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Shinobi - Dem Untergang geweiht
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eBook480 Seiten6 Stunden

Shinobi - Dem Untergang geweiht

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Über dieses E-Book

Japan, April 1581 Von einem Kampfgefährten verraten, wird Yujiro, ein angesehener Shinobi aus der Provinz von Iga, unmittelbar in die Klauen seines Erzfeindes ausgeliefert. Als dazu noch sein Neffe entführt wird, weiß er, dass er keine Wahl hat und ihn zurückholen muss. Zu allem Übel erhebt sich ein machtvoller Clan gegen die Iga. Ein Feind, den sie einst besiegt hatten, kehrt zurück, dieses Mal jedoch angeführt von Oda Nobunaga selbst, dem gefürchtetsten Kriegsherrn Japans, der eine der größten Armeen, die das Land je gesehen hat, aufstellt, um Iga zu erobern und sich an ihnen zu rächen. Ein blutiger Krieg beginnt, der zum Tode von Tausenden Menschen führen kann. Im Angesicht dieser riesigen Armee, die immer weiter vorrückt und die - entgegen aller Hoffnung - nichts und niemand in die Knie zu zwingen vermag, scheint jedoch jeglicher Widerstand aussichtslos. Seinen Befehlen zum Trotz, schreckt Yujiro nicht einmal vor dem Tod zurück, als er sein eigenes Leben aufs Spiel setzt, um seine Heimatprovinz vor dem scheinbar Unausweichlichen zu bewahren: ihrem Untergang.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum15. Juli 2020
ISBN9783749736225
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    Buchvorschau

    Shinobi - Dem Untergang geweiht - Danny Seel

    1. Der Schicksalstag

    Japan, irgendwo in Izumi, April 1581

    Stolz auf seinem Schlachtross sitzend, stieß Ashida Iemitsu einen langen Seufzer aus, als er seinen Landbesitz musterte. Die letzten, goldenen Sonnenstrahlen der untergehenden Abendsonne schienen auf die Landschaft vor ihm sowie auf einen kleinen Fluss herab, der sich durch die vielen Reisfelder schlängelte. Das cyanblaue Wasser glänzte dabei wie ein Saphir. Der leichte Wind wehte sanft über die Felder und ließ das saftig grüne Gras des Flachlands rascheln, das auf eine Vegetation hinwies, die sich perfekt für den Ackerbau eignete. Kleine Bauernhäuser standen hier und da zwischen den Feldern, auf denen Bauern ihr Tageswerk verrichteten.

    Iemitsu schmunzelte zufrieden. Vor einem Monat war er endlich nach einer Militärkampagne nach Hause zurückgekehrt und konnte hier vorübergehend sein Leben in Frieden genießen. Er war einer der wenigen Jizamurai, die es noch zu dieser Zeit gab. Den meisten dieser Landsamurai mit Landgut waren ihre Macht und ihr Landbesitz bereits entweder von Stadtsamurai oder von den Daimyō, den Kriegsherren, die eine oder mehrere Provinzen besaßen, entzogen worden. Obwohl das Land ursprünglich von vielen Jizamurai bevölkert war, nahm ihre Zahl nun deutlich ab und sie mussten ihre Macht abgeben.

    Mit diesen Gedanken im Sinn drehte er sich um und ritt zu seinem Anwesen zurück, das von einer Pflastermauer, deren unterster Teil aus Stein gebaut war, umzäunt war. Der Samurai am Tor verbeugte sich tief, als er sich ihm näherte.

    „Ein wunderschöner Abend, nicht wahr?", meinte Iemitsu, während er vom Pferd stieg.

    „Jawohl, Sir", antwortete der Bushi, der Samurai. „Das erhellt auch das Gemüt der Bauern – sie arbeiten fleißiger."

    „In der Tat", murmelte Iemitsu und überreichte die Zügel seines Pferdes einem Diener, der es sofort zu einem Stall hinführte.

    Glücklich betrat der Jizamurai den Vorhof seines kleinen Anwesens und sah sich um. Ein mittelgroßes Haus stand etwas hinten in der Mitte des von den Mauern eingeschlossenen Bereichs, während eine hölzerne Veranda das Gebäude umkreiste. Kleine Steintrittplatten vom Eingang dieses Hauses führten zu einem wunderschönen Garten. In diesem befand sich ein runder Teich mit Wasserlilien, der von einer kleinen, hölzernen Brücke überquert wurde. Kieswege schlängelten sich zwischen Büschen, Blumen und einigen Kirschbäumen, deren Blüten, seitlich von den Sonnenstrahlen erhellt, äußerst atemberaubend vorkamen. Zwei weitere, kleine, hölzerne Gebäude, die jeweils aus einem einzelnen Zimmer bestanden, befanden sich ebenfalls im Hof und Iemitsu ging direkt auf eines davon zu, während er einer vorbeieilenden Magd befahl, stehen zu bleiben.

    „Habt ihr schon mein Bad vorbereitet?", erkundigte er sich.

    Die Magd verbeugte sich tief. „Ja, Ashidasama. Kaiisan sollte eigentlich schon das Wasser warm gemacht haben."

    „Gut", war alles, was Iemitsu von sich gab, als er auf das Gebäude zuging. In Erwartung des kommenden, entspannenden Bads beschleunigte er ein wenig seinen Schritt.

    „Kaiisan, sind Sie da?", wollte er wissen, als er gut gelaunt eine Seitentür öffnete und das kleine Gebäude betrat. Was er jedoch als Nächstes sah, ließ ihn schlagartig erstarren.

