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Die Liche: Die Hallen der Ewigkeit
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eBook334 Seiten4 Stunden

Die Liche: Die Hallen der Ewigkeit

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Über dieses E-Book

Kaum ein Monat ist vergangen, seit der junge, noch unwissende Lich Dacio und seine untoten Gefährten Lucia und Viorel den Angriff auf die Marienburg und das finstere Ritual überlebt haben, da braut sich am Himmel ein neuer Sturm zusammen. Während ein verstoßener Engel gnadenlos Jagd auf Liche macht, bereitet sich der Herrscher der Finsternis darauf vor, sein Schattenreich zu verlassen und die Welt der Sterblichen für sich zu beanspruchen - ein Plan, den die kalten und selbstsüchtigen Engel mit aller Macht verhindern wollen. Zwischen den sich verhärtenden Fronten müssen Dacio, Lucia und Viorel einen Ausweg aus dem drohenden Krieg finden. Und der junge Lich muss lernen, was es bedeutet, zur alten Rasse der Nekromanten zu gehören, und die Wahrheit hinter dem ewigen Krieg zwischen Licht und Finsternis entdecken.
Intrigen von eiskalten Engeln, Heere von zornigen Dämonen, die geheimnisvolle Dimension der Liche und der Tod als ständiger Begleiter; in den Wirren des uralten Konflikts stand nie so viel auf dem Spiel wie jetzt ...
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum11. Aug. 2015
ISBN9783732321698
Die Liche: Die Hallen der Ewigkeit

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    Buchvorschau

    Die Liche - Wilhelm Hager

    1

    Mit Verbitterung und erneut aufkeimenden Groll wachte Tariel Rexin über die zahlreichen Menschen, die er unter sich im Burghof emsig herumeilen sah. Vorräte, Materialien, Aufzeichnungen, Rüstungen und Waffen, alles, was in den geschundenen Mauern zu finden war, wurde verpackt und auf die großen Transporter verladen, die vor den zerstörten Burgtoren warteten. Jeder Mann und jede Frau war auf den Füßen, alle halfen bei der großen Räumung mit oder verbreiteten die unglückliche Kunde: Die Wächter verließen die Marienburg. Jene alterwürdige Feste, deren Mauern sie seit Jahrhunderten geschützt hatten. Auch den letzten Ansturm hatte sie noch überstanden, obgleich dieser hohe Verluste unter den Wächtern gefordert hatte. Es war auch nicht das hohe Ausmaß der Beschädigungen, weshalb sie die Burg verließen. Der Grund war weitaus erschreckender. Der einstmals gottesfürchtige Ort war verdorben. Rexin konnte die Ursache nur erahnen. Er war einer von denen gewesen, die in jener schicksalsträchtigen Nacht dabei gewesen waren. Damals, als eine Meute von ketzerischen Untoten, unter denen Werwölfe wie auch Vampire gewesen waren, die Marienburg angegriffen hatten, war er tief unten in den Gewölben gewesen und hatte den Steinkreis gesehen. Er hatte beobachtet, wie das unheilige Ritual der teuflischen Ketzer begonnen und unterbrochen wurde. Und wie jeder andere hatte er damals angenommen, dass mit dieser Unterbrechung die Gefahr des dämonischen Ritualkreises gebannt sei und hatte die Zuschüttung der Gewölbe angeordnet. Erst jetzt, einen Monat später, erkannte er voll Zorn, dass die dunkle Kraft des Kreises weiter gewirkt haben musste. Die Anzeichen der Verderbnis traten überall immer deutlicher zum Vorschein. Mauern verschoben sich, wurden baufällig und windschief; Böden wölbten sich oder rissen gar an manchen Stellen auf. In unregelmäßigen Abständen wurde die gesamte Anlage von kurzen, wellenartigen Beben erschüttert, denen ein schwaches Knistern nachfolgte, das man mehr spürte als hörte. Die gesamte Feste verformte sich und sog sich mit einer düsteren Präsenz voll, die mittlerweile aus jedem Stein zu dringen schien. Die Wächter unter Rexin beeilten sich nicht nur aus Disziplin, die schiere Angst trieb sie an. Er selbst konnte es ihnen nicht verübeln. Ihre Aufgabe war es, gegen alles Unheilige zu kämpfen, doch wie sollte man gegen eine Burg, gegen die Erde und gegen die ganze Atmosphäre dieses Ortes vorgehen? Selbst jetzt spürte er die dämonische Aura aus der Brüstung vor ihm und den Steinen unter seinen Stiefeln dringen und merkte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten. Mit einem unzufriedenen Brummen drehte er sich um, wobei seine schwere, silberbeschlagene Plattenrüstung leise klirrte und sein dunkelroter Umhang um seine Beine und das silberne Schwert an seiner Seite wehte. Ernst schaute er den anderen beiden Personen in die Augen, die mit ihm auf dem Turm standen. Zuerst nickte er dem jungen Mann zu, der zu seiner Rechten stand und geduldig auf seine Befehle wartete. Rexins Adjutant Vasic trug mittlerweile den Titel und die Rüstung eines Kommandanten; direkt nach seiner Ernennung hatte Rexin seinen loyalen Untergebenen in eine ihm würdige Position beordert.

