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Ein Held für Equinoctika
Ein Held für Equinoctika
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eBook892 Seiten12 Stunden

Ein Held für Equinoctika

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Über dieses E-Book

Waren Helden nicht längst ausgestorben?
Doch in Equinoctika, der Hauptstadt des Reiches Anthroplicote, drängt sich das Verlangen nach einem neuen Erben auf. Seit dem mysteriösen Abscheiden des Kaisers, steht die Stadt unter der rigorosen Herrschaft ihrer Ersten Ministerin, deren eigensinnige Pläne auf Missfallen im Rat seiner Majestät stoßen. In diesen Zeiten der Unruhen will sich der Meisterdieb Vierfinger einen Namen am Mord des kaiserlichen Schatzmeisters verdienen und mit dessen Vermögen verschwinden. Keine Besonderheit für eine von Gier und Intrigen zerfressene Stadt, wäre der Hauptmann der Stadtwache nicht mit der Tochter des Schatzmeisters vermählt. Dieser schwört, nicht eher zu ruhen, bis er die Räuberbande gefunden und zur Strecke gebracht hat. Darüber hinaus legt ein alter Freund am Hafen an. Ein unverhofftes Wiedersehen mit Vizekapitän Lennox steht bevor. Wäre da nicht noch eine alte Rechnung offen, die Vierfinger zum Verhängnis werden könnte.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum24. Feb. 2022
ISBN9783755723158
Ein Held für Equinoctika
Autor

Richard Isenheim

Richard Isenheim wurde 1997 in Bietigheim-Bissingen geboren, dessen historische Altstadt maßgeblichen Einfluss auf den Schreibprozess nahm. Im Großraum Stuttgart verbrachte er die ersten vierzehn Jahre seines Lebens, bis er mit seiner Familie in den Landkreis Sigmaringen zog. Dort beendete er die Realschule, um anschließend ein technisches Gymnasium zu besuchen. Schon im Alter von dreizehn Jahren begann Isenheim mit der Schreiberei. In seinen Geschichten stehen tiefe Charakterwandlungen, wahre Freundschaften und die Höhen und Tiefen des Lebens im Vordergrund.

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    Buchvorschau

    Ein Held für Equinoctika - Richard Isenheim

    1

    HEIMKEHR

    Die E.M.S. Figaro lag vor Anker. Das Schiff schwebte vor dem Hafen Equinoctikas, Hauptstadt des Reiches Anthroplicote, Erbe Equinox des Ersten, globales Handels- und Kulturzentrum. Von der Ferne aus wirkte die Stadt wie eine Festung mit dem Parlament im Herzen, dessen kupfernrote Kuppel golden schimmerte. Einer Kaskade gleich reihten sich die bunten Häuser Giebel um Ziegel von der Anhöhe bis zum Hafen. Die Promenade erschien in einem Lichterspiel aus Tau und warmem Regen. Und Luftschiffe umkreisten sie wie eine Schar von Vögeln. Die Metropole lag eingebettet da in einer Wiege aus Weideland und blauen Bergen, eingehüllt in Abendglanz. So wundersam es auch klingen mochte, so wahrhaftig lag sie vor ihm, seine wundervoll, wunderbar geliebte Heimatstadt.–

    Vizekapitän Lex Lennox stand am Fenster der Figaro mit dem Blick auf den Hafen gerichtet. Die Nacht eröffnete ihre Hallen und trug Equinoctika zu Bett, doch diese Stadt schlief nie. Nie wirklich.

    ›Willkommen daheim!‹, sagte er sich im Stillen. Sein Herz ging auf beim Gedanken, zurück zu sein. Die Hand verschwand unter seiner Uniform, wo er bedächtig die Taschenuhr hervorholte. Er sah sich das Bild des Mädchens an, welches im Deckel klebte. Eine Silberphotographie; eine der ersten, die angefertigt worden waren, damals auf einem Jahrmarkt mit seiner Geliebten.