    Vor ihm stand eine lange Steinbank sowie eine große Holzwanne in der Mitte des Zimmers. Doch anstatt von heißem Wasser war die Wanne mit etwas ganz anderem gefüllt; mit einer furchterregenden Flüssigkeit, die er gehofft hatte, nicht wiedersehen zu müssen, bis sein Daimyō erneut seine Dienste in Anspruch nahm: Blut.

    Was ihn jedoch am meisten erschreckte, war Kaii, der selbst in der Wanne lag und seine weit aufgerissenen Augen entsetzt auf ihn heftete.

    „Kaiisan?", wagte Iemitsu es schließlich hervorzubringen, als er bestürzt die Leiche seines Dieners anstarrte. Verkrampft griff er nach dem Katana, dem Langschwert, das er immer bei sich trug.

    Plötzlich hörte er, wie sich die Tür hinter ihm schloss. Instinktiv drehte er sich um, bereit sein Leben zu verteidigen. Doch niemand war da. Panik stieg in ihm auf und er wollte gerade die Tür öffnen, um seine Wachen zu alarmieren, als er auf einmal eine Stimme hinter sich vernahm.

    „Ich habe Sie schon erwartet, Ashidasama."

    Schwer atmend vor Angst, fuhr Iemitsu blitzschnell herum, wobei er sein Schwert direkt vor sich hielt. Der Anblick, der sich ihm bot, brachte beinahe sein Herz zum Stillstand. Ein furchteinflößender Dämon, mit knallrotem Gesicht und Hörnern auf der Stirn, in einem einfachen grauen Kimono, ein Gewand aus Baumwolle, starrte ihn höhnisch grinsend an.

    Unmöglich, dachte der Jizamurai und jeglicher Mut verließ ihn.

    „Setzen Sie sich, forderte ihn der Dämon gelassen auf. „Wir haben einiges zu besprechen.

    Erst jetzt stellte Iemitsu fest, dass sein Gegenüber kein Dämon war, sondern lediglich nur eine Maske trug, denn beim Sprechen verzog sich kein einziger seiner Mundwinkel. Etwas ermutigt, aber immer noch in Alarmbereitschaft versetzt, schluckte der Jizamurai seine Furcht hinunter.

    „Was wollen Sie von mir?", verlangte er.

    Mit Ausnahme seiner Augen, die Iemitsu abschätzend musterten, blieb der Fremde vollkommen bewegungslos.

    „Beantwortet mir lediglich nur eine einzige Frage und ich bin nie hier gewesen."

    „Und wie lautet die Frage?", wollte der Jizamurai wissen.

    Misstrauisch verengte er die Augen und sah sich eilig um, um weitere „Dämonen" ausfindig zu machen, die sich womöglich in diesem Gebäude versteckt hatten. Der Blick des Unbekannten, der vorher aufgrund Iemitsus Reaktion auf Befriedigung gedeutet hatte, wurde todernst.

    „Wo befindet sich Euer hinterhältiger Vater?"

    Der Jizamurai versteifte sich unverzüglich. Sein Vater war früher mal ein mächtiger General gewesen und hatte sich viele Feinde gemacht, die seinen Tod herbeiwünschten. Dies hatte er zwei seiner Charaktereigenschaften zu verdanken: seiner Ambition, die ihm dazu verholfen hatte, ein General zu werden noch bevor er dreißig war, sowie seine übertriebene Rücksichtslosigkeit, die vielen Menschen das Leben gekostet hatte. Tatsache war, dass er bis ins Mark unbarmherzig gewesen war, als er den Befehlen seines Herrn Folge geleistet hatte. Es gab insgesamt mehrere Anschläge auf sein Leben und er hatte deshalb beschlossen, auf die Insel von Shikoku auszuwandern, um dort anonym seinen Ruhestand zu verbringen. Wenn dieser Fremde wissen wollte, wo sich sein Vater aufhielt, dann konnte dies nur eines bedeuten: Er wollte sein Leben auslöschen.

    „Ich weiß es nicht, log Iemitsu. „Verlassen Sie nun gefälligst mein Anwesen!

    Seufzend schüttelte der Unbekannte den Kopf. „Das war Ihre Entscheidung."

    Ohne dass Iemitsus Augen die Bewegung verfolgen konnten, griff der Fremde nach einem Gegenstand in seinem Kimono, den er blitzschnell auf den Boden vor sich warf. Ein lauter Knall ertönte und Rauch strömte aus dem Objekt heraus, sodass es innerhalb von wenigen Sekunden das gesamte Zimmer füllte.

    Hustend trat Iemitsu einen Schritt zurück, ohne die Augen von seinem Gegenüber zu lösen, um ihn bloß nicht aus dem Blick zu verlieren. Er wollte sich gerade auf ihn stürzen, als ihn ein Schrei innehalten ließ.

    „Aaaaahhhh!"

    Es war eine seiner Mägde! Kaum war dies geschehen, vernahm er weitere Schreie seiner Diener, schnell gefolgt von Alarmrufen, Schmerzenssowie Todesschreien seiner Wachen und dem Klirren von aufeinanderprallenden Klingen.

    Der Jizamurai weitete entsetzt die Augen. „Wie konnten Sie es bloß wagen?!", brüllte er sein Gegenüber an, bevor er sich geschwind umdrehte und auf die Tür zustürmte, um herauszufinden, was dort vor sich ging.