    »Vasic, seht zu, dass die Männer ebenso schnell wie gründlich arbeiten. Wir werden uns vorerst nach Rom in den Vatikan begeben und dort unsere nächsten Schritte planen. Heute Abend sind wir hier verschwunden. Sorgt dafür, dass das geschieht, Kommandant.«

    Ohne zu zögern salutierte Vasic und machte sich unverzüglich auf den Weg nach unten. Nun war nur noch eine Person bei Rexin. Dakaria stand mit wehendem schwarzen Haar schweigend zu Rexins Linken und beobachtete ihre Brüder und Schwestern, die im Hof unterwegs waren. In Anerkennung ihrer Verdienste und ihres Eifers war sie nicht nur ebenfalls zur Kommandantin ernannt worden, ihr war sogar ein eigenes Sonderkommando aus einhundertfünfzig Kreuzrittern zugeteilt worden, das Rexin nach dem Angriff ausgehoben hatte. Bereits in den letzten Wochen hatten sie ihre ersten Missionen bestritten und das mit äußerst zufriedenstellenden Resultaten. Nur die besten und härtesten Veteranen dienten im Dunkelfeuerkorps und nur die beste und härteste Wächterin sollte es anführen. Erst jetzt, als Vasic verschwunden war, sprach sie Rexin an:

    »Wie lautet Euer Befehl für mich, Hochinquisitor?«

    Kurz ließ er seinen Blick über ihre neue, geschwärzte Rüstung und über die schwertartige Klingenprothese schweifen, die ihren verlorenen linken Unterarm ersetzte. Sie hatte mehr als jeder andere in diesem Orden im Kampf gegen die unheilige Brut geopfert. Ihren Arm, ihre Schwägerin, ihre Hohepriesterin und nicht zuletzt ihren Zwillingsbruder hatte sie im ewig andauernden Krieg verloren. Rexin bewunderte sie umso mehr ob ihres ungebrochenen Kampfeswillens, der wie eh und je hell loderte.

    »Jeder einzelne der Ketzer, die an jenem unseligen Tag diese Mauern betreten haben, trägt Verantwortung an dem Tod unserer Kameraden und der Entweihung unserer Feste. Findet jeden von ihnen! Und lasst keinen am Leben!«

    Dakaria nickte knapp.

    »Jeder Einzelne wird brennen, Hochinquisitor.«

    »Für diesen Auftrag erteile ich Euch die Erlaubnis, unsere neue Waffe auszuprobieren und im Kampf zu führen. Bei ihrer Entwicklung und Herstellung durften wir auf die Unterstützung des Vatikans bauen. Der Papst selbst hat ihren Einsatz bewilligt. Für die Schöpfung des Allmächtigen versteht sich.«

    Nun zeigte sich zum ersten Mal eine Regung in Dakarias Gesicht. Ihr Gesicht verzog sich zu einem gemeinen Grinsen voller Vorfreude und ihre Augen leuchteten.

