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Liga der Schatten
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eBook304 Seiten4 Stunden

Liga der Schatten

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Über dieses E-Book

Ein mysteriöses Wesen übernimmt seit Generationen die Körper unschuldiger Menschen, um in deren Hülle zu leben. Unerkannt bewegt es sich unter den Menschen und beseitigt jeden, der seiner Existenz gefährlich werden könnte.
Im Jahr 1903 misslingt in Berlin die Übernahme eines neuen Körpers. Dabei wird ein Auserwählter geschaffen, der in der Lage ist, das Wesen zu vernichten. Er und seine Nachfolger bilden die Liga der Schatten und jagen den Unbekannten durch das gesamte zwanzigste Jahrhundert.
In unserer Gegenwart übernimmt Rachel die Jagd, zusammen mit einem Brüderpaar, das für ihren Schutz verantwortlich ist. Ihr Gegner hat bereits eine lange, blutige Spur hinterlassen und könnte in jeder Person stecken, der Rachel begegnet.
Kann die Liga endlich ihre Aufgabe erfüllen?
SpracheDeutsch
HerausgeberWurdack Verlag
Erscheinungsdatum7. Sept. 2020
ISBN9783955561536
Liga der Schatten

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    Buchvorschau

    Liga der Schatten - Andreas Zwengel

    Abgrund

    Kapitel 1

    Japan, 1816

    Neun Gestalten schlichen in den Palast hinein und bewegten sich völlig lautlos, so wie sie es von Kindheit an in ihrer Ausbildung gelernt hatten. Sie waren Samurai und auf dem Weg, um ihren Fürsten zu töten. Durch diese Tat würden die neun Männer alles verlieren, ihren Stand, ihre Ehre, ihre Besitztümer und ihre Heimat. Fortan würden sie gezwungen sein, als Ronin durch das Land ziehen. Sofern sie diese Nacht überlebten.

    Leicht war ihnen die Entscheidung nicht gefallen, denn sie hatten ihr Leben auf den Fürsten eingeschworen. Ein Schwur, der für einen Samurai bindend war. Doch der Mann, der dort drinnen schlief und seit einem Jahr ihre Provinz mit eiserner Hand auspresste, war nicht mehr der Mann, dem sie sich damals verpflichtet hatten. Darin waren sich die neun Samurai einig. Nur bei den Gründen für diese Veränderung gingen ihre Meinungen auseinander. Vor einem Jahr trat die Wandlung ein und bis heute konnte sich niemand die Ursache dafür erklären. Aber es konnte nicht so weitergehen, sonst würde der Fürst sie in den Untergang treiben.

    Ôishi war der Vater von Hiroyuki und hatte sich dieser Mission nur aus dem einen Grund angeschlossen, seinen Sohn vor Schaden zu bewahren. Er glaubte nicht an die Geschichte vom besessenen Fürst. Vielleicht hatte dieser den Verstand verloren, aber es stand ihnen nicht zu, über ihren Herren zu richten. Unabhängig davon, wie grausam oder verrückt er sich aufführte. Ôishi glaubte felsenfest an das System, in dem er aufgewachsen war und seit nunmehr achtundfünfzig Jahren lebte. Nur die Liebe zu seinem Sohn zählte für ihn mehr. Nur deshalb zog er in seinem fortgeschrittenen Alter noch einmal in den Kampf.

    Der Weg zu den Gemächern blieb in dieser Nacht unbewacht. Die Mitglieder der Leibgarde, die gerade Dienst taten, sympathisierten mit den Samurai und hatten sich zum vereinbarten Zeitpunkt zurückgezogen. Ôishi konnte ihnen keinen Vorwurf machen, denn die Leibgarde musste seit der Veränderung am meisten unter den Launen ihres Herrschers leiden. Er ließ sie die scheußlichsten Gräueltaten verrichten und hatte mehrere von ihnen aus nichtigen Gründen hinrichten lassen. Zwei Jugendfreunde von Hiroyuki dienten in der Leibgarde und hatten diese Aufgabe voller Stolz erfüllt, bis der Fürst letzten Monat einen von ihnen köpfen ließ, weil er angeblich während seiner Wache geschlafen hatte. Bei Hiroyukis Freund hatte diese Tat den letzten Funken von Loyalität beseitigt. Er scharte einige Gleichgesinnte um sich, und sie übernahmen gemeinsam den Dienst in dieser Nacht, um im entscheidenden Moment wegzusehen.

