kauerte hinter Yukiko. Einen Arm hatte er um ihre Taille geschlungen, den anderen ließ er hängen. Der Ärmel war blutdurchtränkt. Die Erschöpfung war ihm deutlich anzumerken: Seine Schultern waren nach vorn gesunken, der Kopf hing herab. Yukiko spürte seine Körperwärme durch die Kleidungsschichten zwischen ihnen hindurch. Sein Atem ging ein wenig unregelmäßig. Ihr Mund war trocken, und jetzt, da sich das Adrenalin aus ihrer Blutbahn verflüchtigte, hatte sie ein flaues Gefühl im Magen.

    Beinahe zwei Monate war es her, dass sie ihn das letzte Mal gesehen hatte – diesen Jungen, der ihr Leben gerettet und alles aufgegeben hatte, um Buruu zu befreien. Yoritomos Tod, die Aufstände, die Reden, die sie gehalten hatte, der drohende Bürgerkrieg – in all dem Chaos hatte sie jede freie Minute damit verbracht, nach ihm zu suchen. Sie hatte die Kage-Zellen in den Städten gedrängt, nach ihm Ausschau zu halten, und in der Hoffnung, ihn zu erspähen, stundenlang mit Buruu die Ausläufer der Iishis patrouilliert. Das waren sie ihm schuldig gewesen. Das und mehr. Ihn jetzt endlich zu finden …

    »Geht es dir wirklich gut, Kin-san?«, fragte sie und schaute ihn über die Schulter hinweg an. Ihr besorgter Blick war hinter ihrer polarisierten Schutzbrille verborgen.

    »Geht schon«, murmelte er. »Mein Arm blutet …«

    »Eine Stunde ist es wohl noch bis ins Dorf. Hältst du so lange durch?«

    Langsam nickte er. »Ich hab über einen Monat gebraucht, um so weit zu kommen. Ein paar Minuten mehr werden mich nicht umbringen.«

    »Es hätte dich aber umbringen können, ganz allein durch die Iishis zu wandern! Du warst in die falsche Richtung unterwegs und wärst beim schwarzen Tempel rausgekommen. Du hättest einem Oni in die Arme laufen können … Die Götter wissen, was sich dort noch alles herumtreibt! Das Kage-Dorf liegt nordöstlich von hier.«

    »Ich weiß schon«, sagte er. »Als ich gemerkt habe, wie dicht die Kriegsschiffe hinter mir waren, hab ich versucht, sie wegzulocken. Ich wollte niemanden sonst in Gefahr bringen.«

    Yukiko lächelte, ergriff Kins Hand und drückte sie. Sie hätte es wissen müssen: Er war so selbstlos wie eh und je. Seine eigene Sicherheit stand immer an zweiter Stelle.

    Wäre sie nur nicht so verwirrt gewesen! Ihre Gedanken überschlugen sich, ihre Gefühle purzelten in ihrer Brust durcheinander: Freude, dass sie ihn gefunden hatten; Schuld, weil sie so lange gebraucht hatten; ein tief sitzender Schrecken: Um ein Haar wäre er gestorben. Dazu kamen die körperliche Nähe – ihr Rücken lehnte an seiner Brust, seine Hand lag auf ihrer Hüfte – und Buruus nachlassender Blutdurst. Ihr Puls hämmerte.

    Sie holte bebend Atem und stieß ihn langsam wieder aus. »Ruh dich aus, Kin-san. Jetzt bist du in Sicherheit.«

    Weiter und weiter flogen sie. Hinter ihnen am Himmel hing der schwarze Qualm, der von den zerstörten Kriegsschiffen aufstieg. Kin lehnte den Kopf an Yukikos Schulter. Bald schlief er ein: Seine Erschöpfung hatte die Oberhand gewonnen.

    Buruus Muskeln arbeiteten kräftig. Die goldenen Augen hatte er zu Schlitzen verengt, sie glommen wie Kohlen in einem Schmiedeofen. Seine schimmernden Federn und sein dichtes Fell hatten die Farbe jenes reinweißen Schnees, der nur auf den höchsten Spitzen der Iishis zu finden war. Seine Hinterhand war mit langen Streifen tiefsten Schwarzes gezeichnet. Donnertiger. Arashitora. Der letzte seiner Art in ganz Shima.