    »Die Dunkelfeuer-Ketten?«

    »Genau die, geschätzte Schwester.«

    Ansatzlos wandte sie sich ab und meinte im Weggehen:

    »Sie werden alle brennen! Für die Schöpfung des Allmächtigen!«

    Zufrieden sah der Hochinquisitor der besten Jägerin der Wächter hinterher und dachte an die verfluchten Untoten. Wartet nur! Bald werdet ihr bitter bezahlen …

    2

    Von einem wütenden Grunzen begleitet schmetterte Dacios Faust gegen die kahle Wand direkt neben dem mannshohem Spiegel, der das absolut leergeräumte, von grauen Farben beherrschte Zimmer wiederspiegelte. Vor ihm kniete Dacio auf dem aschfarbenen Teppichboden und wischte sich den Staub von den Fingerknöcheln. Dort, wo er aus lauter Wut gegen die Wand geschlagen hatte, war der Putz abgesplittert und vier kleine Krater markierten den Einschlag seiner Knöchel. Schmerzen empfand er keine; er spürte nur die nackte Wut, die aus seinem ewigen Stillstand erwuchs. Selbst auf Knien wirkte der knapp zwei Meter große, muskelbepackte Mann riesig. Dacio versuchte, wieder zur Ruhe zu kommen und starrte tief durchatmend seinem Spiegelbild in die schwarzen Augen. Sein Blick fuhr über das junge, scharfkantige Gesicht und die kurzen, pechschwarzen Haare. Nicht seine Größe war es, die anderen Leuten Angst einflößte, sondern der Ausdruck in seinen Augen, der jedem Menschen zeigte, wie wenig er ihm wert war. In Dacios ganzem Leben gab es nur eine Handvoll Leute, mit denen er sich verstand. Einer aus diesem erlauchtem Kreis von Auserwählten war sein Pflegevater Dorin, der Dacios einzige Vertrauensperson während seiner Kindheit war. Und ausgerechnet er war derzeit im Begriff, bei Dacio in Ungnade zu fallen. Denn Dacio besaß ein Geheimnis, das ihn von 99 Prozent der restlichen Erdbevölkerung unterschied, und das ebenso unfassbar wie mysteriös war: Dacio war ein Lich. Einer jener lebenden Toten, die, wie Dorin ihm gesagt hatte, ›die Wächter der Knochen, der Erde und der Zeit seien‹. Das einzige Problem an dieser so großartigen Tatsache war, dass Dacio keine Ahnung hatte, was das für ihn bedeutete. Seine seltene Abstammung hatte ihm bisher nichts als Scherereien beschert. Er war entführt worden, war mitten in eine Burgbelagerung (im 21. Jahrhundert!) geraten und wäre beinah einem mächtigen Dämonenherrscher geopfert worden. Dabei hatte er herausgefunden, dass er ein Lich war, und bei der Gelegenheit seinen lange verschwundenen Vater wiedergefunden, der aber kurz darauf gestorben war. Danach wäre er fast von einem Engel massakriert worden und hatte es sich insgesamt innerhalb von kaum einer Woche mit einer Verbrecherorganisation aus Untoten, mit einem mächtigen Ritterorden und nicht zuletzt mit einem Dämonenfürsten, den er versetzt hatte, verscherzt. In dem Moment, als er seine zweifelhaften Abenteuer Revue passieren ließ, musste er mehrmals schlucken, als er die Male zählte, bei denen er um ein Haar gestorben wäre. Und jetzt, nach all diesen Geschehnissen, nach all diesem Irrsinn saß er da, eine mächtige Macht am Hals und keine Ahnung, was er damit machen sollte.

    »Dorin, du Dreckskerl, wo zur Hölle bist du? Ich hab keine Lust mehr auf diese dumme Erkenntnisscheiße, die mich nicht weiterbringt!«

    Nach und nach werde ich dich lehren, was wir sind und was das für uns und die Welt bedeutet. Ich werde dir zeigen, wieso Liche so essentiell für die Existenz sind. Das waren Dorins Worte gewesen, als er Dacio das letzte Mal getroffen hatte. Und was hatter er ihn gelehrt? Nichts! Erneut brodelte die Wut in Dacio hoch und schnaubend hob er den kleinen, pergamentartigen Zettel auf, der neben ihm auf dem Boden lag. Zum wiederholten Mal fuhren seine Augen über Dorins Anweisungen und suchten irgendeinen tieferen Sinn in den Worten.