    Hiroyuki hatte ihr Vorgehen genau geplant. Fünf der Samurai sollten die blutige Tat verrichten, während die übrigen vier sie nach außen hin absicherten. Neben seinem Vater und ihm würden noch sein langjähriger Freund Kimura und die beiden Kampfgefährten Asano und Kô die Gemächer des Fürsten betreten. Viele Krieger für den Meuchelmord an einem einzelnen Mann, aber sie mussten sichergehen, dass nichts und niemand den Tod des Fürsten verhinderte.

    Geduckt schlichen sie durch die Gänge und mieden den Schein der Fackeln, um keine verräterischen Schatten zu werfen. Sie wussten von jeder Person, die sich in diesem Moment im Palast aufhielt. In diesem Teil des Gebäudes sollte sich nur der Fürst aufhalten, aber es konnte immer etwas Unvorhergesehenes passieren.

    Wie Schatten schlüpften sie in das Schlafgemach hinein und versammelten sich um den ruhenden Körper. Fürst Oda war von jeher ein stattlicher Mann, doch in letzter Zeit genoss er das leibliche Wohl in vollen Zügen, ohne noch Grenzen zu kennen. Er aß und trank unmäßig, hielt sich gleich mehrere Konkubinen und vergriff sich an den Schülern seiner Samurai, ohne deren offizielles Liebesverhältnis, das Wakashudô, zu beachten. In dieser Nacht jedoch befand er sich allein in seinen Gemächern.

    Die Samurai nahmen lautlos Aufstellung um das Bett herum. Als der Fürst die Augen aufschlug, zogen sie ihre Schwerter und begannen auf den Körper einzuschlagen. Es war ein brutales Schlachten, eines Samurais unwürdig, aber in ihnen allen hatten sich Hass, Wut und Angst bis zu einem unerträglichen Maß aufgestaut. Schließlich ließen sie ihre Waffen sinken. Ihre Klingen, ihre Kleidung und ihre Gesichter trieften vor Blut. Schweratmend betrachteten sie ihr Werk: die klaffenden Wunden, die kaum noch erkennen ließen, um wen es sich bei diesem Körper gehandelt hatte. Der Geruch des Blutes stieg ihnen in die Nase. Monate der Vorbereitung und dann hatte es nur wenige Sekunden gedauert. Hiroyuki verspürte den Drang, vor Erleichterung laut aufzulachen.

    »Das war leicht«, sagte er und blickte auf die toten Überreste hinab. Sein Vater drehte sich zu ihm, hob sein Schwert und trennte Hiroyuki den Kopf vom Rumpf.

    Noch bevor der Leib zu Boden sank, ging Ôishi in einer fließenden Bewegung in die Knie, während er gleichzeitig sein Katana waagrecht durch die Luft führte. Ein Ruck ging durch Kimura, und der Stoff über seiner Körpermitte färbte sich rot. Der junge Samurai brach in die Knie, während Ôishi sich erhob und seine Klinge auf den ungeschützten Nacken des Mitverschwörers herabsausen ließ.

    Asano und Kô waren schockiert über diesen überraschenden Angriff, vergaßen darüber allerdings ihre Fähigkeiten nicht. Sie parierten die Attacken des alten Mannes, der gerade seinen Sohn und ihren Freund getötet hatte, und gingen zum Gegenangriff über.

