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Drachenfels
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eBook292 Seiten4 Stunden

Drachenfels

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Über dieses E-Book

Es begann mit EINEM Knochen. Von EINEM Opfer. Doch das war nur der Anfang ...

Durch Untersuchungen im Kölner Dom geraten deri Archäologen in eine Mordserie mit über hundert Todesopfern. Als Berater für die Polizei bemühen sie sich um Aufklärung der Ereignisse, doch sie stoßen überall nur auf Schweigen. Allein die junge Sara, die im Rollstuhl sitzt, seit auch sie den Tod finden sollte, ist bereit, ihnen zu helfen. Als ein neues Opfer entführt wird, werden die Ermittlungen zu einem Wettlauf mit der Zeit.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum29. Dez. 2019
ISBN9783750218086
Drachenfels

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    Buchvorschau

    Drachenfels - Martina Raub

    Titel und Impressum

    Drachenfels

    Martina Raub

    Bild 1

    Impressum

    Texte: © Copyright by Martina Raub

    Umschlag: © Copyright by Martina Raub

    Verlag: Martina Raub

    Am Kleinen Rahm 163

    40878 Ratingen

    Druck: epubli, ein Service der

    neopubli GmbH, Berlin

    Printed in Germany

    Prolog

    März Anno Domini 1559

    Aus dem Journal des Dombaumeisters

    Die Arbeiten gehen jeden Tag schleppender voran. Immer öfter verstehe ich nun die alten Pharaonen, die ihre Bauarbeiter mit der Peitsche angetrieben haben. Die Gelder für die Fortführung dieses prächtigen Baus, dieser in Stein errichteten aufrichtigen Anrufung des Höchsten im Himmel, sind vom Domkapitel gestoppt worden. Jeder Mann, jeder Knabe, der hier beschäftigt ist und damit vielleicht eine Familie von zehn Personen oder mehr durchfüttert, wird binnen Jahresfrist mittellos auf der Straße stehen. Ausgeliefert dann nur noch der Gnade des Allmächtigen und seiner Diener auf Erden, die ihn mit Almosen versorgen werden, die kaum weniger sein können, als das Wenige, was sie den Arbeitern für ihre Knochenarbeit jetzt gewähren.

    Und als wäre diese drückende Last nicht schon genug, prüft uns Gott mit den beständigen Heimsuchungen, die über die Sorgen um das tägliche Brot hinausgehen. Heute haben sie schon wieder den Teil eines armen Teufels aus den Steinbrüchen vom monte dracu gefunden. Zwischen den Steinen, unbemerkt von den Leibeigenen, die in den Brüchen schuften, gelangen seit dem großen Regen immer wieder Gliedmaßen von Unbekannten auf die Bauplätze am Dom. Niemand kann sich vorstellen, von wem sie stammen oder was es damit auf sich hat. Beim ersten Mal kamen meine Arbeiter ganz aufgeregt zu mir, denn sie vermuteten den Satan dahinter. Abgerissen war der Arm, der uns mit dem Steinmaterial zusammen erreicht hatte. Wie von einer gewalttätigen Macht, die die Seele hatte strafen wollen, die in diesem so zerschundenen Körper gestorben sein musste. Wir haben den Arm damals verbrannt, die Asche aufgesammelt, mit Weihwasser besprengt und dann in die Nordseite des rechten Turmes eingebaut. Hieraus wird kein Wiedergänger hervorspringen können.

