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Kaiserkrieger 8: Stürmische Himmel
Kaiserkrieger 8: Stürmische Himmel
Kaiserkrieger 8: Stürmische Himmel
eBook390 Seiten5 Stunden

Kaiserkrieger 8: Stürmische Himmel

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Über dieses E-Book

Stürmische Zeiten brechen an. Die Götterboten etablieren ihre Herrschaft über Mutal, die Metropole der Maya, und setzen ihren Feldzug gegen die angrenzenden Städte fort. Angst und Widerstandsgeist werden geweckt und pflanzen einen neuen Geist der Kooperation in die Köpfe der Mayakönige, die sich nicht kampflos ergeben wollen. Doch auch innerhalb der Gruppe der Gestrandeten wird der Kurs des Kapitäns mehr und mehr hinterfragt. Als schließlich eine römische Expedition aus dem fernen Europa anlandet und ein Botschafter aus Teotihuacán sich für die Entwicklungen interessiert, droht das jahrhundertealte Machtgleichgewicht Mittelamerikas endgültig aus den Fugen zu geraten.
SpracheDeutsch
HerausgeberAtlantis Verlag
Erscheinungsdatum30. Dez. 2022
ISBN9783864022449
Kaiserkrieger 8: Stürmische Himmel

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    Buchvorschau

    Kaiserkrieger 8 - Dirk van den Boom

    1

    Aritomos rechte Hand zitterte. Sie war klebrig von Blut und stank. Er musste sich anstrengen, das Messer nicht fallen zu lassen. Der Mann vor ihm gurgelte. Das Blut ergoss sich in einem weiteren Stoß aus der aufgeschnittenen Halsschlagader, der metallische Geruch wirkte betäubend. Der Mann zuckte noch einmal zusammen, seine Beine schlugen auf den Boden, die Fersen schabten durch den staubigen Boden, dann lag er still.

    Aritomo ließ die rechte Hand sinken. Erneut war eine bewusste Entscheidung notwendig, den glitschigen Griff des Messers nicht aus der Hand gleiten zu lassen. Der Tote vor ihm hatte einen verzerrten Gesichtsausdruck, der sich nur langsam zu entspannen begann.

    Schritte von draußen. Dann stand ein weiterer Mann im Türeingang. Er griff nicht an, überfiel keine Schlafenden im Dunkel der Nacht, versuchte nicht, ihn mit einem an eine Garotte erinnernden Mordinstrument umzubringen. Eine der Wachen. Einer der Guten. Aritomo spürte die Erleichterung, wie sie durch seinen Körper floss und das Messer aus seiner Hand wusch. Es fiel zu Boden und die Blicke beider Männer lagen für einen Moment auf Waffe wie Leiche.

    »Zeitenwanderer Aritomo!«

    »Hier«, sagte dieser mit schwacher Stimme und machte einen Schritt zurück in Richtung seiner Schlafstatt, von der er eben so brutal geweckt worden war. Er fühlte sich nicht gut. Gar nicht gut.

    »Seid Ihr unverletzt?«

    Unwillkürlich griff sich der Japaner an den Hals, fuhr die dünne Schürfwunde entlang. Er war verletzt, aber es würde heilen. Seine schnelle Reaktion hatte ihn vor Schlimmerem bewahrt. Der Tod musste warten, zumindest heute Nacht. Der war ihm allerdings sehr, sehr nahe gekommen und dessen kalter Atem ließ ihn trotz der warmen Nacht am ganzen Leibe erzittern.

    »Es geht. Gibt es noch mehr?«

    »Er war der Einzige.«

    Der Mayakrieger stand abwartend im Raum, schaute erneut auf den Toten hinab, dessen Umrisse man im Schein der Fackel, die der Wachsoldat in die Luft hielt, gut ausmachen konnte.

    »Ich kenne diesen Mann. Er ist ein Diener des Xicoc, eines Mannes, der zum Hof gehört. Der König muss davon erfahren!«

    Es war eine Feststellung, ohne größere Emotion. Als ob er nichts anderes erwartet hätte. Aritomo schaute auf seine rechte Hand, besudelt, und bewegte die Finger, als müsse er herausfinden, ob diese sich trotz des langsam trocknenden Lebenssaftes noch bewegen ließen.

    »Ja«, sagte Aritomo leise. »Aber er soll fortgebracht werden.«

    »Ich sorge dafür. Herr …«

    »Was?«

    Aritomos Antwort war unwilliger ausgefallen als erwartet, doch der Krieger schien ihm das nicht übel zu nehmen.