    Asano trennte dem älteren Mann den Unterarm ab, der zusammen mit Hand und Schwert zu Boden fiel. Ôishi taumelte zurück und zog mit der verbliebenen Hand ein Messer. Kô machte einen Sprungschritt vorwärts und trieb dem Verräter sein Schwert durch den Leib. Ôishi sackte in sich zusammen, während das Blut aus beiden Wunden sprudelte. In einer knienden Position und mit gesenktem Kopf hockte er auf dem Boden, während sich die Blutlache unter seinem Körper weiter ausbreitete. Die geköpfte Leiche seines Sohnes lag nur wenige Schritte von ihm entfernt.

    Asano und Kô zogen sich von dem Mann zurück, blieben aber wachsam, weil sie damit rechneten, dass er einen weiteren Angriff versuchen könnte. Ôishi war schwer verletzt, aber noch nicht völlig kampfunfähig. Er presste den Armstumpf gegen seinen Rumpf und blickte sich verwirrt um, als wisse er überhaupt nicht, wie ihm geschehe. Als sein Blick auf den abgeschlagenen Kopf seines Sohnes fiel, stieß er einen lauten gequälten Schrei aus. Auf seinen Knien rutschte er durch das eigene Blut auf Hiroyukis Leiche zu, doch sein Gewand brachte ihn zu Fall, und er landete der Länge nach auf dem Boden. Klagend und wimmernd robbte Ôishi noch ein paar Schritte weiter und blieb liegen. Das Blut pulsierte weiter aus seiner Bauchwunde heraus, so starb er nur wenige Handbreit von der Leiche seines Sohnes entfernt. Asano und Kô vollführten noto, das rituelle Zurückstecken des Schwertes in die Scheide.

    Alarmiert von den Schreien betraten nun auch die übrigen Samurai die Gemächer.

    »Was geht hier vor?«, zischte Hyoto beim Eintreten ärgerlich. An seiner Seite erschien der junge Jun, sein momentaner Schüler. Von der anderen Seite betraten Samu und Mishima die Gemächer. Alle Samurai in dem Raum waren ehemalige Schüler von Hyoto und wären ihm überall hin gefolgt. Als sie das Blutbad in der Raummitte erblickten, schwiegen sie entsetzt. Sie alle hatten schon schlimmer zugerichtete Leichen erblickt, aber das waren Feinde gewesen. Kein Vater, der seinen eigenen Sohn tötete, noch dazu einen Sohn, den er abgöttisch liebte. Ôishis Tat ergab nicht den geringsten Sinn.

    Zusammen mit Asano und Kô standen sie im Kreis um den Toten herum und wussten nicht, was sie tun sollten. Die sechs Samurai waren ratlos und konnten das Verhalten ihres Gefährten nicht begreifen.

    Der Körper des jungen Jun straffte sich, und er begann zu sprechen. »Sieh an, meine tapferen Samurai erheben sich gegen ihren Herrn. Ihr begeht Verrat und beschmutzt eure Ehre.« Die Stimme klang amüsiert und gleichzeitig verächtlich, weil er nicht an die Dinge glaubte, von denen er da redete.

    Die Samurai wichen erschrocken zurück und hoben ihre Schwerter.

    »Zauberei«, entfuhr es Asano.

    »Das ist Oda«, hauchte Kô. »Das ist unser Herr.«

    Ohne Zögern schlug Hyoto mit seinem Schwert zu und trennte Juns Kopf vom Rumpf. »Es endet hier«, sagte der Samurai, trat wieder zurück und schob sein Schwert in die Scheide zurück.

    »Glaubst du das wirklich?«, fragte Mishima kichernd, riss sein Schwert in die Höhe und schlug es seitwärts in die Kehle seines Freundes Samu, der neben ihm stand. Sofort floss unterhalb der Klinge ein Sturzbach aus Blut über die Kleidung des Mannes. Ein zweiter Schnitt öffnete Samus Beinarterie. Weiteres Blut bedeckte den Boden, und sie mussten fortan noch mehr auf ihren Stand achten.