    Er ließ die Uhr zurück unter seine Jacke gleiten. Sie war dort drüben und zum Greifen nahe. Ob sie ihm verziehen hatte nach all der Zeit? Er setzte seinen Rundgang fort.–

    Die Propeller arbeiteten in diesen Minuten mit wenigen Knoten. Ihr leises Rauschen im Leerbetrieb wurde von den Maschinen im Schiffsbauch übertönt. Die Verbrennungsluft strömte durch die Kesselräume hinaus in die Kamine, während er an der Leiter hinab in den Maschinenraum stieg. Zwölf ölgefeuerte Wasserrohr-Dampfkessel sorgten für ausreichend Prozessdampf, um die Turbinen anzutreiben. Die Figaro war kein besonders schnelles Schiff, doch um eine Höchstgeschwindigkeit von vierundzwanzig Knoten aufrechtzuerhalten, konnte die Dampftemperatur schon mal dreihundert Grad übersteigen. Im gesamten Maschinenbereich waren bis zu fünfzehn Mann tätig, darunter ein halbes Dutzend Schiffsingenieure.

    Der leitende technische Offizier schien in diesem Augenblick einige Maschinenprotokolle zu studieren.

    Lennox stellte sich hinter ihn und sah ihm über die Schulter. Der Leutnant wirkte, als suche er versessen nach einem Problem. Er kannte diesen Blick. In einem solchen Moment hatte sich Dohara völlig von seiner Umgebung abgeschottet.

    Einige Matrosen und Techniker nickten Lennox beim Vorbeigehen zu und verrieten seine Anwesenheit.

    »Sir!« Da begriff Dohara, dass er beobachtet wurde. »Vizekapitän, ich hoffe, ich habe Euch nicht warten lassen!«

    Lennox beschwichtigte mit einem Handschwenk. »Ihr saht vertieft aus. Ich wollte Euch nicht stören.«

    »Ihr stört mich nicht, Sir. Was kann ich für Euch tun, Sir?«

    Sein Blick fiel auf das Oszilloskop. »Gibt es irgendwelche Schwierigkeiten?«

    »Nichts, das uns beunruhigen sollte. Lediglich eine kleine Anomalie im sekundären Stromnetz.«

    »Anomalie?«

    »Heute Nacht wurde eine Spannungsspitze dokumentiert. Das Modul arbeitet einwandfrei, bis auf eine minimale Dämpfung der Effektivspannung. Möglicherweise ein defekter Kondensator, aber sämtliche Phasenkoppler arbeiten normal.«

    Alldieweil richtete Lennox einen umgefallenen Rohrschlüssel wieder auf, sodass er konform mit der Reihe stand.

    »Das hätte ich gleich aufgeräumt, Sir. Entschuldigt, Sir!«

    Lennox hatte den Handgriff nicht als Vorwurf verstanden. »Wir brauchen wohl alle ein wenig Auszeit«, erklärte er, »dennoch wäre ich Euch verbunden, wenn Ihr dieser Anomalie nachgehen würdet, bevor wir wieder ablegen.«

    »Ich kümmere mich darum, Sir!«

    Lennox nickte und verließ den Maschinenraum über die Leiter, von der er gekommen war. Die Mannschaft diente gut. Er war froh, mit tatkräftigen Männern zusammenzuarbeiten. In wenigen Stunden würde der Tag anbrechen und das Schiff konnte landen. Da ihre Siebenjahresmission abgeschlossen war, wurde mannschaftlich umdisponiert. Neue Matrosen und Techniker würden in den Dienst der Figaro treten, Matrosen, die so naiv waren wie er, als er sich für die Marine gemeldet hatte.–

    Die See regierte den Göttern gleich. Mal gnädig, mal zornig schlugen die Wellen gegen den Rumpf des Schiffs. An den Polen wogen die Wellen meist sachter, aber es war ein weiter Weg dorthin. Einmal an der Arctika angekommen, war die Figaro gänzlich abgeschnitten von der Republik. Nur wenige Nachrichten erreichten die Eiswüste. Allein in der Kälte war man auf Nachschub angewiesen, doch nur die wenigsten Handelskähne machten sich die Mühe, das Nordpolarmeer zu durchdringen. Zu riskant; weder lukrativ noch sicher. Die Figaro war angewiesen auf die Unterstützung der Flotte. Ab und an kam ein Kriegsschiff vorbei, um Proviant zu liefern.