    »Der Wachmann vor dem Haus … Euer Gefährte … er ist tot.«

    Aritomo holte tief Luft. Er hatte es befürchtet. Anders war dieser Vorfall hier nicht erklärlich. Er wollte es sich nicht ansehen, aber er musste.

    »Zeig es mir.«

    Der Krieger ging voran. Aritomo stieg über die Leiche, fühlte, wie seine nackten Füße vom Blut benetzt wurden, und er folgte nach draußen. Das Haus war den Zeitreisenden zur Verfügung gestellt worden, damit sie endlich der Enge des Bootes entfliehen konnten. Sie hatten selbst die Bewachung organisiert, doch offenbar nicht damit gerechnet, hier, auf freundlichem Boden, bereits eine Woche nach ihrem Umzug angegriffen zu werden.

    Hybris war das richtige Wort dafür. Wie immer fand diese schnell ihre Strafe.

    Aritomo stand schließlich vor dem Toten und widerstreitende Gefühle erfassten ihn. Natürlich kannte er den Mann beim Namen, ein Matrose namens Kato, ein einfacher, ein gehorsamer Soldat. Sein Hals zeigte tiefe Wunden, wo die Garotte ihn überwältigt hatte, die Zunge hing ihm aus dem Mund und die Augen hatte er weit aufgerissen. Aritomo beugte sich hinab und schloss die Augenlider. Sie waren so wenige, so entsetzlich wenige. Jedes tote Besatzungsmitglied stellte einen unersetzlichen Verlust dar.

    Aritomo fühlte sich aber auch unfair behandelt. Eine absurde, nahezu alberne Regung, aber ja: Hier in Mutal waren sie doch die geehrten Gäste, die die Stadt vor ihren Feinden bewahrt hatten und ihre Macht zu einem nicht gekannten Zenit vergrößern würden. Und hier schlich sich ein Attentäter ein, ausgerechnet um ihn, Aritomo, ganz gezielt umzubringen. Den Mann, der beständig versuchte, auf Kapitän Inugami ausgleichend einzuwirken, den Mann, der die Maya nicht nur als Verfügungsmasse, als primitive Wilde wahrnahm, sondern als eine Zivilisation, mit der sie sich arrangieren mussten, wollten sie nicht sehr bald im Mahlstrom der Geschichte untergehen.

    Aritomo war der Gute. Er hätte sich über ein Attentat auf Inugami nicht gewundert.

    Aber er. Warum er? Das war definitiv nicht fair.

    Es zeigte ihm aber auch, dass es einen wesentlichen Unterschied in der Art gab, wie er sich selbst sah und wie er von außen gesehen wurde. Für diesen Mann hier war er nur einer der Götterboten, die alles aus dem Gleichgewicht brachten und die althergebrachte Ordnung und Tradition infrage stellten. Eine gefährliche Vorgehensweise, würde sie doch unweigerlich den Zorn der Götter auf sie hinabrufen, Götter, an die deren Boten nicht so recht zu glauben schienen.

    Aritomo hatte es nicht gemerkt. Nichts hatte er geahnt. Sorglos war er gewesen, dumm, naiv, verblendet, und damit von einer gefährlichen Nachlässigkeit, eines Offiziers der kaiserlichen japanischen Flotte unwürdig.

    Es musste einen Stimmungsumschwung gegeben haben, irgendwo unter der Oberfläche von unterwürfiger Freundlichkeit, dem beständigen Respekt, der eilfertigen Art, die Wünsche der Götterboten zu erfüllen. Jemandem musste es zu viel geworden sein. Aritomo wusste, dass dies beim König von Mutal, dem jungen Chitam, der Fall war. Aber würde er jemanden anstiften, ausgerechnet ihn, den Ersten Offizier des Bootes, umzubringen – und damit die Stimme der Vernunft, die Inugami bisher immer noch von Entscheidungen hatte abhalten können, die zum Nachteil der Maya waren?

    Nein, das ergab absolut keinen Sinn. Jemand anders musste die Initiative ergriffen haben, ein Traditionalist, der Chitam für nicht mehr als die Marionette ansah, die Inugami in der Tat aus ihm zu machen gedachte. Jemand, der nicht unterschied, sondern in allen Götterboten gleichermaßen die Bedrohung sah. So musste es sein.