    Wieder reagierte Hyoto als Erster. Er zog erneut seine Klinge und führte einen Schlag von oben rechts gegen den besessenen Mishima. Der Hieb glitt durch Haut, Knochen und innere Organe und spaltete ihn vom Schlüsselbein bis zum Bauchnabel. Sein ehemaliger Schüler verdrehte die Augen nach oben, und seine Hand löste sich vom Schwertgriff. Es gab wohl nichts Schlimmeres für einen Lehrer, als seinen eigenen Schüler töten zu müssen. Besonders im Fall von Mishima, der immer sein besonderer Günstling gewesen war. Hyoto hatte ihn von frühester Kindheit an trainiert, lange Zeit das Lager mit ihm geteilt und den jungen Mann stets als seinen Nachfolger betrachtet. Trotz all dieser Zuneigung hatte Hyoto im entscheidenden Moment sofort reagiert. Etwas in seinem Inneren sagte ihm, dass die Person, die er tötete, nicht mehr sein Schüler war. Heißes Blut spritzte ihm ins Gesicht. Nicht zum ersten Mal in seinem Leben, aber dieses gehörte einem Freund, der von seiner Hand sterben musste. Hyoto stand abwartend, mit angewinkelter Hüfte, und versuchte, die Lage zu begreifen. Seine übrigen Schüler sahen ihn erschüttert an. Asano war der erste unter ihnen, der seine Stimme wiederfand. »Ist es nun vorbei, Meister?«

    Es dauerte einen Moment, bis ihr ehemaliger Lehrer antwortete. »Es ist niemals vorbei«, knurrte Hyoto. »Ich fange gerade erst an.« Es folgte ein gerader Stoß mit angewinkeltem Ellenbogen, mit dem er die drei verbliebenen Samurai attackierte.

    Asano und Kô wichen zurück. Ihnen dämmerte die Wahrheit, auch wenn sie keine Erklärung dafür besaßen. Die Samurai wussten nicht, wie das möglich sein sollte, was sich gerade in diesem Raum abspielte. Sie kämpften nicht gegen einen einzelnen Mann, sondern mussten sich in diesen Raum gegen einen wechselnden Gegner verteidigen. Jeder ausgeschaltete Angreifer wurde durch einen anderen ersetzt. Sie konnten einander nicht mehr vertrauen und niemandem den Rücken zukehren. Jeder konnte sich im nächsten Moment in einen Angreifer verwandeln.

    Mit einem wilden Kampfschrei und erhobenen Schwertern stürmten die beiden Samurai auf ihren ehemaligen Lehrer zu.

    ***

    Die Flammen griffen in den Gemächern des Fürsten immer schneller um sich und fraßen die Papierwände in rasender Geschwindigkeit. Zwischen den Ziegeln züngelten die ersten Flammen empor. Das Dach würde dem Feuer nicht lange widerstehen können und einstürzen. Damit wären alle Beweise ihrer Tat vernichtet. Die Bewohner des Palastes eilten herbei, um das Feuer zu löschen, und auch die Leibwache bezog wieder ihren Posten. In dem allgemeinen Durcheinander taumelten zwei Gestalten aus dem brennenden Gebäude und stützten sich dabei gegenseitig.

    »Haben wir es besiegt?«, fragte Asano.

    Kô musste husten, bevor er antworten konnte. »Entweder das, oder wir tragen es gerade aus dem Palast heraus.«

    Kaum war ihnen beiden der Inhalt dieser Worte bewusst, sprangen sie auseinander und legten die Hände auf die Griffe ihrer Schwerter. Neun Samurai hatten den Palast betreten, nur zwei waren wieder herausgekommen, und einer von ihnen war vielleicht nicht mehr derselbe wie zuvor. Ihr Feind hatte sie sich gegenseitig ausschalten lassen und nun spazierte er möglicherweise im Körper des letzten Überlebenden hinaus.

    »Ich weiß, dass ich es nicht bin, also musst du es sein«, stieß Asano hervor.

    »Ich bin immer noch Kô, also haben wir das Wesen vielleicht besiegt«, antwortete Kô.