    Plötzlich und wie aus dem Nichts sprang eine flinke Gestalt, von den horizontalen Balken über ihm, herunter und griff ihn mit einem Schwert an. Von der unerwarteten Attacke überrascht, aber von seinem Instinkt gesteuert, rollte Iemitsu zur Seite und parierte den Stoß, der seiner Brust galt. Der Angreifer, dessen Gesicht von einer ähnlichen abscheuerregenden Maske bedeckt wurde, sprang nach rechts und übte einen weiteren Hieb aus, nach den Nieren stechend.

    Iemitsu schwang sein Katana nach unten und, sobald die beiden Klingen aufeinandertrafen, versetzte er seinem Gegner rasch einen Vorwärtstritt in den Bauch. Aufstöhnend, schwankte dieser einen Schritt zurück und der Jizamurai führte einen blitzschnellen horizontalen Schwertstoß von rechts durch. Der Eindringling konnte den Hieb gerade noch rechtzeitig blockieren, wurde jedoch von der Wucht des Hiebes gegen die Wand geschleudert.

    Diesen Augenblick ausnutzend, riss Iemitsu die Tür auf und rannte heraus. In seinem Garten herrschte purer Chaos. Diener liefen schreiend davon, während Männer mit weißen Dämonenmasken die Wachen angriffen, von denen bereits zwei tot am Boden lagen. Zufällig nahm er eine Bewegung am Hauptgebäude wahr und sah, wie einer dieser Eindringlinge sich in sein Haus hineinschlich.

    Iemitsu erstarrte. Dort war seine Familie. Ohne auf die vielen Angreifer achtzugeben, rannte er an einigen der Kämpfenden vorbei, eilte über die Brücke und stieß schließlich durch die halb geöffneten Eingangstüren ins Hauptgebäude herein.

    „Tamiko!", rief er suchend, als er durch das große Eingangszimmer lief. „Bunjurokun, Rinchan, wo seid ihr?"

    Hastig raste er einen Korridor entlang und rannte in ein Zimmer hinein.

    „Tamiko? Rinchan? Bunjurokun?", wiederholte er, diesmal jedoch leiser, als er bemerkte, dass der Raum leer war.

    Plötzlich spürte er eine Bewegung hinter sich. Bedenkenlos drehte er sich um und parierte den Schwerthieb eines der maskierten Männer. Dennoch musste er zurückweichen, als dieser einen diagonalen Stoß von oben nach unten exekutierte. Konternd zielte Iemitsu nach dem Haupt seines Widersachers, doch der Letztere duckte sich, sodass die Klinge nur eines der Hörner seiner Dämonenmaske abhackte. In einer gebückten Position warf sich dieser auf den Jizamurai.

    Instinktiv sprang Iemitsu zur Seite und schlug horizontal nach dem Rücken des an ihm vorbeilaufenden Kriegers, dessen flinkes Manöver versagt hatte. Vor Schmerz nach Luft schnappend, taumelte der Letztere ein paar Schritte vorwärts. Der Jizamurai blickte über die Schulter auf seinen Gegner und schmunzelte leicht. Er hatte ihn am Rücken erwischt.

    Verwundet, aber immer noch kampfwillig, wandte sich der Maskierte dem Samurai zu. Er schien zu wissen, dass seine Kampffertigkeiten denen seines Widersachers, der ein überdurchschnittlicher Kämpfer war, unterlegen waren, dennoch wies sein Blick auf eine feste Entschlossenheit hin. Aufmerksam musterten sich die beiden Krieger gegenseitig und beobachteten jede Bewegung ihres Gegenübers.

    Plötzlich stürzten sie sich gleichzeitig aufeinander und übten beide diagonale, niederschmetternde Stöße aus. Iemitsu hörte, wie sich Stoff zerriss und eine Klinge Fleisch durchdrang. Beide blieben nahezu reglos nebeneinander stehen. Ihre Blicke trafen sich ein letztes Mal, bevor der Maskierte leblos am Boden zusammensackte, wobei sein marineblauer, aufgeschnittener Kimono die Todeswunde preisgab.

    „Ich muss schon sagen, ich bin beeindruckt", vernahm der Jizamurai die Stimme des Unbekannten mit der roten Maske hinter sich.

    Alarmiert drehte er sich um und sah, wie dieser, flankiert von zwei seiner Männer, das Zimmer betrat. Iemitsus Mut sank. Er wusste, dass er alle drei nie besiegen konnte. In seinem Unterbewusstsein setzte sich der Gedanke fest, dass heute sein letzter Tag auf dieser Welt war. Der Mann mit der roten Maske, der anscheinend der Anführer dieser Bande war, wurde ernst, als er den Bushi betrachtete.

    „Dies kann alles sofort enden. Sagen Sie mir einfach, wo ich Euren Vater finden kann."

    „Niemals!", brüllte Iemitsu und lief plötzlich mit erhobenem Schwert auf den Fremden zu.

    Der Unbekannte wartete bis auf den letzten Moment, bevor er eine Seitwärtsrolle ausführte und mit einem versteckten Tantō, einem Kampfmesser, nach ihm stach. Iemitsu konnte der Klinge knapp noch ausweichen, als der Fremde zu seinem Entsetzen blitzschnell aufsprang und ihn mit einem kraftvollen, vertikalen Hieb von unten angriff. Mühevoll gelang es dem Samurai, den Stoß zu parieren, doch er wurde zurückgeworfen.