    Weitere Besatzungsmitglieder des Bootes waren nun erwacht, kamen ins Freie, rieben sich die Augen, fragten erst laut, verstummten dann, als sie die Leiche ihres Kameraden erblickten und den Ersten Offizier, wie er sich über sie beugte und ins Leere starrte. Auch die Mayakrieger hatten sich eingefunden, etwas abseits, in einer eigenen Gruppe, und sie sahen schuldbewusst drein. Wie auch immer es dem Attentäter gelungen war, so nahe an die Unterkünfte der Götterboten heranzukommen, es war doch ziemlich wahrscheinlich, dass dieser Hilfe dabei erhalten hatte.

    Hilfe von einer der Wachen.

    Aritomo sah auf, schaute die Mayakrieger an und spürte, wie Misstrauen und Furcht sich in ihm ausbreiteten. Er wusste, was für einen Weg er einschlagen würde, gab er diesen Gefühlen allzu freien Raum. Es war der Weg, der ihn fest an die Seite Inugamis führen würde, nur nicht getrieben von Allmachtfantasien und Größenwahn, sondern von beständiger Angst, dem Bedürfnis nach Sicherheit und der fälschlichen Annahme, dass immer mehr Macht das Gleiche wie Sicherheit bedeuten würde.

    Das war eine Illusion, dessen war sich Aritomo sicher. Hier, in dieser Zeit, in all ihrer scheinbaren Überlegenheit, hatte sich dies gerade wirkungsvoll unter Beweis gestellt.

    »Herr, wir haben einen Boten zum König entsandt«, fasste sich nun einer der Maya ein Herz und sprach ihn an. Aritomo nickte. »Das ist gut«, sagte er leise. Er winkte zwei weiteren seiner Matrosen, wies auf den toten Körper vor ihnen.

    »Nehmt ihn mit. Säubert seinen Leib und richtet ihn für ein Begräbnis her. Ich werde selbst die Zeremonie leiten.«

    Aritomo wusste nicht einmal, ob er dieses Versprechen würde einhalten können. Das war noch so ein Punkt, über den sie sich bisher niemals Gedanken gemacht hatten. Die reichen Maya, Männer und Frauen von Adel und Hohepriester, verschafften sich Ansehen durch elaborierte Grabmäler bis hin zu ganzen Tempelgebäuden für die Könige. Einfache Maya mussten sich mit simplen Bestattungen zufriedengeben, nicht für die Ewigkeit, vergessen und verloren, sobald ihre nächsten Angehörigen auch den Tod gefunden hatten.

    Doch welche Vorkehrungen sollte man für tote Götterboten treffen?

    Aritomo würde sich nun mit dieser Frage befassen müssen. Er ging davon aus, dass sie ihre eigenen Leute so begraben würden, wie sie es von zu Hause aus gewohnt waren. Alles andere erschien ihm derzeit absurd. Ein schwieriges Thema, aber eines, das nun plötzlich auf der Tagesordnung stand.

    Und das viel früher, als es ihm lieb gewesen wäre.

    »Wir müssen die Sicherheitsvorkehrungen verstärken«, sagte eine Stimme neben ihm, die er gut kannte. Es war der Brite Lengsley, der nun erschienen war, auf die Männer schaute, die die Leiche des Soldaten abtransportierten, und sich dann lauernd umsah, als würde er jeden Augenblick einen erneuten Angriff befürchten.

    »Wir könnten ins Boot zurückkehren, da wird uns keiner angreifen.«

    Aritomo sagte es, glaubte es aber nicht.

    »Das stimmt. Es hält dort aber auch keiner mehr aus. Die Männer waren überglücklich, als sie endlich Unterkünfte außerhalb beziehen durften. Wir hätten nur dieses Haus nicht akzeptieren sollen, ohne uns genau mit allen Fragen der Sicherheit zu befassen. Es wurmt mich, Inugami recht zu geben, aber wir sollten unser Lager in die Anlage der Kriegersklaven verlegen. Sobald diese zurück sind, bieten sie uns einen guten Schutz, besseren jedenfalls, als wenn wir inmitten Mutals zur Zielscheibe werden.«

    »Die Sklaven könnten uns erst recht umbringen. Danach wären sie frei«, gab Aritomo leise zu bedenken.

    Lengsley lächelte freudlos.