    Sein Freund schloss die Hände fester um den Griff seines Schwertes. »Das würde dieses Wesen sagen, um mich in Sicherheit zu wiegen.«

    »Was sollen wir nun tun? Warten, bis der erste von uns müde wird, damit der andere ihn erschlagen kann? Ich weiß, dass ich diesen Geist nicht beherberge, aber ich kann dich nicht gehen lassen, damit du es in die Welt hinausträgst.«

    Asano nickte entschlossen. »Dann müssen wir es hier und jetzt beenden!«

    Kapitel 2

    Berlin 1903

    »Der große Schriftsteller und Gelehrte Heinrich Probst in meinem bescheidenen Haus, was verschafft mir die Ehre?«, dröhnte der rotgesichtige Wirt mit einer Stimme, die sicher-stellte, dass sich auch der Kopf des letzten Gastes zur Eingangstür drehte, wo der einzige prominente Stammgast stand, den diese Spelunke jemals haben würde.

    Probst marschierte schnurstracks durch den Raum zur Theke und hielt dabei vier Finger in die Höhe. Der Wirt baute grinsend die gleiche Anzahl Gläser vor sich auf und füllte sie. Der gewohnte Beginn einer langen Nacht. Probst leckte sich gierig über die Lippen und im nächsten Moment zerbrachen alle idealistischen Vorstellungen, die man von ihm haben konnte. Er griff das erste Glas mit beiden Händen, setzte es an und trank in heftigen Zügen, bis sich kein Tropfen mehr darin befand. Probsts Kleidung war alt und abgetragen, sie schlotterte an seinem ausgezehrten Leib. Die Sucht und die fehlende feste Nahrung hatte alle seine Fettreserven aufgebraucht. Die dunklen Augenringe sahen erschreckend, aber gleichzeitig auch lächerlich aus, weil sie wirkten, als habe man ihm, während er seinen Rausch ausschlief, mit Kohle eine Brille aufgemalt. Bei dem, was der Alkohol mit seinem Körper anstellte, wollte man gar nicht wissen, wie es noch um seinen Verstand bestellt war. Die grauseligen Schauergeschichten, die er verfasste, konnten jedenfalls nicht einem gesunden Geist entspringen.

    Eine Stimme fragte ihn scheinbar von weit her: »Gibt es etwas zu feiern, Heinrich?«

    Probst hob langsam den Kopf und sah den Mann neben sich. Ein bulliger Kerl mit einem üppigen Schnauzer, der streitlustig, aber nicht betrunken wirkte. Er war zu gut gekleidet für diese Art von Absteige, die von Arbeitern besucht wurde, um Geld zu vertrinken, das sie nicht entbehren konnten. Dieser Mann jedoch konnte sich seine Getränke leisten und ganz sicher war er nicht zum Trinken hier.

    »Kennen wir uns, Herr …?«, fragte Probst mit schwerer Zunge und wenig Interesse.

    »Traut. Emil Traut. Und nein, wir kennen uns noch nicht.« Traut klang nicht so, als wolle er diesen Umstand freiwillig ändern. Ganz offensichtlich mochte er nicht, was er sah.

    »Habe ich Ihnen etwas getan, Herr Traut? Ich erinnere mich nicht mehr daran, möchte mich aber dafür entschuldigen. Wie sie vielleicht bemerkt haben, trinke ich manchmal etwas zu viel.«

    Traut blickte zum Wirt, der eine höhnische Miene aufsetzte. Offenbar schätzte er die Häufigkeit anders ein als der Schriftsteller.

    »Und manchmal gerate ich in Streit mit anderen Gästen«, fuhr Probst unbeirrt fort. »Meist geht es dabei um Nichtigkeiten, aber ich neige dazu, in solchen Situationen etwas ausfällig zu werden.«

    Der Wirt nickte zustimmend und verzog dabei den Mund, als habe der Satz viele schlechte Erinnerungen geweckt.