    Kurzzeitig damit beschäftigt, nicht außer Gleichgewicht zu geraten, sah er, wie sich der Unbekannte so schnell wie der Blitz um seine eigene Achse drehte. Die erzeugte Schwungkraft zu seinem Vorteil nutzend, versetzte dieser seinem Widersacher einen mächtigen Seitwärtstritt in die Seite, der so stark war, dass er einen Holzbalken in tausend Stücke zersplittern könnte. Der Jizamurai stöhnte auf, als er spürte, wie sich eine seiner Rippen brach und ungeheurer Schmerz seinen Körper durchzuckte. Durch die Wucht des Trittes wurde er gegen eine der Papierwände geschleudert, die unter seinem Gewicht nachgab. Hustend versuchte er die Orientierung wiederzuerlangen, als ihm auf einmal bewusst wurde, dass er sein Katana verloren hatte.

    Bevor er etwas tun konnte, spürte er, wie ihn zwei Hände am Kragen packten und er hochgehoben wurde, bis sein Gesicht beinahe die Dämonenmaske des Fremden berührte. Obwohl Iemitsu eigentlich ein hervorragender Krieger war, verblassten seine Fertigkeiten im Vergleich zu denen seines Gegners.

    „Sagt mir endlich, wo Euer Vater ist", zischte dieser.

    Trotzend sah ihm der Jizamurai direkt in die Augen. „Nur über meine Leiche."

    Ohne Vorwarnung riss der Unbekannte ein Tantō aus seinem Obi, seinem Gürtel, und stieß es in Iemitsus rechten Arm.

    „Aaaaaahhhhh!", brüllte der Letztere auf, als ihn qualvoller, brennender Schmerz durchfuhr.

    Auf einmal hob ihn der Unbekannte etwas höher und warf ihn vor sich auf die Tatami, die Matten aus Reisstroh. Aufzuckend, biss sich Iemitsu auf die Lippen und umklammerte die Wunde an seinem Arm, aus der Blut strömte. Aus den Augenwinkeln nahm er wahr, wie die anderen zwei maskierten Männer interessiert zuschauten.

    Der Fremde trat bedrohlich einen Schritt auf ihn zu. „Wo ist Ashida Shinzu?"

    Mutig sah Iemitsu zu ihm hoch und schüttelte den Kopf. Der Unbekannte stieß einen langen Seufzer aus und hob erneut sein Messer.

    Plötzlich vernahmen sie wütendes Gebrüll. Instinktiv fuhr der Fremde herum und parierte unvermittelt den Hieb seines Angreifers. Seine Lippen kräuselten sich zu einem höhnischen Lächeln, als er feststellte, dass sein Gegner die Frau des Jizamurai war.

    Er vernahm einen Schmerzensschrei und sah aus den Augenwinkeln, wie einer seiner Männer fluchend zurücksprang und nach seiner Schulter griff. Der Unbekannte erhaschte lediglich einen kurzen Seitenblick auf den zweiten Angreifer, denn die Frau attackierte ihn nun erneut. Rasch führte sie einen Schwertstoß durch, nach dem Hals ihres Widersachers zielend. Der Fremde wehrte den Stoß mit Leichtigkeit ab und, nach dem Austausch von vier oder fünf weiteren Schwerthieben, entwaffnete er die Frau. Vollkommen ungeschützt stand sie ihm nun gegenüber.

    „Kniet Euch dort hin", befahl der Unbekannte und deutete auf die Strohmatte neben ihrem Mann. Während die Frau vorsichtig tat wie ihr geheißen, wandte er seine Aufmerksamkeit dem zweiten Gegner zu, der seinen Untergebenen verletzt hatte, und welcher jetzt entwaffnet in der Ecke des Zimmers stand. Als er diesen erblickte, schnaubte er amüsiert.

    „Du Knirps hast einen meiner Männer verwundet?", lachte er und sah den Jungen an, der Iemitsus Sohn zu sein schien. Belustigt schaute er zu einem seiner nun verletzten Krieger herüber, der immer noch die Hand auf seine Wunde drückte. Der Blick dieses Mannes deutete auf puren Hass hin, als er den Jungen mörderisch anstarrte.

    „Lasst uns in Frieden!", rief der Junge mit vor Zorn zusammengekniffenen Augen.

    Der Fremde sah ihn noch einmal an, bevor er ihm anerkennend zunickte. „Ich bin überrascht, dass du das Geschick und vor allem den Mut hast, einen meiner Männer anzugreifen und sogar zu verletzen. Er blickte Iemitsu an, der dem ganzen Vorgang still aber besorgt mit den Augen folgte. „Dein Vater hat dich gut trainiert, Junge … aber gut. Er ging einen Schritt auf den Jizamurai zu. „Zurück zum Thema, Samuraisan. Wo ist Ashida Shinzu?"

    „Ich werde ihnen nichts verraten!", rief Iemitsu stur.

    „Sie stürzen einfach Ihre gesamte Familie ins Verderben", seufzte der Unbekannte.

    Auf einmal sah Iemitsu, wie der verwundete Krieger auf seinen Sohn Bunjuro zuging.

    „Nein!, rief er. „Lasst meinen Sohn da raus!

    Doch es war zu spät. Der Junge war bereits schockiert aufgesprungen und wollte aus dem Zimmer rennen, doch der Maskierte kam ihm zuvor.

    „Neeeeiiiiin!", schrie die Frau des Jizamurai, als sie sah, wie der Eindringling eine Klinge in die Brust ihres Sohnes stieß. Bunjuro riss weit die Augen auf und blickte seine Eltern ein letztes Mal an, bevor sein Lebensfunke erlosch und er tot zu Boden fiel.