    »Inugami hat sie im Griff. Wenn sie uns töten, sind sie Sklaven Mutals. Ich bin mir nicht sicher, ob das für die meisten eine Verbesserung darstellen würde.«

    Aritomo sagte nichts, gab dem Briten aber im Stillen recht. Inugami hatte die Armee seiner Janitscharen auf einen Feldzug geführt und sie hatten noch nicht gehört, wie der Angriff ausgegangen war – sie wussten nicht einmal, ob der Kapitän selbst noch lebte. Aritomo wusste, dass Inugami das persönliche Risiko nicht scheuen würde, um sich Respekt zu verschaffen, der über die Angst vor den wenigen Gewehren, Pistolen und der Kanone des Bootes hinausging.

    Eines Bootes, das immer noch völlig unbeweglich auf der Spitze des Grabmals von Chitams Vater festsaß, ein Grabmal, das er nicht einmal nutzen konnte, da erst das Gefährt der Götterboten von dort verschwinden musste. Wann auch immer das möglich sein würde. Falls überhaupt. Es sah nicht danach aus.

    Aritomo beobachtete, wie sich die Lage langsam beruhigte. Einige seiner Kameraden kehrten mit betroffenem Gesicht in ihr Zimmer zurück, andere redeten leise miteinander. An Schlaf war für ihn jetzt nicht mehr zu denken, zu sehr beherrschte die Erregung noch Denken und Atmen. Er musste sich reinigen, umziehen, etwas essen. Ein Becher Chi würde ihm guttun, nachdem die Sakevorräte des Bootes nun aufgebraucht waren. Aritomo wusste, dass Sarukazaki mit einer Destilliermaschine experimentierte, und niemand hielt ihn davon ab, seine freie Zeit auf dieses Projekt zu verwenden. Bisher jedoch, so hörte man, seien die Ergebnisse noch von eher überschaubarer Qualität gewesen.

    Jetzt, in dieser Minute, hätte Aritomo auch zum schlimmsten Fusel aus der Giftküche des Technikers nicht Nein gesagt. Aber es blieb ihm nur der Chi, dessen Alkoholgehalt sehr niedrig war.

    Aritomo wollte nicht Unmengen davon trinken.

    Er wandte sich ab. Bedienstete säuberten sein Zimmer. Der Tote war herausgebracht worden, doch die Spuren des Kampfes waren immer noch unübersehbar. Der Japaner marschierte in den Waschraum, den die Zeitreisenden selbst errichtet hatten, mit einem steinernen Becken, nur grob aus einem Felsen gehauen, und einer einfachen Holzleitung, die Wasser an vier verschiedenen Stellen über dem Becken zur Verfügung stellte. Es gab einen richtigen Abfluss, den man auch verschließen konnte. Theoretisch war das Becken groß genug, um sich darin zu baden, und die Errichtung eines richtigen Badehauses gehörte zu den Plänen, die die Japaner seit ihrem Einzug hier verfolgten. Sie machten es sich richtig gemütlich. Eigene Zimmer, eigene Küche, eigenes Bad, ein Innenhof für sportliche Aktivitäten, eigene Wachen und eigene Attentäter, die ihnen des Nachts nachstellten.

    Aritomo öffnete den Wasserzufluss. Das kühle Nass kam aus einem Tank, täglich dreimal gefüllt durch dienstbare Geister, die das Wasser aus einem nahe gelegenen Reservoir brachten. Er wusch sich das Blut von den Händen, dann reinigte er seine Klinge sorgfältig, die er vom Boden aufgeklaubt hatte und die seltsam schwer zu tragen gewesen war, so als ob der Tod des Attentäters an der Waffe zerrte und sie zusätzlich zu Boden zog.

    Der Stahl war ausgezeichnet und würde nicht schnell rosten, aber es gab für ihn auf absehbare Zeit keinen Ersatz. Das Messer hatte sein Leben gerettet und allein schon deswegen hatte es intensive Pflege verdient.

    Es half ihm auch, seine Gedanken zu sammeln und sich zu beruhigen. Als die Klinge sauber und trocken war, fühlte er sich etwas entspannter als noch vor wenigen Minuten. Auch die Waffe lag nun leichter in seiner Hand, gereinigt vom Geist des Mörders. Er vermisste einen Spiegel, in dem er sein unrasiertes Gesicht betrachten konnte. Die einzigen richtigen Glasspiegel waren als besondere Kostbarkeit im Boot geblieben. Die Maya kannten poliertes Metall, meistens Silber, das die Wohlhabenden als Spiegel benutzten. Es war ein interessanter Gedanke, dass diese viel wertvoller waren als die Exemplare der Japaner, allein schon vom Wert des Materials her. In seinem Zimmer hatte er einen, vor dem er sich rasierte.