    »Erkenne den Kern in dir, dann erkennst du den Kern der Welt. Erst wenn du die Wahrheit hinter dem Schein entdeckst, wird der Kern dein Schlüssel sein«, las er sich selbst vor, bevor er nach kurzem Grübeln den Zettel zu einer kleinen Kugel zerknüllte und in die Ecke warf. Seit einem Monat versuchte Dacio nichts anderes, als diesen verfluchten Kern zu entdecken. Dorin war ihm dabei keine Hilfe gewesen. Schweigend hatte er zugesehen, wie Dacio seinen Forderungen gemäß den Trainingsraum in seiner kleinen Wohnung ausgeräumt und sich meditierend vor dem großen Spiegel niedergelassen hatte. Danach war er einfach verschwunden. Seitdem lebte sein Lehrling in völliger Isolation, obwohl man Dacios Zustand nicht guten Gewissens ›Leben‹ nennen konnte. Er aß nicht, er trank nicht und er schlief auch nicht. Seit einem geschlagenen Monat hielt er sich nur in diesem Zimmer auf. Das einzige Fenster war verschlossen und mit Rollos verdeckt. Seine restliche Wohnung, der Plattenbau, in dem sie lag, sein Heimatdorf Streinicu, das Land Rumänien, der eurasische Kontinent, die Erde … all das spielte keine Rolle in diesen vier Wänden. Es gab nur Dacio und den Spiegel. Und kein Vorankommen … Frustriert ließ er den Kopf hängen und schaute auf seine Hände herab. Sein Blick blieb an der blassen Haut hängen, die sich über seine Knöchel spannte. Er sah die Haut, die blauen Verästelungen der Venen, die schwach unter ihr hervorschienen, und darunter die Knochen. Im Innersten. Plötzlich zündete ein einzelner Funke hinter seiner Stirn.

    »Gaahh, ich Idiot! Es bringt nichts, wenn ich mich betrachte, solange ich noch wie ein Mensch scheine!«

    Sofort kniete er sich wieder aufrecht hin und konzentrierte sich dabei ganz allein auf sein Innerstes. Und die dunkle Macht, die darin schlummerte. Seit jenen turbulenten Tagen hatte er sie nicht mehr heraufbeschworen und fragte sich nun, warum er nicht schon viel früher darauf gekommen war. Wie damals erwachte sie wie verlangt und stieg empor, erst langsam, zögerlich, müde, dann kräftiger und pulsierender. Schon drang sie aus seinem Körper, wie Schweiß drückte sie sich aus jeder einzelnen Pore und bedeckte seinen gesamten Körper mit der für sie so charakteristischen schwarzen Masse. Nicht einmal er selbst wusste, aus was sie bestand. Halb organisch, halb metallisch quoll sie aus ihm hervor, verformte und verdichtete sich und fügte sich zu einer glänzenden, nachtschwarzen Rüstung zusammen, die seinen gesamten Körper bedeckte. Er öffnete die Augen und betrachtete sein Spiegelbild. Anstatt seiner menschlichen Miene blickte er in eine konturlose, ebene Maske, deren einzige Unebenheiten aus zwei Augenschlitzen bestanden, aus denen matt ein blutrotes Glühen drang. Erst jetzt machte Dacio sich darüber Gedanken, ob er seine Erscheinung auch verändern könnte. Nach einem kurzen Moment der Konzentration reagierte die geheimnisvolle Rüstung zumindest ansatzweise: Die Maske veränderte ihre Form, sie bildete schärfere Kanten, die nun auch Kinn und Schläfen andeuteten. Die Augenschlitze wurden schmaler und nahmen einen dynamischeren Stil an, ohne dabei Dacios Blickfeld einzuschränken. Zu mehr reichte es jedoch nicht; es gelang ihm nicht einmal, eine Nase zu formen, und der Versuch, sich einen Schweif aus Haaren wachsen zu lassen, endete in einem schlagartigen Bewuchs von unförmigen Stacheln am ganzen Körper, welche sich aber schnell wieder zurückzogen. Wenig überzeugt betrachtete er sein Spiegelbild. Ich kann mich in ein Stachelschwein verwandeln, toll! Und was hat mir das jetzt gebracht? Ich bin so schlau wie vorher!

    »Mag sein, aber wenigstens kommst du langsam in die richtige Richtung.«

    Zu Untode erschrocken fuhr Dacio herum und stand Dorin gegenüber, der wie aus dem Nichts erschienen war und ihm ironisch applaudierte.

    »Wo bist du abgeblieben, alter Mann?«, fragte Dacio mürrisch und versuchte damit seinen Schrecken zu überspielen.

    »Einige Dinge verlangten nach einer genaueren Betrachtung. Das soll nicht deine Sorge sein, Junge.«

    Der alte Mann hatte sich seit ihrem letzten Treffen kaum verändert. Seine grauen Haare wie immer akkurat nach hinten gekämmt, sein Kinnbart sorgfältig zurechtgeschnitten. Sein Gesicht war geprägt von den Zeichen des Alters; ein feines Netz aus Falten zog sich über seine Miene. Seine stahlblauen Augen aber blickten wach und aufmerksam, als er Dacios neue Erscheinung begutachtete.