    Es blieb nicht der einzige Fund dieser Art. Der heutige ist der neunte in dieser schrecklichen Reihe und es fühlte sich schon beinahe alltäglich an, dass mir die Botschaft einer weiteren Entdeckung überbracht wurde. Diesmal war es nurmehr ein Knochen. Der Bader, der zufällig vorbeigekommen ist, hat über dem Knochen gesessen und festgestellt, dass es der Oberschenkelknochen eines Menschen gewesen sein muss. Eines jungen Mädchens, wie er behauptet. Wir haben den Knochen mit in eines der Gräber der Hochherrschaftlichen gelegt. Niemand wird bemerken, dass wir das Grab des Grafen geöffnet haben, denn meine Handwerker verstehen sich auf ihre Kunst, und sie haben die Ruhestätte wieder so verschlossen, dass sie wie gerade erst errichtet aussieht. Auch das Gitter über dem Sarkophag haben sie wieder aufgesetzt. Möge diese prachtvolle Bettung ein wenig Genugtuung für die arme Unglückliche aus den Steinbrüchen sein, nachdem ihr in dieser Welt so viel Übel widerfahren ist. Und mögen die Dienste, die wir den unbekannten Toten in den letzten Monaten immer wieder erwiesen haben, auch unseren Seelen zu unsterblichem Heil verhelfen, wenn wir irgendwann einmal vor unserem Richter stehen werden.

    Kapitel I

    Juni 2017

    Seine Augen tasteten durch den im Zwielicht liegenden Raum. Blieben an dem Gitter hängen, das die Welt da draußen forthalten sollte. Es ging auf das Konto des Toten selbst, dass er in dieser verrammelten Gruft auf die ewige Erweckung wartete.

    Ein Schauer lief ihm über den Rücken, was ein ganz seltsames Gefühl war, stand er doch wie in einer halben Verbeugung eingefroren bewegungslos nach vorne geneigt. So etwas passierte ihm immer, wenn er sich die Knochen seiner Objekte anschaute. Erregung konnte er fühlen. Sein Körper bebte und die Haare auf seinen kräftigen Armen stellten sich auf. Es war inzwischen seine 38. Leiche. Bei der ersten hatte er sich noch gegraust, vor dem toten Körper, der Gewalt, die ihn aus dem Leben gerissen hatte, auch vor sich selbst. Das aber war schnell vergangen. Inzwischen fieberte er jedem weiteren Toten entgegen, konnte es kaum abwarten, bis er wieder loslegen konnte.

    Sobald es wieder so weit war, legte er Jeans, Hemd und Sakko ab und griff zum Overall, damit er sich richtig schmutzig machen konnte. Wenn er seine Drahtgestellbrille vorsichtig in ein stoßfestes Etui verstaute und nach seinem Werkzeug griff, kam es ihm so vor, als schlüpfe er in ein zweites Leben. Er wusste, dass ihm Haarsträhnen schweißnass ins Gesicht hingen und dass die Gier, dieses Fieber, seinem Gesicht deutlich abzulesen war. Er konnte es nicht unterdrücken.

    Raimund hob den Blick und damit den Kopf um eine Winzigkeit, um aufzuschauen. Erst glaubte er, in einen Spiegel zu sehen, doch dann stellten sich seine Augen scharf. Sein Spiegelbild zerfloss und es schälte sich die Gestalt eines weiteren Mannes heraus. Beinahe 20 Jahre jünger als er, so groß gewachsen, dass er trotz seiner 39 Jahre schlacksig wie ein Jugendlicher wirkte, stand ihm sein Kompagnon und Weggefährte gegenüber. Sein Seelenverwandter und Waffenbruder. Von der gleichen Leidenschaft ergriffen wie er selbst, zogen sie nun schon seit neun Jahren als unzertrennliches Team durchs Leben, teilten alles miteinander. Erfolge genauso wie Rückschläge und Enttäuschungen. Heute aber war ein guter Tag für sie beide. Sie hatten etwas Wunderbares erlebt und es ging noch weiter.

    „Was sagst du, Andreas? Was es das wert?" Raimunds Stimme war nur ein Flüstern, das dennoch hohl durch das Gewölbe hallte.

    „Ich hätte gedacht, dass der Körper besser intakt geblieben ist. Der Grad der Verwesung ist … überraschend. Für mich derzeit unerklärlich. Als wäre er der Luft ausgesetzt gewesen. Andreas hatte einen ganz leichten Dialekt, der auch nur dann zu hören war, wenn er aufgeregt war. Wie jetzt. „Wunderbar. Einfach wunderbar.