    Aritomo ertappte sich bei dem Gedanken an seine wenigen verbliebenen Rasierklingen und was er tun würde, wenn der Vorrat aufgebraucht war. Es war keinesfalls unüblich für einen Marineoffizier, sich einen Bart wachsen zu lassen, der sich dann mit den hiesigen Messern auch leichter stutzen ließ. Würde das sein ewig kindliches Vollmondgesicht männlicher machen?

    Und warum sollte er gerade jetzt unnötige Gedanken daran verschwenden?

    Er beendete seine Toilette. Als er ins Freie trat, war es immer noch dunkel, wenngleich es nicht mehr allzu lange bis zum Sonnenaufgang dauern würde. Sein Kreislauf hatte sich beruhigt und er fühlte, dass er sich eigentlich wieder hinlegen konnte, doch der Gedanke, in sein besudeltes Zimmer zurückzukehren, widerstrebte ihm.

    Er trat auf den Innenhof. Dort waren jetzt nur noch Mayakrieger zu sehen sowie zwei Japaner, beide bewaffnet, die die Wache übernommen hatten. Sie nickten Aritomo nur zu, als dieser abwinkte. Keine Meldung. Es war alles geschehen, was heute Nacht zu geschehen hatte.

    Er setzte sich auf eine Steinbank und schaute in den glasklaren nächtlichen Himmel. Niemand sonst schien seine Ruhelosigkeit zu teilen. Die Geräusche der Nacht waren wieder deutlich zu vernehmen. Bei Tagesanbruch würde sich der König ein Bild von der Situation machen und bereits jetzt, so vermutete Aritomo, würden Krieger den Adligen aufsuchen, dessen Diener der Attentäter gewesen war. Mayagerechtigkeit war manchmal sehr schnell und die Bestrafungen sahen nicht allzu viele Abstufungen vor. Wer nicht sprach, wurde gefoltert, bis er alles zugab, auch das, was er nie getan hatte.

    Der Gedanke daran ließ Aritomo in dieser Nacht kalt.

    2

    Helmut Köhler fühlte, wie die Galle erneut in ihm hochstieg. Er klammerte sich an die Reling, starrte in den tosenden Abgrund der See, spürte, wie sein Magen ihm die Kehle emporkroch, als die Gratianus tief in das Wellental hinabglitt, und dann kam das vertraute Würgen und er öffnete seinen Mund. Heraus kam so gut wie nichts mehr, hatte er seinen Mageninhalt doch bereits vor einer Stunde vollständig Neptun geopfert, doch der heftige, krampfartige Brechreiz wollte nicht nachlassen. Sein verzweifeltes Stöhnen ging im Dröhnen des Sturms unter, und als der Krampf nachließ und er seine Augen wieder öffnete, die er gequält geschlossen hatte, hörte er auf, etwas zu entleeren, was längst leer war.

    Er atmete tief ein, spürte, wie die momentane Schwäche etwas nachließ. Köhler war nicht der Einzige an Bord des Flaggschiffes der Expeditionsflotte, dem es so erging. Dies war der dritte Tag, den sie im Sturm feststeckten, und selbst der erfahrenste Seemann begann, an die Grenzen seiner Belastbarkeit zu kommen. Es gab nur wenig Schlaf, und wenn, war er unruhig, unterbrochen, in heftig schaukelnden Hängematten, die einen gegen den Kameraden oder die Wand und manchmal mit Wucht auf den Boden warfen. Es gab kaum etwas zu essen, und wenn, war es kalt, oft nass, und wer sich krank fühlte, schaffte es ohnehin kaum, etwas Festes zu sich zu nehmen. Köhler hatte gestern Schiffsgebäck in dünnen Wein getunkt und heruntergebracht, eine Stunde später war es denselben Weg in umgekehrter Richtung wieder zurückgegangen.

    Ihrer aller Kräfte ließen nach. Sie waren den Sturm leid. Alle beteten sie um ruhiges Wetter, und sei es nur eine Pause in dem beständigen Toben und Brausen. Das Schiff war in einem besseren Zustand als seine Mannschaft. Die Gratianus jedenfalls zeigte keinerlei Anzeichen, sich den Gewalten nicht gewachsen zu zeigen.