    Seine Gedanken verschmolzen mit ihren, ihre Erinnerungsbilder hallten in seinem Kopf nach und umgekehrt – was sie miteinander teilten, ging über Blutsbande hinaus. Yukiko und Buruu. Buruu und Yukiko. Es wurde immer schwerer zu bestimmen, wo die Grenze zwischen ihnen verlief. In alten Sagen hieß es, Menschen, die mit Tieren sprechen könnten, besäßen die Gabe des Gespürs. Doch inzwischen scheute Yukiko beinahe davor zurück, diesem Wunder einen Namen zu geben oder es beschreiben zu wollen. Buruu und sie tauschten nicht nur ein paar unzulängliche, ungeschickte Worte miteinander. Das Gespür war mehr als das. Es war das Erbe ihres Vaters, sein Geschenk an sie: ihre Gabe, durch die sie ihren teuersten Freund gefunden, einen Shōgun gestürzt und ein Reich zerschlagen hatte.

    Sie war ein Andenken. Ein Geburtsrecht. Ein Segen.

    Ein Fluch?

    DER JUNGE KANN VON GLÜCK REDEN, DASS WIR IHN GEFUNDEN HABEN UND NICHT DIE DÄMONEN.

    Unwillkürlich zuckte sie zusammen, als Buruus Gedanken ihre eigenen unterbrachen. Sie waren ein klein wenig lauter als sonst. Der Himmel kam ihr zu hell, ihr Schädel zu klein vor.

    Allerdings. In letzter Zeit wimmelt es auf den westlichen Hängen nur so von ihnen.

    ER IST EIN DUMMKOPF. ABER ICH BIN FROH, DASS ER IN SICHERHEIT IST.

    Davon gehe ich aus … Sonst hättest du ihn längst verächtlich »Affenkind« genannt.

    SEI SO GUT UND BEHALTE DAS FÜR DICH. MAN KENNT MICH ALS DIE BÄRBEIẞIGKEIT IN PERSON! ICH HABE EINEN RUF ZU VERLIEREN.

    Das Lachen erstarb ihr auf den Lippen. Yukiko schob sich die Schutzbrille auf die Stirn hoch und drückte sich die Handballen gegen die geschlossenen Lider. Schmerz pulsierte in ihrem Hinterkopf. Buruus Gedanken schienen neuerdings ein Echo zu erzeugen, das zwischen ihren Schläfen hin- und hergeworfen wurde wie ein Ball aus Dornenranken. Eiskalt und brennend.

    TUT DEIN KOPF IMMER NOCH WEH?

    Bloß ein bisschen.

    DU BIST EINE GANZ MIESE LÜGNERIN, MÄDCHEN.

    Es gibt schlimmere Charakterfehler, wenn man so darüber nachdenkt.

    DAS GEHT JETZT SCHON SEIT WOCHEN SO. NORMAL IST DAS NICHT.

    Ich hab wirklich Wichtigeres zu tun, als ein großes Aufhebens von ein bisschen Kopfweh zu machen, Buruu.

    DANN IST ES JA GUT, DASS ICH DAS ÜBERNEHMEN KANN.

    Du machst dir immer viel zu viele Sorgen.

    UND DU DIR NIE GENUG.

    Du weißt ja, wie man sagt: Kitsune sorgt für die Seinen.

    Yukiko schmiegte sich mit ihrem ganzen Sein an den mächtigen Donnertiger und spürte dem blutroten Trommelrhythmus seines Herzens und seinen fließenden Bewegungen nach. Sie streichelte sein glasglattes Gefieder, bis ihre Fingerspitzen den Metallrahmen streiften, der über seinen gestutzten Flügeln angebracht war. Der Irrsinnige, der seine Schwungfedern beschnitten hatte, lag kaum einen Monat im Grab.

    Immerhin ist Kin jetzt zurück und kann deine Flügel warten. Sieht aus, als könnte das Gestell jeden Moment auseinanderfallen. Wie lange noch, bis du dich mauserst?

    DEINE THEMENWECHSEL SIND SO ELEGANT WIE DEINE LÜGEN.

    Und du wirst immer besser darin, meinen Fragen auszuweichen.

    Der Donnertiger knurrte tief in der Kehle. ES WIRD NOCH MONATE DAUERN, BIS MIR MEIN WINTERGEFIEDER WÄCHST.

    Yukiko kraulte ihm den Nacken am Schulteransatz – da hatte er es am liebsten. Und was dann?

    WAS MEINST DU?

    Ich meine: Was wirst du tun, wenn du wieder aus eigener Kraft fliegen kannst?

    WAS GLAUBST DU DENN?

    Ich weiß nicht. Vielleicht nach Hause fliegen? Du könntest Shima verlassen.

    DICH VERLASSEN, MEINST DU.

    Sie schwieg einen Augenblick lang. Ja.