    »Ein typischer Anfängerfehler. Du hast dich zwar dazu entschlossen, in deinem Inneren nach der Antwort zu suchen, fixierst dich aber gleich darauf wieder auf das Äußere, den Schein. Diese ganze Ebene, diese Welt der Sterblichen, ist auf den Schein ausgelegt. Eben deshalb sind ihre Bewohner sterblich, denn jeder Mensch klammert sich an den Schein, bewusst oder unbewusst, und Schein ist vergänglich, er verändert sich fortwährend. Konzentriere dich auf den Schein und du wirst trotz deines Potentials zur Unsterblichkeit nur durch die Augen eines Sterblichen sehen.«

    Dacio verrollte unter seiner Maske die Augen.

    »Du gibst mir eine Aufgabe, löst dich in Luft auf und kommst dann nur wieder, um Reden über Schein und Sein zu schwingen, die mich nicht weiterbringen? Bist ja ein toller Lehrmeister, alter Mann!«

    Dorin lächelte nur nachsichtig und setzte sich in aller Seelenruhe im Schneidersitz vor ihm hin.

    »Das ist nunmal der wichtige Punkt bei dieser Lektion, Junge. Du kannst nur dann wirklich Erfolg haben, wenn die Erkenntnis aus dir selbst entspringt. Überlege: Woher kommt diese schwarze Macht? Der springende Punkt ist nicht ihre Manifestation, sondern – «

    »– Ihre Quelle!«

    »Klingt schon vielversprechend. Nächste Frage: Wir sind Liche. Wir sind Knochenwächter und so definiert sich unsere Erscheinung. Dreh dich um und sieh in den Spiegel.«

    Dacio tat wie geheißen und betrachtete ein weiteres Mal sein Abbild.