    Köhler sah hoch und blickte auf Navarch Langenhagen, der neben dem Gubernator auf der Brücke stand, festgebunden wie sie alle, denn es passierte oft genug, dass ein Brecher mit großer Macht über die Reling schlug und ein unachtsames Besatzungsmitglied mit sich riss. Schreie, Hilferufe, gingen unter im ohrenbetäubenden Rauschen von Wind und Wellen. Doch die festen, eng gewobenen Seile, die jeder zur Sicherung hatte und die an Führungsschienen neben der Reling entlangglitten, hatten bereits so manches Leben gerettet. Immer noch war es so, dass die meisten Seeleute nicht schwimmen konnten und bewusst nicht lernen wollten, um die Quälerei eines langsamen Todes in der See durch ein möglichst schnelles Ertrinken einzutauschen.

    Köhler konnte schwimmen.

    Und er wollte auch niemals aufgeben.

    Sein Magen gab auch nicht auf. Er spürte, wie sich ein weiterer Krampf bildete. Er richtete sich auf, streckte sein Gesicht in die Gischt, fühlte, wie die kalte Feuchtigkeit gegen seine Haut klatschte und einen eisigen Schauer seinen Körper hinunterfahren ließ. Er war nass bis auf die Knochen, egal, wie fest er den dicken Ledermantel um seinen Körper gebunden hatte. Allein die Wassermassen, die seinen Kragen hinunterflossen, genügten, um ihn vollständig einzuweichen.

    Die Übelkeit in seinem Bauch ließ etwas nach. Er schloss und öffnete die Augen, wischte sich mit der nassen Hand über das nasse Gesicht, was nichts bewirkte außer dem Gefühl, etwas getan zu haben, eine sinnlose Geste, Ausdruck von schwachem Trotz. Dann fühlte er, wie jemand an seinem Arm zog. Magister Aedilius stand neben ihm, der Bordarzt, einer der Absolventen der Medizinischen Akademie von Ravenna, jener Schmiede für Ärzte, die der Arzt der Saarbrücken dereinst ins Leben gerufen hatte und die die besten Mediziner der Welt ausbildete. Aedilius war kein junger Mann mehr, aber von kräftiger Statur und hatte auf vielen Schiffen gedient, bevor er für die Expedition eingeteilt worden war. Sein graubrauner Bart war durchfeuchtet und er trug eine Mütze, die seinen Glatzkopf wie eine zweite Haut umschloss.

    Er sagte nichts. Er hätte schreien müssen, um sich verständlich zu machen. Sein Blick aber drückte Sorge und etwas Mitleid aus. Aedilius hielt Köhler eine Lederflasche hin, mit geschlossener Öffnung, und als er sie nahm, fühlte er eine angenehme Wärme in seiner Hand, Labsal genug, ohne dass er sie entkorken musste. Wärme und Trockenheit. Es gab wenig, was sich Köhler derzeit mehr wünschte.

    Der Medicus nickte ihm auffordernd zu. Köhler wusste, was in der Flasche war: ein perfider Kräutertrunk, von dem alle sagten, dass er das Ekelhafteste sei, was sie jemals getrunken hätten. Köhler hatte genug von Ekel, sodass er den Nachstellungen des Arztes bisher erfolgreich entgangen war. Nun aber hatte Aedilius ihn erwischt.

    Es gab kein Entkommen.

    Er verzog das Gesicht und wollte den Kopf ein letztes Mal schütteln, doch der Arzt sah ihn entschlossen an und hob warnend einen Zeigefinger. Dann machte er eine gießende Handbewegung vor seinem Mund. Aedilius besaß Kommandogewalt in allen Dingen, die die Gesundheit betrafen. Er durfte sogar Langenhagen Befehle geben.

    Also ein Befehl. Köhler war Soldat. Er befolgte Befehle.

    Er hob den Korken, schloss die Augen und nahm einen tiefen Schluck. Besser, es gleich hinter sich zu bringen und einen Tod in Würde zu sterben, mannhaft, ohne Angst.

    Die brennende, faulige Flüssigkeit floss seine Kehle hinab. Er spürte, wie sein Magen fast sofort rebellierte. Er wusste nicht, was schlimmer war: der absolut widerwärtige Geschmack oder das ätzende Gefühl, als sich der Trunk mit seiner in Aufruhr befindlichen Magensäure verband. Er fühlte sofort, wie der Würgereiz begann, und setzte die Flasche ab, bereit, alles unmittelbar wieder …

    Aber nichts geschah.