    „Nein! Nein, nicht mein Sohn!, brüllte die Frau und lief zu dem reglosen Jungen hinüber. „Bunjurokun!, schrie sie, neben ihm auf die Knie fallend, und begann laut zu schluchzen. „Nein! Mein Sohn!"

    Iemitsu Kehle verschnürte sich. Er verspürte einen schmerzvollen Stich im Herzen und schloss trauernd die Augen. Der Fremde schien allerdings nichts von all dem mitzubekommen, denn er schaute den Jizamurai erneut an.

    „Wie oft muss ich …" Er brach ab, denn wegen des Geheules der Frau konnte er kaum seine eigene Stimme hören.

    Sich an sie wendend, räusperte er sich. „Entschuldigen Sie mich, gnädige Frau, aber könnten Sie bitte etwas leiser trauern? Ich versuche hier gerade ein Gespräch zu führen."

    Die implizite Drohung in seiner Stimme vernehmend, wurde sie etwas leiser, konnte ihr Schluchzen jedoch nicht vollständig unterdrücken.

    „Danke, flüsterte der Fremde, bevor er sich gelassen an Iemitsu wandte. „Wie oft muss ich Sie noch fragen? Wir verschwenden einfach nur Zeit … und Menschenleben.

    Der Jizamurai antwortete nicht sofort. Mit vor Schmerz verengten Augen blickte er seinen Peiniger an. „Weshalb wollt ihr wissen, wo mein Vater ist?"

    Der Blick des Unbekannten wurde todernst. „Vor einer langen Zeit überfiel die Armee des Generalen Ashida Shinzu eine Handvoll von Dörfern, obwohl sein Herr nicht den Befehl dazu gegeben hatte. In einem von diesen Dörfern lebte ich."

    Er hielt kurz inne und Iemitsu schluckte, als er den Hass spürte, den dieser Mann ausstrahlte. Er ahnte bereits, was er nun sagen würde.

    „Euer Vater, zischte der Fremde wütend, obwohl es ihm bis jetzt gelungen war, seine Fassung zu bewahren, „hat meine gesamte Familie ausgelöscht, als ich noch ein Kind war! Ich war der einzige Überlebende dieses Massakers. Er hat mein Leben ruiniert! Jetzt ist er an der Reihe … Schließlich konnte er sich wieder fassen. „Jetzt aber zurück zu meiner Frage."

    Doch Iemitsu schwieg. Nun da er wusste, wieso der Unbekannte nach seinem Vater suchte, konnte er es ihm nun recht nicht verraten.

    „Immer noch so stur?", fragte der Fremde gelassen.

    Auf einmal vernahmen sie Schritte und die Aufmerksamkeit aller Anwesenden wurde der Tür zugewandt. Der Unbekannte lächelte boshaft, sobald er einen seiner Männer sah, der ein kleines Mädchen in den Raum hineinschubste, das nicht älter als vier oder fünf sein konnte.

    „Rinchan!, schnappte die schluchzende Mutter des Kindes nach Luft, bevor sie flehend ihren Blick auf den Fremden richtete. „Bitte tut ihr nichts an!

    Der Unbekannte schien sie jedoch gar nicht wahrzunehmen, denn er musterte das zitternde Mädchen, das ihn mit Tränen verschleierten Augen anstarrte. Er bemerkte, dass die Dämonenmaske ihr Angst einjagte, und nahm sie deshalb ab. Der Jizamurai erschauderte, als der fast kahle Schädel des Mannes, dessen Haut so blass wie die eines Geistes war, sichtbar wurde. Auf seiner Stirn konnte man eine Tätowierung sehen und unzählige Narben übersäten sein Gesicht.

    Obwohl sich Rin nun etwas beruhigte, schien ihre Furcht vor diesem Mann gar nicht zu schwinden. Im Gegenteil, sein Aussehen trieb ihr sogar noch mehr Angst ein. Gebannt verfolgte Iemitsu jede einzelne Bewegung des Fremden, der auf ein Knie ging und das kleine Mädchen zu sich winkte.

    „Komm her … Rinchan."

    Langsam kam sie ihm näher, wobei sie gelegentlich zu ihren Eltern herüberblickte. Es war leicht zu erkennen, dass sie noch zu jung war, um zu verstehen, was um sie herum geschah. Der Unbekannte lächelte mit einem Hauch von Zuneigung und legte eine Hand auf Rins Schulter, bevor er Iemitsu anschaute.

    „Was für eine kleine, unschuldige Tochter ihr habt, begann er mit einem listigen, spottenden Blick. Der Jizamurai bemerkte, wie sich das Messer in der Hand des Fremden, Rin langsam näherte. „Es wäre doch wirklich eine Schande, wenn diesem hübschen, kleinen Geschöpf etwas zustieße–

    Plötzlich sauste das Tantō direkt auf Rins Hals zu.

    „Halt!", brüllte Iemitsu.

    Die Hand des Unbekannten hielt abrupt an. Das Mädchen erschauderte, als der kalte Stahl ihren Hals berührte.

    Der Fremde sah mit einem triumphierenden Lächeln zu dem Jizamurai. „Jetzt seid Ihr bereit zu reden."

    Resigniert senkte Iemitsu den Kopf. „Er lebt in Shikoku, an der südlichen Grenze zwischen den Provinzen Iyo und Sanuki, isoliert von anderen Dörfern und Städten."