    NACH ALLEM, WAS WIR ZUSAMMEN DURCHGEMACHT HABEN?

    Unser Kampf ist nicht dein Kampf. Shima ist nicht deine Heimat. Warum solltest du all dem hier nicht den Rücken kehren? Du könntest einfach fortfliegen und vergessen, dass du je hier gewesen bist.

    DU WEIẞT, DASS DAS UNSINN IST.

    Weiß ich das?

    DU KENNST MICH. SO GUT, WIE DU DICH SELBST KENNST.

    Ich bin nicht sicher, wie gut ich mich selbst kenne, Buruu.

    DANN HÖR MIR ZU. VOR ALLEM ANDEREN BIN ICH DEIN. NIE WERDE ICH DICH VERLASSEN. NIE DICH AUFGEBEN. SO WIE DU AUF SONNE UND MOND VERTRAUST, KANNST DU AUF MICH VERTRAUEN – DENN DU BIST MEIN HERZ.

    Sie schlang die Arme um seinen Hals und atmete tief seinen Geruch ein. Die Brandnarben auf ihrer Schulter und ihrem Oberarm schmerzten dumpf. Die letzten Wochen waren ihr beinahe wie ein Traum vorgekommen: Buruu und sie hatten der Reihe nach die Hauptstädte der Clans besucht, und sie hatte zu den Menschen gesprochen. Hatte beobachtet, wie die Worte ein Feuer in ihren Augen entzündeten. In Kigen hatten die Leute Hunderte Ahnentäfelchen dort aufgestellt, wo ihr Vater gestorben war. In der Drachenhauptstadt Kawa waren ihrer Rede Unruhen gefolgt: Fünf Tage lang hatten sie angehalten. In Yama, der Metropole ihres eigenen Clans, hatte man sie wie Helden behandelt. Im ganzen Inselreich schienen die Menschen bereit zu sein, sich aufzulehnen. Die Fesseln des alten Regimes abzuwerfen und etwas Neues zu erschaffen.

    Und doch kam sie nicht zur Ruhe. Langsam verwandelte sich ihre Trauer in schwelende Wut. Die Erinnerungen waren überwältigend: Das Blut ihres Vaters, das ihr über die Hände lief; wie er in ihren Armen gestorben war. Zu seiner Feuerbestattung war sie nicht gegangen. Hatte nicht zugesehen, wie die Flammen seinen aufgedunsenen Leichnam verschlungen hatten. Auch sein Grab hatte sie noch nicht besucht, um Weihrauch zu verbrennen, zu beten oder auf die Knie zu fallen und zu weinen.

    Seit seinem Tod hatte sie keine einzige Träne mehr vergossen.

    Sie warf einen Blick über die Schulter auf den Jungen, der an ihr lehnte und ruhig atmete. Seine Wimpern flatterten über seinen glatten Wangen. Sie nahm seine Hand in ihre und schob die andere in Buruus Gefieder. Sie war umgeben von Freunden. Und doch …

    Und doch …

    Manchmal fühle ich mich, als sei ich immer noch in Kigen. Als stünde ich immer noch Yoritomo gegenüber und er sähe mich über den Lauf seines Eisenwerfers hinweg an, das Blut seiner eigenen Schwester an den Händen. Und dann möchte ich schreien. In seinen Kopf greifen und ihn noch einmal umbringen.

    YORITOMO KANN NIEMANDEM MEHR WEHTUN. ER IST TOT. FORT.

    Das stimmt nicht … Er ist immer noch überall. Ich sehe ihn im roten Himmel, in den schwarzen Flüssen. In den Soldatengräbern, Blutlotusfeldern und der unfruchtbaren Erde. Die Kazumitsu-Dynastie ist vielleicht zerschlagen, aber selbst wenn es keinen Shōgun mehr gibt – die Lotusgilde ist noch da. Sie ist das Krebsgeschwür am Herzen des Reiches.

    Heiß flammte der Zorn in ihrer Brust auf, so plötzlich und heftig, dass sich ihre Hände zu Fäusten ballten. Unwillkürlich erinnerte sie sich an die Feuersbrunst, die Schreie der sterbenden Gildenmänner, als die gepanzerten Kriegsschiffe vom Himmel gefallen waren. Das hatten sie getan. Sie hatte es getan.

    Und es fühlte sich richtig an.

    Daichi und die Kage haben recht. Die Gilde muss fortgebrannt werden.

    UND DU WILLST DER FUNKE SEIN? VOR EIN PAAR WOCHEN NOCH KONNTEST DU DIR NICHT VORSTELLEN, EIN EINZIGES LEBEN ZU NEHMEN. UND JETZT …

    Vor ein paar Wochen war mein Vater noch am Leben.