    „Hast du alles drauf?", wandte sich nun Raimund an den dritten Mann, der auf einem Podest stand und eine Kameraausrüstung bediente. Er hielt keine digitale Videokamera wie die tausenden von Touristen, die sie den ganzen Tag über im Hintergrund gehört hatten, mit ihren bemüht gedämpften Stimmen, ihren hochhackigen Schuhen und den plärrenden Kindern. Vielmehr filmte er mit einem Profiequipment, um das der eine oder andere private Fernsehsender ihn beneidet hätte.

    Hoch konzentriert hob der Kameramann nur den Daumen, um zu signalisieren, dass er zufrieden mit den Aufnahmen war, die er schon im Kasten hatte. Raimund nahm sich einen Augenblick, auch ihn anzuschauen, ihn mit seinem Blick in die Bande zwischen Andreas und ihm selbst einzubeziehen. Jerara war erst vor wenigen Monaten aus Australien zu ihnen gestoßen und sog all ihr Wissen, ihre Erfahrung begierig in sich auf. Er war ein ehrwürdiger Adlatus, erzogen mit dem alten Wissen der Aborigines, denen er unerkennbar entstammte, und ausgebildet an den besten Schulen und Universitäten des Westens.

    Nun richtete sich Raimund vollständig auf und drehte sich um. Hinter ihm stand in der schlichten Soutane eines einfachen Priesters der Domprobst des Kölner Doms und schaute schweigend zu. Er war interessiert, doch zugleich auch misstrauisch. Als Hausherr einer der berühmtesten Kathedralen der Welt war es seine Aufgabe, über das Heil der Lebenden und auch der Toten zu wachen. Derzeit lag es ihm besonders am Herzen sicherzustellen, dass dieser bestimmte Tote trotz der Störung seiner Ruhe pietätvoll behandelt wurde.

    Erst nach langem Ringen mit den kirchlichen und weltlichen Behörden war es Prof. Dr. Raimund Alphen gelungen, die Erlaubnis zu erhalten, eine Exhumierung und Begutachtung an Graf Gottfried von Arnsberg vornehmen zu dürfen. Dieser ruhte nun seit 1371 in einem Hochgrab im Kölner Dom. Ihm war als einziger weltlicher Herrscher die Ehre zuteilgeworden, in diesem Prunkbau neben Kardinälen und Kirchenfürsten bestattet zu werden. Allein das machte ihn so interessant. Als Professor für Archäologie und Anthropologie war Raimund aber geradezu fasziniert von dem Gedanken herauszufinden, wie dieser Mann gelebt haben mochte. Noch durch sein Testament hat er sich so sehr den Zorn seiner Verwandtschaft zugezogen, dass er verfügt hatte, sein Grab mit einem gewölbeartigen Gitterkäfig zu sichern, damit ihn die aufgebrachten Angehörigen nicht aus seiner letzten Ruhestätte rissen, um ihre Wut an ihm auszulassen. Wie lebte es sich mit dem Wissen um eine solche Notwendigkeit? Das wollte Raimund unbedingt erfahren. Und vielleicht fanden er und seine Kollegen hier – wie andere Archäologen bereits zuvor bei Engelbert von Berg im Jahre 1978 – spektakuläre Hinweise auf eine unnatürliche Todesart. Auf Mord. Natürlich war Professor Alphen nicht auf Publicity oder gar reißerische Berichte in den eher bild- als wortgewaltigen Zeitungen des Rheinlandes aus. Doch ein bisschen Aufsehen würde schon dafür sorgen können, dass die Forschungsarbeiten seines Lehrstuhls auch in den nächsten zwei, drei Jahren noch finanziert werden könnten. Und je nachdem, wie bedeutend ihr Fund wurde, könnte er vielleicht sogar dafür sorgen, dass nach seiner Pensionierung in sechs Jahren Dr. Andreas Jakub Korla aus seinem Schatten heraustreten und einer der jüngsten Professoren für angewandte Archäologie werden konnte. Das war das Mindeste, was er für seinen Protegé tun wollte.