    »Falls dies also der Fall sein sollte, tut es mir leid.«

    »Ich habe Sie schon in Aktion erlebt, Probst, deshalb dachte ich, ich wüsste, was mich erwartet. Aber offenbar bin ich Ihnen noch nie in nüchternem Zustand begegnet. Ich konnte ja nicht ahnen, dass der Unterschied so groß sein würde.«

    Probst griff zum zweiten Glas. »Warten Sie noch einen Moment, dann komme ich Ihnen wieder vertrauter vor.«

    »Ich verzichte. Ehrlich gesagt, hätte ich Sie gerne noch etwas länger bei klarem Verstand.«

    »In dem Fall gehen unsere Wünsche weit auseinander.« Probst trank das zweite Glas genauso gierig aus wie das erste, stellte es wieder auf die Theke und wedelte eine Tabakwolke von seinem Gesicht weg. Man musste hier schnell trinken. Bald würden die Anwesenden die Kellerbar dermaßen zugequalmt haben, dass es unmöglich wäre, das eigene Glas auf der Theke wiederzufinden. Probst rauchte nicht, aber er bekam an solchen Abenden sein Quantum ab.

    Emil Traut nahm seinen Hut ab und stellte ihn auf das vierte Glas. Die Geste wirkte wie eine Kampfansage, aber Probst wusste nicht, wie er sie deuten sollte. Er geriet öfter mal in Streit mit einem anderen Gast, weil er diesen beleidigt hatte oder dem Gast ein Buch von Probst nicht gefiel. Manche wollten sich auch nur damit brüsten, einen berühmten Schriftsteller verprügelt zu haben, obwohl das in den meisten Fällen keine besonders herausragende Leistung darstellte.

    Traut lehnte er sich zu dem Schriftsteller herüber und zwinkerte ihm ohne jedes Vergnügen zu. »Sind Sie stolz auf Ihre kleinen Geschichten, die uns unfähig und lächerlich aussehen lassen?«

    Probst kniff ein Auge zu, um deutlicher sehen zu können. »Uns?«, fragte er mit schwerer Zunge.

    Im nächsten Moment knallte Traut sein Abzeichen auf den Tresen. »Ja, uns. Die Polizei von Berlin.«

    Probst leerte das dritte Glas in einem Zug und stellte es behutsam auf der Theke ab. »Was kann ich für Sie tun?«

    ***

    In dem Raum herrschte ein Grauen, wie Probst es außerhalb einer Schlachterei noch nicht gesehen hatte. Er schloss die Augen, bevor sich das Bild in sein Gedächtnis einbrennen konnte und versuchte gar nicht erst, das Gesehene in Worte zu fassen. Bis auf dieses eine Wort, das sich einfach nicht aus seinem Bewusstsein drängen ließ: Rot. Ein Grauen, das einen unvorbereiteten Verstand unweigerlich in den Wahnsinn getrieben hätte. Zwei Männer, ein junger und ein sehr alter, lagen nackt nebeneinander. Ihre Körper waren auf jede erdenkliche Art zerstört. Probst versuchte sich auszumalen, wie ein Wesen beschaffen sein musste, das solche Wunden verursachen konnte.

    »Geht es wieder?«, erkundigte sich Kommissar Emil Traut und reichte Probst ein Taschentuch, damit er sich das Erbrochene aus dem Bart wischen konnte. »Eine ganz schöne Sauerei, was, Heinrich?«

    Probst rätselte, was der Kommissar mit dieser vertraulichen Anrede bezweckte. Wollte er ihn verunsichern oder einfach nur ärgern? Wollte er ihm durch den mangelnden Respekt zeigen, wie tief der Schriftsteller in seinen Augen gesunken war? Nun, Probst wusste selbst nur zu gut, wie es um ihn stand.

    »Ihre Fantasie ist offensichtlich härter als Ihr Magen«, stellte Traut fest und erntete Gelächter von den umstehenden Polizisten.