    AM ENDE DIESES WEGES WARTET BLUT, SCHWESTER. EIN GANZER FLUSS AUS BLUT. ICH SCHWIMME GERN DARIN, ABER ICH MÖCHTE NICHT DABEI ZUSEHEN MÜSSEN, WIE DU ERTRINKST.

    Er ist in meinen Armen verblutet, Buruu. Du weißt nicht, wie das ist.

    ICH WEIẞ, WIE SICH VERLUST ANFÜHLT, YUKIKO. NUR ZU GUT.

    Dann weißt du, dass ich keine Wahl habe.

    Der Donnertiger seufzte. Sein Blick war auf die uralten Bäume unter ihnen gerichtet, aber er sah sie nicht – er blickte in eine Zukunft, so tiefrot wie der vergiftete Himmel über ihnen.

    DASS WIR KEINE WAHL HABEN.

    Wir?

    AUF EWIG. Buruu sank in die flüsternde Dunkelheit hinab. AUF EWIG.

    Ihr winziges Haus in der Krone eines Baums, nicht mehr als ein Schlafzimmer, wiegte sich kaum merklich in der mitternächtlichen Stille. Die Kerzen an den Wänden flackerten wie die ersten Lichtstrahlen der Morgendämmerung durch wogendes Herbstlaub. Yukiko betrachtete die Schattenspiele durch halb geschlossene, bleischwere Lider. Derselbe erbarmungslose Schmerz, der sie schon seit Wochen quälte, hämmerte in ihrem Schädel. Sie drückte die Fäuste gegen die Schläfen und atmete tief. Biss die Zähne zusammen und konzentrierte sich auf die Brandnarben, um ihren Geist daran zu hindern, zurück in die Dunkelheit zu gleiten. An jenen Ort, an dem ihr Vater lag, kalt und still, wo die Asche seiner Opfergaben sein Gesicht verkrustete. Der Ort, an dem sie hilflos war. Das kleine Mädchen. Das verängstigte Kind.

    Sie fuhr sich mit den Knöcheln ihrer Faust über den Mund.

    Nie wieder!

    Buruus leises Knurren lenkte Yukiko von ihren Leiden ab. Sie schloss die Augen und spürte in ihn hinein: Worüber ärgerte er sich? Aber als sie in seinen Geist glitt, flammte die Welt hell und unsagbar laut auf. Es war, als kreische sie und risse mit ihren Krallen an Yukiko; die Gedanken Hunderter winziger Lebewesen in der Finsternis überfluteten sie. Eine Eule glitt durch die samtschwarze Dunkelheit (suchenschlagenfressensuchenschlagenfressen), ein winziges pelziges Geschöpf mit heftig schlagendem Herzen verbarg sich in einem tiefen Schatten (leiseleisebloßleise), Spottdrosseln kuschelten sich in ihre Nester (warmundgeborgengeborgenundwarm), ein einsamer Affe heulte (huuuuungrig). So viele. Zu viele. Nie waren sie so furchtbar laut gewesen. Sie keuchte und verschloss sich vor dem Gespür, indem sie es wie ein ungehorsames Kind in ein leeres Zimmer in ihrem Kopf verbannte. Mühsam öffnete sie die Augen und blinzelte zum Treppenabsatz hinüber.

    Eine Frau stand dort im Halbdunkel.

    Hohe Wangenknochen und stahlblaue Augen. In gesprenkeltes Waldgrün gekleidet. An der Hüfte trug sie ein elegantes, altmodisches Wakizashi, dessen schwarz lackierte Scheide mit auffliegenden goldenen Kranichen bemalt war. Ihr Pony war lang, schräg geschnitten und fiel über eine Seite ihres Gesichts. Er verbarg beinahe vollständig die gezackte Narbe, die diagonal darüber lief.

    Auch das eine Hinterlassenschaft Yoritomos.

    »Kaori.«

    Daichis Tochter hatte den Blick wachsam auf den Donnertiger gerichtet.

    »Er tut dir nichts«, sagte Yukiko. »Komm rein!«

    Kaori zögerte noch einen Augenblick, dann schlüpfte sie so rasch sie konnte an Buruu vorbei. Der Arashitora beobachtete sie aus glitzernden Bernsteinaugen. Seine mit Metall eingefassten Flügel zuckten. Dann legte er den Kopf wieder hin. Die Kolben seiner Räderwerkschwingen ächzten und zischten leise. Sein Schwanz beschrieb weite, langsame Bögen in der Luft.