    Aber nicht für Ruhm und Erfolg, sondern allein auf der Suche nach Wissen und Erkenntnis hatten die drei Wissenschaftler seit den frühen Morgenstunden das Grab von außen mit Bauplanen, Rigipswänden und Absperrband abgeschottet, um Sanierungsarbeiten vorzutäuschen, die neugierige Touristen abhalten sollten. Damit hatten sie versucht, eine ruhige Atmosphäre zu schaffen. Dann hatten sie begonnen, mit feinstem Werkzeug die Versiegelung des Hochgrabes gewalt- und vor allem zerstörungsfrei zu entfernen, bis sie endlich in der Lage gewesen waren, den schweren Sarkophagdeckel inklusive Schutzgitter zur Seite zu heben.

    Andreas hatte schon zu Pinsel und Pinzette gegriffen und sich tief in das Grab hineingebeugt, um mit einer ersten oberflächlichen Analyse zu beginnen. Dann aber stockte er.

    „Ray? So wurde der Professor nur von seinen Freunden genannt, zu denen sich Andreas zählen durfte. Den Spitznamen hatte der Professor aus Amerika mitgebracht, wo er vor seiner Berufung zum Lehrstuhlinhaber fünf Jahre lang doziert hatte. „Ray. Hier stimmt was nicht.

    Den letzten Satz hätte er gar nicht mehr aussprechen müssen. Ray konnte in der Stimme seines jüngeren Kollegen hören, dass der etwas entdeckt hatte, was nicht passend war. Und er sah es auch in Andreas´ tiefblauen Augen, in denen sogar hinter den dicken Brillengläsern Überraschung und Sorge zu erkennen waren. In zwei Schritten war er an Andreas´ Seite getreten und beugte sich hinunter. Jerara währenddessen, noch immer platziert auf dem Podest, das sich parallel zur Grabstelle befand, drehte den Studioscheinwerfer ein wenig, um eine bessere Beleuchtung zu schaffen, ohne die Aufnahme zu unterbrechen.

    Der Domprobst eilte um das Grab herum und versuchte, über die Rücken der Wissenschaftler hinweg auf die Leiche zu schauen.

    „Was ist denn?", fragte er nervös.

    Andreas schob den trotz all der Jahre nicht verrotteten Mantel des Verstorbenen ein wenig weiter zur Seite, legte damit die nur noch teilweise erhaltenen Beine frei und damit auch den schmalen Streifen Raum, der bis zur Sarkophagwand noch blieb.

    „Nun ja, da der Graf bei seiner Bestattung offensichtlich noch beide Beine hatte und die auch jetzt noch an Ort und Stelle sind, frage ich mich … Er rutschte ein Stück zur Seite, um den anderen einen freien Blick in das Grab zu ermöglichen. „… ich frage mich, wieso dann da noch ein dritter Oberschenkelknochen liegt?

    Viele Stunden später bauten die Forscher ihre Gerätschaften ab, sammelten ihre Werkzeuge und Aufzeichnungen ein und verließen schweigend die Grabstelle, die ein Domschweizer sorgsam hinter ihnen verschloss. Den Körper des Grafen von Arnsberg hatten sie luftdicht und stoßfest von einem Bestattungsunternehmer, der sich mit den speziellen Anforderungen der Forscher auskannte, in die Laboratorien der Universität bringen lassen. Ebenso den überzähligen Beinknochen, der gar nicht in diesem Grab hätte liegen dürfen. Als sie ihre heutige Tätigkeitsstätte verließen, waren sie so in Spekulationen und Theorien versunken, dass sie die Pracht aus Marmor, Kristall und Gold um sich herum gar nicht wahrnahmen. Selbst Jerara, der noch am Morgen mit großen taxierenden Augen einen Rundgang durch die Kathedrale unternommen hatte – obwohl er inzwischen sieben Mal den Dom besucht hatte, faszinierte er ihn immer noch –, hatte diesmal keinen Blick übrig für die vielen Geheimnisse und Merkmale, die er als Historiker nicht nur wahrnahm, sondern normalerweise jederzeit zu entschlüsseln gewünscht hätte. Doch dieser Beinknochen hatte alles verändert.