    Köhler riss die Augen auf und lauschte in sich hinein. Eine seltsame, betäubende Wärme hatte sich auf seinen geschundenen Magen gelegt und der Brechreiz war nur noch ein lauerndes Gefühl irgendwo darunter, zugedeckt und alles andere als akut.

    Es ging ihm beinahe … gut.

    Aedilius sah ihn wissend an, lächelte, machte eine erneute, gießende Bewegung.

    Köhler zögerte kein zweites Mal.

    Er war ein Narr gewesen.

    Er setzte die Flasche an und nahm bewusst einen tiefen Schluck. Es war immer noch ein unsägliches Gebräu, aber nun trank er es ohne Angst und böse Erwartungen. Es machte die Sache leichter. Das wärmende, betäubende Gefühl in seinem Bauch wurde verstärkt und es drängte den Brechreiz zurück, bis dieser beinahe nicht mehr wahrnehmbar war.

    Er gab dem Arzt die Flasche zurück. Köhler konnte nicht ermessen, ob sein Gesichtsausdruck auf ausreichende Weise die Dankbarkeit kommunizierte, die er empfand, aber es schien, als sei die Nachricht angekommen. Aedilius nickte ihm zu, schenkte ihm ein Lächeln und wandte sich um. Einige Meter weiter stand ein Bootsmann und reiherte in hohem Bogen eine nicht einmal andeutungsweise verdaute Mahlzeit in die Wellen. Der Wind war unberechenbar. Mit stoischer Gelassenheit wischte sich Köhler ein zerkautes Bröckchen vom Ärmel. Sekunden später hatte ihn die Gischt vollständig gereinigt.

    Aedilius lief auf den Bootsmann zu und präsentierte ihm die Flasche. Dem Gesichtsausdruck des Seekranken zufolge war auch dieser Kandidat bisher eher zurückhaltend gewesen, was das Gebräu des Arztes anging. Ein Fehler, wie Köhler nun einzuräumen bereit war. Er betrachtete mit Freude, dass der Bootsmann sich dem Fordern des Arztes unterwarf und kurz darauf der gleiche angenehm berührte Gesichtsausdruck auf seinen Zügen zu sehen war, den Köhler gerade gezeigt haben musste. Fast hastig nahm der Mann einen zweiten Schluck.

    Köhler aber kehrte nun an seinen Platz neben dem Navarchen zurück. Ein weiterer hoher Offizier, Adrianus Sextus Cabo, stand auf dem Vorderdeck und gab dort die nötigen Befehle. Der nachtschwarze Himmel und die immer wieder über die Reling brausende Gischt machten es fast unmöglich, von hier zu erkennen, was sich im vorderen Teil des Schiffes abspielte. Es war später Nachmittag, aber die Sonne war nur ein schwach glimmender Schein hinter den dichten Wolkenbänken, die ein mächtiger Wind über den Himmel schob. Es gab nicht viel zu befehlen – die Segel waren fast alle gerefft worden, nur ein kleines Sturmsegel hing am Vordermast. Die Steuerung der Schiffe war vor allem deswegen möglich, weil die Dampfmaschine unter voller Leistung lief und damit dem Schiff genug Vortrieb gab, um mit dem Ruder tatsächlich Einfluss auf den Kurs des Schiffes auszuüben. Der Gubernator war ein muskulöser Mann, der fast so groß wie Köhler war, obgleich er nicht von den generell höher gewachsenen Zeitenwanderern abstammte. Er umklammerte das Ruderrad mit kräftigen Fäusten, trotz der Tatsache, dass es derzeit festgebunden war. Der Sturm kam direkt aus Westen und sie steuerten die Flotte direkt gegen den Wind. Ohne die Dampfmaschinen wäre dies ein ausgesprochen schwieriges Unterfangen. Es war auch so problematisch genug. Die Schiffe waren robust gebaut und hatten den Sturm bisher problemlos abgeritten. Wie immer war es der Faktor Mensch, der nachzulassen begann.

    Helmut Köhler konnte dies zumindest für sich mit einiger Sicherheit behaupten.

    »Wie geht es Ihnen?«, rief Langenhagen gegen den Lärm des Sturms und wandte Köhler sein nass glänzendes Gesicht zu. Neben dem Ruder hingen zwei Sturmlampen, die an kurzen Eisenketten nach links und rechts schwankten und unbeirrt ihr fahles Licht auf die Schiffsführung warfen.