    »Wollen Sie wirklich meine Hilfe, Herr Kommissar, oder geht es Ihnen nur darum, mich hier zu demütigen?«

    Traut wurde sofort ernst. »Ihre Meinung interessiert mich tatsächlich.«

    »Dann hätten Sie mich zu einem geeigneteren Zeitpunkt rufen sollen. Nach einer Tasse starken Kaffees zum Beispiel.«

    »Angeblich ist es gar nicht so einfach, Sie nüchtern anzutreffen«, rief ein Polizist, der dem Klang seiner Stimme nach noch sehr jung war.

    Probst machte sich nicht einmal die Mühe, sich nach dem Zwischenrufer umzudrehen. Gewiss ließ er sich gerade für seine Dreistigkeit lobend auf die Schultern klopfen.

    »Was hätte der Meisterdetektiv aus Ihren Romanen an unserer Stelle getan?«, fragte Traut.

    »Wenn Sie meine Geschichten kennen, wissen Sie, dass ich mich der Methode der Deduktion bediene. Ich schlussfolgere aus den vorgegebenen Prämissen auf die logisch zwingende Konsequenz.«

    »Sie schließen alles aus, bis nur noch die eine, richtige Möglichkeit übrigbleibt, so versteh’ ich das.«

    »Nun, Herr Kommissar, das habe ich auch in diesem Fall getan, und die Schlussfolgerung, die ich nach Abwägung aller Fakten ziehen muss …«

    »Rücken Sie schon raus mit der Sprache!«, platzte Traut heraus, um die lange Vorrede abzukürzen.

    »Der Mörder ist kein Mensch.«

    »Was denn?« Traut legte den Kopf schief. »Ein Affe, oder was?«

    Probst wand sich. »Nein, Herr Kommissar, Sie verstehen nicht, was ich meine.«

    Der Schriftsteller begann, anhand der Wunden und der Blutspritzer an den Wänden zu erklären, was seiner Meinung nach in dem Raum geschehen war. Traut kratzte sich nachdenklich am Kinn. Während er zuhörte, betrachtete er erst Probst, dann das Zimmer hinter ihm und schließlich wieder den Schriftsteller.

    »Ich weiß, Herr Kommissar, das klingt …«

    Traut brachte ihn mit einer Handbewegung zum Verstummen und packte einen jungen Wachtmeister am Arm. »Schaffen Sie diesen verrückten Säufer von meinem Tatort, sonst vergesse ich mich!«

    ***

    Die Versuchung war groß, sich beim Wirt seines Vertrauens Hilfe zum Vergessen zu beschaffen, doch Heinrich Probst entschied sich dagegen. Er hatte seinen Mantel gegen die eisige Kälte zugeknöpft, während er darauf wartete, dass die Polizei den Tatort räumte. Eine verlassene Villa aufzusuchen, die Schauplatz zweier grausamer Morde geworden war, zeugte für ihn nicht von einem wachen Verstand. Doch die Neugier machte es ihm schier unmöglich, bis zum nächsten Tag zu warten. Probst überlegte, ob er Traut benachrichtigen sollte, doch er beschloss, damit zu warten, bis er unwiderlegbare Beweise vorlegen konnte. Der Kommissar hatte seine erste Theorie nicht besonders gut aufgenommen, und er war nicht überrascht, dass Traut zweifelte. Obwohl Probst schon Geschichten über Spukgestalten geschrieben hatte, gehörte die Welt des Übersinnlichen immer noch ins Reich der Fantasie. Er hatte über okkulte Zirkel in der Stadt gelesen, ohne sie als Bedrohung zu empfinden. Es waren durchweg gelangweilte Vertreter der Oberschicht auf der Suche nach Nervenkitzel und Tabubruch – herumtollende Kinder verglichen mit den Verursachern der Gräueltaten, die Traut ihm präsentiert hatte.

    Probst brauche nicht allzu lange zu warten. Gegen drei Uhr morgens fuhr der letzte Wagen davon. Leise schob er das Tor auf und spazierte den Weg zum Anwesen entlang. Die Villa wirkte wesentlich bedrohlicher als bei seinem ersten Besuch.

    ***

    »Probst ist verschwunden, Herr Kommissar«, meldete der Wachtmeister.

    Emil Traut sah

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