    Am Abend saßen die drei Historiker zusammen in einem typischen Kölner Brauhaus, schweigend, denn jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Für Jerara war es die erste Graböffnung gewesen und er spürte in sich nach, was diese Erfahrung für ihn bedeutete. Andreas überlegte, wie der Knochen wohl in die Grabstätte gekommen war, denn das Grab war noch mit Mörtel versiegelt gewesen, als sie es am Morgen zu öffnen begonnen hatten. Darüber hinaus hätte es zu Zeiten Gottfrieds von Arnsberg niemand gewagt, seine letzte Ruhestätte mit dem Knochen eines Unbekannten zu entweihen. Dafür waren die Menschen im 14. Jahrhundert einfach zu ängstlich und gottesfürchtig, ja beinahe abergläubisch gewesen.

    Raimund aber zweifelte, ob sie richtig gehandelt hatten. Sie hatten den Knochen eines Menschen gefunden, der dort bestimmt nicht hingehört hatte. Eine erste kurze Begutachtung zeigte, dass sich darauf Spuren befanden, tiefe Eimarkungen, die von einem Messer stammen könnten. Vielleicht wäre es besser gewesen, die Polizei zu informieren? Oder zumindest den Verwaltungsdirektor seines Institutes? Eine der wichtigsten Regeln bei Explorationen war, sich mit den örtlichen Behörden gut zu stellen, gerade wenn man mit Knochen herumfuhrwerkte. Aber er war sich so sicher, dass es sich hier um ein Objekt handelte, das die zeitgenössischen Behörden nicht interessieren würde! Das Grab war unangetastet gewesen und der Knochen von jeder Faser Fleisch befreit. Sein Instinkt sagte ihm, versicherte ihm, dass es sich um ein altes Relikt handelte. Mehrere hundert Jahre alt und mehr ein Fall für Historiker als für Polizisten. Doch dieses ungute Gefühl in der Magengegend konnte er einfach nicht ignorieren. Eigentlich war er verpflichtet, die Ermittlungsbehörden einzuschalten. Was, wenn es kein alter Knochen war?

    „Könnte es nicht ein Racheakt seiner verschmähten Verwandten gewesen sein?", riss ihn Andreas aus den Gedanken.

    Raimund starrte ihn noch einige Sekunden mit leerem, nach innen gekehrtem Blick an, dann realisierte er, was sein Mitarbeiter gesagt hatte, und tauchte wieder in die Wirklichkeit ein: „Wie meinst du das? Racheakt?"

    „Naja, du weißt doch, wie sehr Gottfried von seiner Familie gehasst wurde. Deshalb doch auch das Gitter über seinem Sarkophag. Nachdem er all seinen Besitz der Kirche vermacht hatte, konnte er seines Lebens nicht mehr sicher sein. Und auch seine Totenruhe sah er offensichtlich gefährdet. Was ist, wenn einer seiner Verwandten den Knochen mit in den Sarg legen ließ? Um seine ewige Ruhe zu stören und sein Grab von innen zu schänden?"

    Jerara hatte aufmerksam zugehört: „Wie soll das denn gehen?"