    Der Unbekannte lächelte zufriedengestellt. „Danke für die Information. Ich wusste ja, dass wir zu einer Einigung kommen würden. Bedrohlich trat er einen Schritt auf Iemitsu zu. „Jetzt brauche ich Sie nicht mehr.

    „Nein!", rief die Frau des Jizamurai, sobald ihr die Absichten des Fremden bewusst wurden.

    Blitzschnell zischte die Klinge des Unbekannten auf Iemitsus Hals zu und durchschnitt ihm die Kehle. Mit geweiteten Augen, die auf seinen Mörder geheftet waren, verließ ihn die Lebenskraft und er tat seinen letzten Atemzug.

    „Nein! Iemitsu! Nein!", schluchzte seine Frau herzzerreißend, als sie diesmal zu ihm lief.

    Der Fremde schaute einfach gefühllos zu, bevor er seinen Männern ein Zeichen gab, ihm zu folgen. Das Zimmer verlassend, ließ er eine Spur von Leichen sowie eine weinende Mutter und Tochter hinter sich.

    2. Nächtlicher Einbruch

    Japan, Nabari

    Totenstille hatte sich über das Dorf von Nabari gelegt und der Mond war das einzige Licht, das den Nachthimmel erleuchtete. Diese Geräuschlosigkeit wurde lediglich vom unaufhörlichen Zirpen der Zikaden unterbrochen. In wenigen Stunden würde das Morgengrauen anbrechen und Nabari wieder aufleben.

    Ein Augenpaar beobachtete die Straße. Nachdem sich die Gestalt, deren Gesicht von einem dunkelblauen Tuch verhüllt war, umgesehen hatte, lief sie langsam zum schützenden Schatten eines Gebäudes. Aufgrund des lautlosen Ganges und der angewohnten Wachsamkeit schien es ein Shinobi, ein professioneller Spion, zu sein.

    Halb hockend schlich er weiter vorwärts, wobei er sich ständig umschaute. Sobald er sich von jeglicher Abwesenheit eines Menschen vergewissert hatte, entspannte er sich ein wenig. Seine Augen huschten über einige Häuser, bis sie auf einem Gebäude hängen blieben. Auf der Hut bleibend, begab er sich in die Richtung seines Ziels.

    Auf einmal vernahm er Schritte. Blitzschnell sprang er seitwärts und ließ sich zu Boden fallen, um sich im Schatten zu verstecken. Er presste tonlos seinen Körper gegen die Wand des Gebäudes neben sich.

    Aus den Augenwinkeln erblickte er einen Mann mit einer kleinen Laterne, die nur wenig Licht spendete. Dieser ging langsamen Schrittes auf der Straße, ohne sich von irgendetwas ablenken zu lassen. Er schien nicht einmal zu ahnen, dass er beobachtet wurde, denn er wanderte selbstvergessen weiter, sodass er einige Sekunden später am anderen Ende der Straße verschwand und nun außer Sichtweite war.

    Der Shinobi wartete vorsichtshalber noch eine Minute lang, bevor er sein Versteck verließ. Langsam erhob er sich und musterte seine Umgebung zum wiederholten Male. Die Luft schien diesmal rein zu sein. Leichtfüßig erreichte er das Haus, das er die ganze Zeit im Visier behalten hatte, und umrundete das gesamte Gebäude, bis er vor der Tür stand. Er wusste, dass sie offen sein würde, denn nicht jeder Kaufmann oder gar Samurai konnte sich Schlösser leisten.

    Leise öffnete er die Schiebetür und spähte hinein. Drinnen sah er einen eher kleinen Eingangsraum. Dieser war zugleich auch das Esszimmer, denn in dessen Mitte hatte man ein Irori eingebaut, eine quadratische Öffnung im Boden, umgeben von einem Holzrahmen und mit Sand gefüllt, über welcher ein kleiner Wasserkessel von der Decke hing.

    Der Shinobi überflog flüchtig den ganzen Raum mit den Augen, bevor er sich hineinstahl. Ohne einen weiteren Gedanken an seine Umgebung zu verschwenden, schlich er an der tiefliegenden Kochstelle vorbei und begab sich zur Tür, die zum Schlafzimmer führte. Dort blieb er stehen und horchte. Er konnte männliches Schnarchen vernehmen.

    Geräuschlos zog er einen kleinen mit Öl gefüllten Behälter aus seinem Kimono heraus, bevor er umsichtig ein wenig davon unter die Tür goss. Nachdem er das Fläschchen wieder in seinen Obi verstaut hatte, begann er die Schiebetür aufzumachen.

    Es funktioniert!, lächelte er daraufhin, als kein Knarren ertönte. Er öffnete die Tür um einen Spalt und ließ seinen Blick hineinwandern.

    Am anderen Ende des Raumes konnte er die unklare Form eines Mannes ausmachen, der auf einem Futon, einer Schlafmatratze, lag und schlief. Direkt daneben lag griffbereit ein Kurzschwert.

    Sein Zielobjekt beäugend, blickte sich der Shinobi im Zimmer um. Eine hölzerne Kiste stand zu seiner Rechten, während sich daneben einige Tongefäße befanden. Außer diesen sowie einer kleinen Pflanze, die als einzige Dekoration im Hause diente, gab es kaum weitere Möbelstücke.

    Der Shinobi schluckte seine Nervosität herunter, als er begriff, dass das Schwierigste noch bevorstand. Mit außerordentlicher Vorsicht und Langsamkeit ging er einige Schritte auf den schlafenden Mann zu. Nun blieb er neben ihm stehen und versuchte herauszufinden, wie tief sein Schlaf war. Unfähig dies einzuschätzen, zögerte er einen Moment lang und fasste den Entschluss, einfach fortzufahren und seine Aufgabe so schnell wie möglich auszuführen.