    »Sieht so ein Skelett aus?«

    »Nein. Aber wie bekomme ich es hin, dass – «, hob Dacio zum Sprechen an, doch als er sich wieder herumdrehte, war Dorin spurlos verschwunden. Abermals. Genervt schnaubend stapfte er in seiner Rüstung durch den Raum und schüttelte den behelmten Kopf. Ich hoffe, die nächste Lektion zeigt mir, wie ich mich auch immer so dreist in Luft auflösen kann. Mal sehen … Wieder konzentrierte er sich auf sein Inneres, diesmal versuchte er aber, noch tiefer einzudringen. Er tauchte tief in sein Unterbewusstsein ein und suchte nach einem Anhaltspunkt, bis er sich einfach nur sein eigenes Skelett vorstellte. Er schloss die Augen, legte das Kinn auf die Brust und sah vor seinem inneren Auge seine Haut, seine Muskeln und sein Fleisch durchsichtig werden, bis nur noch der nackte Brustkorb vorhanden war. Ohne Vorwarnung zuckte dieses Bild seiner entblößten Knochen wie ein Blitz durch sein Gehirn. Etwas benommen klammerte er sich an dieser Vorstellung fest und fühlte auf einmal, wie sich die schwarze Masse zurückzog. Im Gegensatz zu früher kam es ihm so vor, als würde alles an ihm herabtropfen und im Nichts verschwinden. Schließlich musste er nicht einmal die Augen öffnen; die Augenlider schmolzen vor seiner Sicht einfach weg und gaben den Blick auf den Spiegel frei. Anstatt seiner Rüstung oder seiner menschlichen Form erblickte Dacio sein eigenes, blankes Skelett. Doch anstatt in einem einheitlichen vergilbten Weiß präsentierten sich seine Knochen mit feinen, schwarzen Runen überzogen. Am deutlichsten waren sein Schädel und sein Brustbein, auf denen finstere, symmetrische Symbole und Muster eingraviert waren. In seinen leeren Augenhöhlen brannten zwei kleine, leuchtende Kugeln aus blutroten Flammen. Unsicher betrachtete er sich, bevor er sich weiter konzentrierte. Irgendwas war da noch, ein kleines Stück tiefer in seinem Inneren. Etwas, das sich ihm erst immer wieder entzog und sich dann schließlich öffnete. Dacio wusste zuerst nicht, wie ihm geschah. Sein Blickfeld wurde verschwommen und düster. Dann auf einmal explodierte das Bild vor seinen Augen in einem Lichblitz. Formen und Farben veränderten sich in einem surrealistischen Maße und sein Umfeld präsentierte sich ihm völlig verzogen und entfremdet. Erst nach einem Augenblick glaubte Dacio zu begreifen: Er sah durch das Gewebe der ganzen Welt. Er erkannte seine Wohnung und das ganze Gebäude als Konstrukt aus verschiedensten, unwahrscheinlich geformten Knochen. Die ihm bekannten Formen umgaben die wahre Struktur mit einem schemenhaften Schleier, durch den er die rissigen Knochen des Betons erkennen konnte, der trotz aller Stabilität ebenso vergänglich war wie alles andere auf dieser Welt; auf dieser Ebene. Er sah unter sich ein helles Leuchten, das innerhalb eines menschlichen Skeletts umherwanderte. Ancia! Dacios Mitbewohnerin und (unfreiwillige) Sandkastenfreundin, der er letztendlich entgegen all seiner Überzeugungen und Vorsätze einen kleinen Freundschaftsbeweis entgegengebracht hatte, war für ihn in dieser Sicht kaum mehr als die Lebensflamme eines Sterblichen. Auch andere Menschen, die gerade vor dem Haus vorbeigingen und die er durch die Mauern erkennen konnte, stellten sich ihm lediglich als wandernde Lichtquellen dar; aber nicht nur das, sondern auch die Tiere, von den Hunden und Katzen auf der Straße bis zu den Vögeln auf dem Dach. Mit einem Funken Erleichterung, den er sich nie eingestanden hätte, erkannte er, dass Ancias Licht besonders stark und frisch schien. Ihre Lebenskraft war offenbar auf ihrem Höhepunkt. Anders sah es bei einem Menschen auf der Straße aus. Sein Licht war nicht nur trübe, sondern flimmerte ab und zu beunruhigend. Mit einigem Schrecken merkte Dacio, dass er die verbleibende Zeit dieser Person auf gerademal zweieinhalb Monate schätzte. Viel tiefgreifender war für ihn aber, dass er tief im Innern wusste, dass seine Schätzung stimmte. Bemüht, nicht noch einmal in Ancias Richtung zu schauen, um nicht ihre Lebenserwartung schätzen zu müssen, irrte sein Blick umher und drängte danach, sich von all den vergänglichen Lichtern und den brüchigen Knochen der Gebäude abzuwenden. Doch es half nichts, selbst als er sich die Augen zuhalten wollte, schienen die Lichter durch die Knochen seiner Finger, deren pulsierende Runen ihn zu verhöhnen schienen, und zeigten Dacio die allumfassende Vergänglichkeit der Welt, die sein ganzes bisheriges Leben bestimmt hatte. Aufkeuchend sackte er zusammen; das Klappern seiner blanken Knochen auf dem Teppich verstärkte seine ungläubige Erregung und seine Verzweiflung nur noch mehr. Die erdrückende Erkenntnis war einfach zu viel, selbst für jemanden wie ihn. Sein Bewusstsein kapitulierte; ohnmächtig sackte er in eine tiefe Bewusstlosigkeit, die ihm gnädigerweise die durchdringende Sicht raubte. Hinter ihm stand Dorin und schaute mitleidig auf seinen Schützling herab, der langsam wieder seine menschliche Gestalt annahm.

    »Die Wahrheit ist hart, mein Junge, aber ohne Wahrheit gibt es keine Erkenntnis. Das war Lektion Nummer eins.«