    „Ich könnte mir vorstellen, dass seine Familienmitglieder tief religiös waren. Auch wenn sie die Schenkung an die Kirche missbilligten, weil sie damit selbst leer ausgingen, werden sie in der Tiefe ihrer Herzen gläubig gewesen sein. Ein falscher Knochen im Grab könnte – nach damaliger Ansicht – schon den Weg ins Paradies verbauen. Wenn die Trompeten zum letzten Gericht rufen, steht die sterbliche Hülle von Gottfried auf mit dem, was im Grab liegt. Und dann steht er da mit drei Beinen. Vielleicht mit dem Knochen eines Wucherers oder gar eines Selbstmörders. In der Vorstellung der damaligen Bevölkerung reichte so etwas schon aus, um zur ewigen Verdammnis verurteilt zu werden."

    Raimund sinnierte dieser Idee hinterher, während ihm der Köbes – der Kellner in einer solchen Brauereischänke, auch wenn man ihn nie Kellner nennen durfte – ein neues Bier hinstellte. Hier war es üblich, dass nachgeliefert wurde, bis man den Bierdeckel auf das Glas legte. Erst das war das Zeichen, dass man zahlen wollte. Das hatte Ray aber noch nicht vor. Er wollte auch nicht nach Hause gehen. Dort erwartete ihn nichts. Seine Wohnung war wunderbar gelegen, Rheinnähe, Altbau-Charme. Hohe Decken, mit einem Kamin im Wohnzimmer. Dennoch … seit Sabine nicht mehr bei ihm war, gab es keinen Grund, in seinen Wohnsitz allabendlich zurückzukehren. Er hatte seine Frau in drei Stufen verloren und die letzte tat noch immer weh. Zuerst war er wegen all seiner Forschungsaufträge durch die ganze Welt gereist und hatte seine damals noch junge Partnerin viel zu oft allein gelassen. Sie hatte ihn nicht begleiten können und sie war auch nicht in seinen Gedanken bei ihm gewesen. Nur kurze acht Monate waren sie vor der Hochzeit zusammen gewesen. Doch anstatt nach der Hochzeit ein wenig zu bleiben und sie kennenzulernen, war er losgezogen. Den alten Mumien und Inkagräbern hinterher. Er hatte gar nicht gemerkt, dass sie sich in der wenigen Zeit, in der sie sich sahen, eher voneinander entfernten als annäherten. Bei jeder Reise einen Schritt mehr.

    Erst als Raimund eines Tages nach Hause gekommen war und seine Wohnung leer vorfand, wurde ihm klar, dass sie gegangen war. Die Möbel waren noch da, ebenso seine Bücher, sein Arbeitszimmer war unberührt. Doch sie hatte all ihre persönlichen Sachen mitgenommen und war verschwunden. Sie war fort und mit ihm ein Teil seiner selbst.

    Doch was Leere bedeutet, hatte er erst begriffen, als die Polizei in seinem Büro in der Universität gestanden hatte. Als sie ihm von dem Unfall berichteten, dem LKW, der Sabine in Sekunden getötet hatte. Da wurde ihm zum ersten Mal klar, dass er noch immer irgendwo im tiefsten Inneren seiner Gedanken gehofft hatte, sie würde irgendwann einmal zu ihm zurückkehren. Denn er konnte körperlich spüren, wie diese Hoffnung jetzt zerbrach. Mit einer Gewalt und einem Schmerz, den er sich bis dahin nicht hatte vorstellen können.

    Und so stand er fortan morgens auf, ging zur Arbeit – ob nun in sein Büro in Köln oder zu einer Ausgrabung in Peru war ihm einerlei – und versenkte sich so tief in die Geheimnisse der Geschichte, dass er die Schmerzen der Gegenwart solange ausblenden konnte, bis er tiefabends irgendwann doch wieder in seine stille Wohnung zurückkehren musste.

    „Professor?"

    Raimund schreckte auf. Jeraras junges Gesicht und seine großen Augen schwebten dicht vor ihm und er konnte die unausgesprochene Frage in seinem Blick lesen.

    „Mir geht es gut, Jerara. Alles okay."