    Unruhig kniete er sich neben dem Mann hin und lehnte seinen Körper nach vorne, wobei er sich Mühe gab, das schwache Mondlicht nicht zu blockieren, das auf das Gesicht des Schlafenden fiel. Die Augen des Letzteren waren geschlossen und seine Brust hob und senkte sich regelmäßig.

    Mit Bedacht streckte der Shinobi den Arm über die schlafende Gestalt aus und ertastete langsam das Schwert, das auf der anderen Seite des Futon lag. Vor Aufregung, seinen Auftrag beinahe ausgeführt zu haben, atmete er leicht ein. Einigermaßen erleichtert begann er seinen Arm mit dem Kurzschwert zurückzuziehen.

    Plötzlich wurde sein Arm von einer Hand ergriffen. Erschrocken weiteten sich seine Augen, als er sah, wie der erst vor kurzem noch schlafende Mann ihm bedrohlich ins Gesicht starrte.

    3. Die Lehre

    Augenblicklich wollte sich der Shinobi wehren, erstarrte jedoch, sobald er den kalten Stahl eines Messers an seiner Kehle spürte. Überlegen blickte der Mann den Eindringling an.

    „Nachlässigkeit ist ein großer Feind", wisperte er.

    Der Shinobi wagte es nicht, sich zu rühren. Bedächtig starrte ihn der Mann an, wobei seine Miene unbewegt blieb. Auf einmal grinste dieser triumphierend und senkte die Waffe.

    „Guter Versuch, Taikikun. Aber es gibt immer noch einige Kleinigkeiten, die du verbessern könntest", lächelte er vergnügt.

    Der Shinobi zog sich das umwickelte Tuch vom Kopf. Das enttäuschte Gesicht eines neunjährigen Jungen kam zum Vorschein.

    „Onkel Yujiro, was habe ich diesmal falsch gemacht?", fragte er etwas irritiert. Die kindliche Unschuld war noch deutlich in seiner Stimme zu hören.

    Kiyonori Yujiro, der ein Chūnin, einer der Assistenten des Jōnin, des Clan-Anführers, Momochi Tanba, war, nahm behutsam das Kurzschwert, das sein Neffe in der Hand hielt, und legte es wieder neben seinem Bett. Er setzte sich auf, bevor er antwortete.

    „Beruhige immer deinen Geist und deine Gedanken, bevor du überhaupt etwas tust, denn ich weiß, dass du gezögert hast. Das ist einer der schlimmsten Fehler, die ein Shinobi begehen kann. Befreie dich jedes Mal von der Angst, dem Zweifel und dem Zögern. Sonst wirst du noch mehr Fehler begehen und es besteht somit die Möglichkeit, dass jemand deine Anwesenheit spüren wird."

    Verblüfft klappte Taiki die Kinnlade herunter. „Was? Meinen Sie das ernst?"

    Sein Onkel nickte. „Ich konnte deine Unentschlossenheit hautnah fühlen. Doch was mich geweckt hat, war etwas ganz anderes."

    Der Junge warf ihm einen fragenden Blick zu. „Und was war das?"

    „Dein Atem."

    „Mein Atem?"

    „Genau. Immer wenn du dich einer Person näherst mit der Absicht unentdeckt zu bleiben, musst du immer deinen Atem an die dieser Person angleichen. Verstanden?"

    Taiki nickte und senkte irritiert den Kopf. „Aber so werde ich nie ein richtiger Shinobi!"

    „Taikikun, wir lernen von unseren Fehlern. Glaubst du etwa, dass ich als Shinobi geboren wurde?"

    Der Junge schüttelte den Kopf. „Aber wann bin ich endlich komplett ausgebildet?"

    „Du hast erst knapp über die Hälfte deines Trainings hinter dir. Frag deinen Cousin; er wird dir mehr darüber sagen können als ich. Yujiro unterdrückte ein Gähnen. „Und jetzt solltest du lieber nach Hause gehen. Ich möchte noch ein paar Stunden Schlaf bekommen. Vergiss nicht zum Unterricht zu kommen.

    Mit diesen Worten legte Kiyonori sich wider hin, ohne seinem Neffen weitere Aufmerksamkeit zu schenken. Taiki erhob sich von den Knien und verließ das Zimmer.

    * * *

    „Taikikun, wo verbleibt deine Schwester?", fragte Yujiro, nachdem er vor seinem Neffen stehen geblieben war.

    Die Sonne war bereits am Horizont zu sehen und spendete ihrer Umgebung etwas Licht. Die Bäume, von denen sie umgeben waren, ragten hoch über die beiden.

    „Da kommt sie", antwortete der Junge, als er eine Bewegung aus den Augenwinkeln erwischte.

    Kiyonori sah zur Seite und erblickte Taikis ältere Schwester Akemi, die sich ihnen schnellen Schrittes näherte.

    „Ich bitte um Entschuldigung für die Verspätung, sagte sie mit einer begrüßenden Verbeugung, wobei ihre Haare lose über ihre schmalen Schultern fielen. „Ich musste noch etwas im Haushalt erledigen, fügte sie hinzu, wobei sie sich die Haare aus dem Gesicht strich.

    Yujiro musste lächeln, als er feststellte, wie sich der Grund ihrer Verspätung der ihrer Mutter ähnelte. Denn wenn die Letztere zu spät kam, dann allerdings ausschließlich nur wegen der Hausarbeit.