    »Aedilius!«, schrie Köhler zurück. Er winkte in Richtung des Medicus, der gerade einem weiteren Seemann seinen Kräutertrunk verabreichte, unbeirrbar und schwankend wie die Sturmlampen. Langenhagen grinste und nickte, hatte er doch von Anfang an seine Scheu vor dem Gebräu überwunden und war mit gutem Beispiel vorangegangen. Tatsächlich hatte Köhler ihn dabei beobachtet, wie er Schiffszwieback, Käse und heißen Wein zu sich genommen hatte, ohne alles gleich wieder von sich zu geben.

    Köhler beschloss, sein Vertrauen in Aedilius nicht länger unnötig infrage zu stellen.

    »Wo sind wir?«, rief er dann.

    »Weit ab vom Kurs!«, brüllte Langenhagen zurück. Er zeigte in den Himmel. »Wir werden es erst wissen, wenn es richtig aufklart.«

    »Was schätzen Sie?«

    »Drei Tage sind vorüber. Der längste Sturm, den ich bisher erlebt habe, ging fünf. Ich glaube, wir haben es bald geschafft.«

    Langenhagen klang zuversichtlich und sah auch so aus. Köhler nickte und hielt sich an der Reling fest, die das Achterdeck vor dem Rest des Schiffes abgrenzte. Es war nur die allernötigste Besatzung an Deck. Bootsleute prüften regelmäßig, ob alles gut festgezurrt war, und zählten, ob noch alle Leute da waren, die da sein sollten. Der Rest befand sich im Schiffsinneren und tat nicht viel mehr, als auf ein Ende der Quälerei zu warten.

    Köhler entsann sich, dass die ersten beiden Wochen ihrer Reise absolut störungsfrei und friedlich verlaufen waren. Sie waren in den Atlantik vorgedrungen und es schien, als sei ihre Expedition unter einem guten Stern gestartet. Günstige Winde hatten ihr Fortkommen beschleunigt, die Schiffe waren problemlos zusammengeblieben. Die Laune unter den Männern war ausgezeichnet gewesen, voller Neugierde, eine große Lust auf das Erkunden und Entdecken. Als sich dann die Himmel zuzogen und der Sturm sich ankündigte, hatte niemand mit einem so katastrophalen und andauernden Wetterumschwung gerechnet. Dennoch hatten sie alles mit großer Zuversicht erwartet. Waren sie nicht die besten Seeleute des Imperiums? Waren ihre Schiffe nicht die besten der gesamten Flotte?

    Und jetzt begann, auch die Stimmung zu kippen. Köhler hoffte, dass Langenhagen – der in Wirklichkeit den Rang eines Navarchen trug, sich aber gerne vornehmlich als Kapitän seines Schiffes ansah – recht behalten würde mit seiner Prognose.

    »Gehen Sie unter Deck!«, rief Langenhagen. »Ich will wissen, ob alles in Ordnung ist. Und essen Sie etwas. Der Trunk von Aedilius hilft wirklich. Sie benötigen eine Stärkung. Heißen Wein, leicht verdünnt. Etwas Festes.«

    Köhler nickte nur. Jetzt, wo der Kräutertrank seine Wirkung entfaltet hatte, spürte er in der Tat ein ganz anderes Rumoren in seinem Magen. Hunger. Das erste Mal seit drei Tagen eindeutig als Hunger zu erkennen. Er befolgte den Befehl sofort.

    Er war dankbar, als er den Niedergang über sich schloss. Es war hier unten etwas stiller als an Deck, das Brausen des Sturms trat ein wenig in den Hintergrund. Er sah, wie Matrosen ihn ansahen, ihm zunickten, oft müde an der Wand saßen oder zusammengerollt in den Hängematten, alle in unterschiedlichen Phasen von Erschöpfung, Langeweile oder Krankheit. Es herrschte aber Ruhe, ein wenig Fatalismus und es gab nur wenige Gespräche. Kein Würfelspiel. Keinen Lärm, außer dem gedämpften Tosen von draußen. Eine gewisse Disziplin in der Ermattung. Gut genug für Köhler, gut genug für das Schiff.

    Er kam zur Kombüse. Der Schiffskoch, von allen in der Sprache der Zeitenwanderer Smutje genannt, schaute ihn erwartungsvoll an. Es war bezeichnend, dass der einzige Mann, der vom Sturm gesundheitlich absolut unbeeindruckt geblieben war, ausgerechnet der Herr über die Vorräte war, die alle nach der Zufuhr gleich wieder von sich gaben. Er zeigte seine Zahnlücken, als er

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