    Dabei war das gar nicht der Grund seiner Frage gewesen, wie der Professor nun merkte. Der eine Arm lag auf dem Tisch und er hatte sein Kinn in die Ellenbeuge gebettet, die andere Hand hielt das Kölsch-Glas fest umklammert. Ein Köbes stand neben ihrem Tisch und zog an dem länglichen Bierglas, das liebevoll „Stange" genannt wurde. Die Kraft, mit der dieser eigentlich nette mittelalte Herr an dem Glas festhielt, erstaunte den Köbes ebenso wie die Tatsache, dass er am Tisch einschlief.

    Betreten ließ Raimund das Glas los und richtete sich auf. Er spürte die Augen des Kellners auf sich liegen und ihm wurde bewusst, wie das aussehen musste. Ein Mann in seinem Alter sollte nicht am Tisch einschlafen – auch wenn er nicht geschlafen, sondern nachgedacht hatte – und Andreas´ Blick wirkte abends auch oft starr und stechend, was aber nur an seinen schlechten Augen und den dicken Brillengläsern lag. Und bei sich hatten zwei so unterschiedliche, aber auffällige Männer einen hübschen Jungen, der zumindest jetzt unsicher und nervös wirkte. So tolerant sich Köln doch immer gab, existierten auch hier Grenzen.

    „Zahlen, bitte", sagte Andreas und deutete mit einer Geste an, dass er die Kosten für den gesamten Tisch übernehmen würde. Danach schob er seinen Freund und Vorgesetzen am Arm durch das Brauhaus hinaus an die frische Luft und setzte ihn in ein Taxi.

    Am nächsten Morgen stand Andreas schon früh im Labor und schaute sich das Knochenfragment an, das nun schon gesäubert und vorbereitet war. Es fehlte nur noch die Säurebehandlung, die der Professor unbedingt selbst durchführen wollte. Noch war er nicht eingetroffen, aber Andreas wusste, dass er bald kommen würde. Die Stimmung, in der Ray sich gestern Abend befunden hatte, würde ihn wieder einmal um den Schlaf gebracht haben und das Rätsel um den Beinkochen hatte bestimmt noch seinen Teil dazu beigetragen. Andreas selbst war bestimmt zwei Stunden in seiner Wohnung im Kreis gelaufen, vom Wohnzimmer in die Küche, von der Küche ins Schlafzimmer, von dort wieder durch die Küche ins Wohnzimmer. Sein Körper hatte das von ganz allein getan, während sein Kopf arbeitete. Andreas war kein historischer Fall aus der westlichen Zivilisation bekannt, in dem ein zusätzlicher Knochen in einer bedeutenden Grabstätte gefunden worden war. Heutzutage kam das öfter vor. Die Krankenhäuser wussten sich nicht besser zu behelfen, als amputierte Gliedmaßen den Bestattern zu übergeben, die die Körperteile dann in einen Sarg mit beilegten. In seinen Augen war das unglaublich respektlos, sowohl dem Patienten als auch dem Verstorbenen gegenüber. Und auch für die Angehörigen konnte der Gedanke nicht sonderlich angenehm sein zu wissen, dass zwischen der Asche eines geliebten Menschen auch noch die verbrannten Reste eines abgetrennten Raucherbeins steckten. So etwas war nur in Großzivilisationen möglich, in denen weder Tod noch Leben wertgeschätzt wurden und die die Beziehung zur Natürlichkeit der Existenz verloren hatten. Erst mit dem großen Sterben seit den Revolutionen im 19. Jahrhundert und den nachfolgenden Seuchen und Kriegen im 20. Jahrhundert hatte der Tod nicht seinen Schrecken, aber seine Erhabenheit verloren. Das führte dazu, dass man Menschen in Massengräbern verscharrte und überflüssige Körperteile irgendwo fremdbestatten ließ. Das hätte es im Mittelalter nie gegeben! Zur Zeit der

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