    „Kein Problem, verkündete er. „Ich schätze mal, dass ich jetzt anfangen werde. Während er sprach, ging er langsam auf und ab, wobei er die Hände hinter dem Rücken verschränkte. „Die Philosophie der Shinobi ist eine der wichtigsten Lehren, die unsere Vorfahren uns weitergegeben haben. Könnt ihr mir erklären, was sie uns genau beibringt?"

    Taiki öffnete bereits den Mund, um zu antworten, doch sein Onkel unterbrach ihn.

    „Taikikun, ich bin mir sicher, dass du es weißt. Aber du wirst in der Kunst des Ninjutsu schon seit fünf Jahren unterrichtet. Bitte lass deine Schwester dieses Mal die Frage beantworten."

    Der Chūnin sah Akemi prüfend an und musste an seine eigene Schwester, Sayuri, denken. Der heldenhafte Opfertod ihres Mannes, Satoshi, hatte Sayuri dazu bewegt, ihre Tochter Akemi in Ninjutsu unterrichten zu lassen, damit sie sich selbst verteidigen konnte, falls ihr etwas widerführe. Kiyonori würde Satoshi immer in Erinnerung behalten, denn ohne ihm wäre er jetzt nicht am Leben.

    Er seufzte, als er die beiden vaterlosen Kinder vor sich ansah. Er gab Akemi schon seit eineinhalb Jahren Nachhilfe, da sie in ihrem Alter eigentlich bereits beinahe eine vollständig ausgebildete Kunoichi, ein weiblicher Shinobi, sein sollte. Und nebenbei hatte er sich dazu entschieden, Taiki zu helfen, weil ihm der zusätzliche Unterricht nicht schaden würde.

    „Sie bringt uns bei, dass wir beharrlich und aufrichtig sein sollen", antwortete seine Nichte etwas zögerlich.

    Kiyonori nickte. „Genau. Das Ziel jedes Shinobi sollte sein, die Belastbarkeit des Körpers und des Geists zu erlangen. Doch um diese Eigenschaft, diese unbegrenzte Beharrlichkeit, die sogar unter den unmöglichsten Zuständen nicht gebrochen werden darf, zu bekommen, muss man Körper und Geist trainieren.

    „Die Philosophie unserer Vorväter lehrt uns ein aufrichtiges, mitfühlendes und reines Herz zu kultivieren, um Unterdrückung sowie Beleidigungen gelassen ertragen zu können, was uns erlaubt, uns von den Bahnen unserer persönlichen Wünsche loszureißen. Außerdem hilft uns dies, uns Untugenden, wie zum Beispiel dem Hass, der Wut, der Faulheit, der Gier und der Eifersucht, nicht hinzugeben. Denn diese sind schädlich und können auch unseren Auftrag gefährden, zum Beispiel indem sie uns ablenken oder zögern lassen, wenn wir in feindlichem Gebiet sind.

    „Aus diesem Grund muss unser Geist unerschütterlich und belastbar bleiben, damit wir für jede Situation vorbereit sind, sei es körperlich oder seelisch. Ein solches Herz und eine solche Einstellung führen zu einer Flexibilität des Geistes, die uns ermöglicht, uns jeglichen Situationen anzupassen und uns unerwarteten Hindernissen entgegenzustellen. Soweit klar?"

    Akemi und Taiki nickten.

    „Eine weitere äußerst wichtige Fähigkeit eines Shinobi ist es, andere so zu beeinflussen, dass sie unbewusst deinen eigenen Willen ausführen oder dir dabei helfen deine Mission zu erfüllen. Nichtsdestotrotz dürft ihr nie vergessen, dass das Eingehen von Risiken so oft wie möglich vermieden werden sollte, wobei man allerdings trotzdem nicht vor Gefahren zurückschrecken darf, wenn die Erfolgschancen hoch sind.

    „Vergesst auch nicht, dass kein Feigling oder Wagehals ein Shinobi sein kann. Von einem Shinobi wird der Mut verlangt, seine Furcht zu überwinden, sowie ein gutes Urteilsvermögen, das ihm Bescheid gibt, wann es sich lohnt, ein Risiko einzugehen."

    Er machte eine Pause und blickte auf seine beiden Schüler. Sie schienen das Meiste verstanden zu haben, denn sie bekamen ähnliche Aussagen oft vom Chūnin Sawada, ihrem – sowie seinem ehemaligen – Lehrmeister, zu hören.

    „Kluge Worte!"

    Alle drei drehten sich um und erblickten einen jungen, gutaussehenden Mann, der schmunzelnd auf sie zukam.

    „Guten Morgen, Kiyoshikun. Gratuliere dir! Gut, dass du vorbeikommst", begrüßte ihn Yujiro mit einem Nicken.

    Kiyoshi, der einen spaßigen Charakter hatte, jedoch auch sehr formell sein konnte, wenn es die Situation verlangte, verbeugte sich vor seinem Onkel als Gruß.

    „Nach der Zeremonie werdet Ihr Euch aber auch vor mir verbeugen müssen", scherzte er mit einer Anspielung auf ein bevorstehendes Ereignis.

    „In deinen Träumen!", schüttelte Kiyonori lächelnd den Kopf.

    „Alles Gute zum Geburtstag!", gratulierte ihn Akemi.

    Kiyoshi nickte bloß als Dank.

    „Wie viel Glück du hast", murmelte Taiki und blickte seinen Cousin mit leichter Bewunderung an. „Jetzt hast du

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