    3

    Mit einem leisen Klackern tanzte der Stein vor Lucia auf dem Asphalt her. Gedankenverloren trat sie ihn ein weiteres Mal aus dem Weg und zog eine Grimasse, als ihr Blick auf die zerfledderte Tasche fiel, die an ihrer Seite baumelte. Außer eins, zwei Münzen und einer Tüte Chips war sie wie so oft leer. Als Lucia sich von ihrem Vater losgesagt und sich für ein selbständiges Unleben entschieden hatte, hatte sie nicht damit gerechnet, als Diebin in einem Provinznest namens Streinicu in Rumänien zu versauern. Sie hatte sich generell alles ganz anders vorgestellt, wofür sie sich im Nachhinein schalt. Wie war sie auf den Gedanken gekommen, dass ein psychisch gestörter Mysanthrop ausgerechnet sie bei sich aufnehmen würde, nur weil sie ihm das Leben gerettet hatte? Oder darauf, dass sie wenigstens als seine Assistentin in der kleinen Hundeschule arbeiten dürfte, die er bis zu ihrem gemeinsamen Abenteuer geleitet hatte? Dacio besaß nun Macht und viel Geld obendrein, Dacio brauchte keine Hundeschule, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Während Lucia praktisch ein Leben auf der Straße führte und sich durch Stehlen über Wasser hielt. Dacio interessiert nur eins, und das ist Dacio. Egozentrischer Mistkerl. Seit sie ihn damals aus lauter Wut stehen gelassen hatte, war er ihr nie wieder über den Weg gelaufen. Soll er doch verrotten, wo auch immer er sich verkriecht. Ich hab andere Probleme. Zeit für ein bisschen Geld. Lucia besaß zumindest den zweifelhaften Vorteil, wie eine gewöhnliche Jugendliche auszusehen. In den Augen der Passanten um sie herum war das Mädchen mit den mitgenommenen Lederklamotten, den abgewetzten, schwarzen Turnschuhen und den blau gefärbten Haaren, die ihr halb ins Gesicht hingen, nichts weiter als ein Punk, irgendeine Halbstarke, die durch die Straßen streunte, und somit nichts, was man beachten musste. Diese herablassende Art kam Lucia gut zupasse, denn je weniger Beachtung man ihr schenkte, desto leichter konnte sie den Leuten das Geld aus den Taschen ziehen. Dass ihre Beute trotz der durchwachsenen Wohlstandsverhältnisse dieses Landes reichlich ausfiel, lag aber auch zum Großteil an der Wendigkeit, Heimlichkeit und Geschicklichkeit, die ihrer Rasse in die Wiege gelegt waren. Nur die Frühlingsonne, die mittlerweile auch den letzten Schnee weggeschmolzen hatte und hell und warm über den östlichen Ausläufern der Karpaten schien, machte der jungen Vampirdame zu schaffen. Sonne konnte Vampiren entgegen allen Klischees und Vorurteilen nichts anhaben; einzig die gnadenlose Helligkeit setzte den überempfindlichen Augen der Nachtwandler zu. Selbst in tiefster Nacht konnte ein Vampir jede Winzigkeit problemlos ausmachen. Am Tag jedoch verlor er diesen Vorteil und konnte meist sogar schlechter sehen als ein gewöhnlicher Sterblicher. Für ein paar Fingerübungen reicht es noch. Nur noch ein bisschen, dann kann ich mich wieder ins Dunkle verziehen. Schon nach kurzer Zeit hatte sich Lucia eine zufriedenstellende Summe zusammengeklaut und verschwand sofort im nächsten Gemischtwarenladen. Nur kurze Zeit später trat sie wieder auf die Straße heraus, in der einen Hand eine Tüte mit belegten Brötchen, in der anderen einen Becher mit dampfendem Kaffee. Unter ihrem Arm klemmte eine Zeitung; Lucias klägliche Ablenkung in ihrem eintönigen Alltag. Ohne Umwege machte sie sich auf dem Weg zu ihrem Unterschlupf. Ironischerweise hatte sie es sich in der kleinen Holzhütte auf Dacios Hundeplatz gemütlich gemacht. Wenn er schon nicht mehr hier arbeitete, konnte sie wenigstens hier übernachten. Das Schild mit der Aufschrift »Zeitweise geschlossen« hing nach wie vor an der windschiefen Tür und bewahrte Lucia vor ungebetenen Besuchern. Sie betrat die leicht baufällige Hütte und ließ sich auf das dunkelgraue, zerfledderte Sofa fallen, das in der Mitte des einzigen Raumes stand. Tasche und Zeitung landeten unbeachtet neben ihr auf dem Sofa. Gierig biss sie von einem der belegten Brötchen ab und nahm einen tiefen Schluck Kaffee. Zufrieden spürte sie die heiße, gesackvolle Flüssigkeit ihre Kehle herunterrinnen. Unheiliger Blutdurst hin oder her, für Lucia gab es nichts besseres als einen guten Kaffee. Und essen musste ein Vampir schließlich auch. Erst als sie ihre Mahlzeit verdrückt hatte und sich entspannt auf dem Sofa fläzte, griff sie zur Zeitung. In dem Moment aber, als sie die Titelseite las,

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