    Das Schlafzimmer war drei Quadratmeter groß, aus rohem Holz gezimmert und hatte große Fenster, durch die man über das Meer der schwarzen Baumwipfel hinwegblicken konnte. Der Duft getrockneter Wisteriablüten mischte sich mit dem würzigen Kerzenrauch – eine Komposition, die beinahe den pulsierenden Schmerz in Yukikos Schläfen beruhigte. Sie seufzte und streckte sich wieder auf dem ungemachten Bett aus.

    »Die Späher haben mir erzählt, dass du zurück bist«, sagte Kaori.

    »Es tut mir leid, dass ich nicht gleich bei Daichi-sama und dir vorbeigeschaut habe. Ich war müde.«

    Die Frau musterte sie kritisch, die Lippen fest zusammengepresst. Ihr Blick blieb einen Moment lang an der leeren Sake-Flasche am Fußende des Bettes hängen. »Du siehst furchtbar aus. Bist du krank?«

    Yukiko legte einen Unterarm über ihr Gesicht und sprach gedämpft durch ihren Ärmel. »Wir haben uns um die Gildenschiffe gekümmert. Die werden uns nicht mehr gefährlich.«

    »Dein Gildenmann ruht sich aus. Er hat eine Menge kleinerer Verletzungen. Blutergüsse. Aber die alte Mari sagt, dass er sich erholen wird.«

    »Er ist nicht mein Gildenmann. Er ist überhaupt kein Gildenmann mehr.«

    »Wohl wahr.«

    »Aber ich bin euch dankbar.« Ihre Stimme wurde sanfter. »Dein Vater ehrt mich mit seinem Vertrauen. Ich weiß, was es für euch bedeutet, Kin hier aufzunehmen.«

    »Das wage ich ehrlich zu bezweifeln, Sturmtänzerin.«

    »Nenn mich nicht so.«

    Ein unangenehmes Schweigen, das nur vom Flüstern trockener Blätter und dem Atem des Arashitora unterbrochen wurde, der wie fernes Donnergrollen klang. Yukiko ließ den Unterarm über ihren Augen liegen und hoffte, dass Kaoris Schritte sich bald entfernen würden. Aber die Frau wich nicht von der Stelle – wie die Libellen in jenem Bambustal, in dem Yukiko aufgewachsen war. Vollkommen beherrscht. Reglos.

    Schließlich seufzte Yukiko entnervt und setzte sich auf. Schmerz flammte in ihrem Schädel auf und schlug seine Klauen in ihr Rückenmark. »Ich bin müde, Kaori-san.«

    »Und bestimmt auch durstig.« Wieder sah Kaori zu der leeren Sake-Flasche hin. »Aber wir haben Neuigkeiten von unseren Leuten aus Kigen.«

    Yukiko merkte ihr eine ungewöhnliche Zögerlichkeit an. »Geht es Akihito gut?«

    »Den Umständen entsprechend ja. Er kommt nicht aus der Stadt, solange Zug- und Himmelsschiffverkehr lahmgelegt sind. Aber die örtliche Zelle kümmert sich um ihn.« Kaori ging zum Fenster hinüber und positionierte sich so, dass sie ihr eigenes Spiegelbild im dunklen Glas nicht sah. »Die Stadt versinkt im Chaos. Die Tiger-Bushimänner können kaum den Frieden aufrechterhalten. Jeden Tag bekommen wir neue Rekruten. Überall wird vom Krieg gesprochen.«

    »Das wolltet ihr doch so, oder etwa nicht? Einen kopflosen Leichnam, der bloß noch zappelt.«

    »Die Gilde möchte ihm einen neuen Kopf wachsen lassen.«

    Yukiko sah ein bisschen verschwommen. Die Kopfschmerzen. Sie blinzelte dagegen an. »Was soll das heißen?«

    Die Frau seufzte und wischte sich den Pony tiefer ins Gesicht. Ihre mit Kajal umrandeten Augen blickten zu Boden. »Es macht mir wirklich keine Freude, dir das zu erzählen …«

    »Mir was zu erzählen, Kaori?«

    Kaori blickte auf ihre Hände hinunter und leckte sich die Lippen. »Herr Hiro ist noch am Leben.«

    Die Worte waren ein Schlag in den Magen, sie raubten ihr den Atem. Das Zimmer schien sich um sie herum zu drehen, der Boden einzubrechen. Ein gähnender Abgrund tat sich auf und drohte, sie zu verschlingen. Irgendwie gelang es ihr, auf

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