    Die Republik war eine Handelsmacht. Eroberungskriege waren einmal. Dem höchstentwickelten Volk wurde es zur Pflicht, selbst die abgelegensten Völker dieser Welt zu beschützen und zu leiten. Die Stämme der Arctika schienen auf den ersten Blick unbelehrbar zu sein; sie verhielten sich wild und maritim. Nicht selten gab es kriegerische Auseinandersetzungen.

    Seit er ein kleiner Junge gewesen war, sehnte er sich danach, in See zu stechen. Ein Soldatenlied hatte es seiner Fantasie angetan. Sie nannten es Das Matrosenlied. Seine Mutter hatte es ihm oft zum Einschlafen vorgesungen.

    Auf, auf, Matrosen, hisst die Segel, um hinauszugehen.

    Auf, auf, Matrosen, hoch den Anker, der Wind weht heute gut.

    Sturmfock setzen, halsen, wenden sind ein Kinderspiel.

    Was kann uns denn schon passieren?

    Mit fünfzig Knoten geht es übers große weite Meer.

    Der Segelflicker schläft im Rumfass mi‘m Takler Seit an Seit.

    Jeder Mann auf seinen Posten, ein Sturm steht uns heut' bevor.

    Was kann uns denn schon passieren?

    Im Ausguck Backbord achtern schlägt der Wachmann laut Alarm.

    Da schlagen schon zwei Wellen tödlich über‘m Deck zusamm'.

    Doch die Mannschaft ahnt nichts, hört nichts, trinkt nur durstig ihren Rum.

    Was kann uns denn schon passieren?

    Das Schiff fängt an zu kentern, gibt dem Wasser leichtes Spiel.

    Die Flut zögert nicht lange, sondern dreht den Rumpf auf Kopf.

    Die Liebe ist verschieden, denkt der Wachmann kurz zum Schluss.

    Schon ist's um uns geschehen!

    Unter Seeleuten waren die Verse des Matrosenlieds vertraut wie das Schnürsenkelbinden. Anfangs noch, wenn die Romantik zum Abenteuer in ihren Herzen brannte, sangen sie das Lied in hohem Pathos, später nur noch vereinzelt in Schlafsälen, um das Gemüt zu beruhigen.

    Die See war kein Ort für Knaben und Verliebte. So mancher Matrose wünschte sich in der ersten Nacht zurück ans Festland. Es war ein weiter Weg in die Heimat, wenn man auf hoher See in ein Unwetter geriet und das Schiff bedrohlich in den Wellen schaukelte. Es war schwer, in solchen Fällen dann noch festen Fuß auf Deck zu fassen, aber er hatte gelernt, selbst bei schwerstem Gewitter das Gleichgewicht zu halten, und in kalten Nächten, festgehalten an einen schönen Augenblick.–

    »Erster Offizier«, sagte der Fähnrich. »Kapitän Thorostan lässt Euch rufen!«

    Er nickte und machte sich augenblicklich auf den Weg.

    Die Schicht war bald zu Ende. Er wollte sich aufs Ohr legen, bis sie landeten, doch der Kommandant ließ bitten.

    Er stellte sich vor, wie Thorostan zu nachtschlafender Zeit ein flüchtiger Einfall durch den Kopf ging. Konnte das nicht bis morgen warten?

    Gleich nach seiner Ernennung zum Ersten Offizier hatte Thorostan ihn um zwei Uhr in der Früh in seine Gemächer rufen lassen. Er war seinem Kapitän damals im Morgenmantel begegnet. Ohne Uniform und Abzeichen skizzierte er ihm einen Plan, wie die Figaro eine Streitigkeit der Nordmänner schlichten könnte. Auch wenn der Norden zu dieser Stunde in tiefem Schlaf versunken war, glaubte Thorostan nicht ruhen zu können, bis er eine Taktik entwickelt hatte, den Streit aufzulösen.

    Die Polvölker kämpften nie um Leben und Tod. Auch wenn sich die Stammesmitglieder regelmäßig im Rausch verprügelten, währten ihre Konflikte nicht länger als bis zum nächsten Sturm. Die Stämme wussten, dass sie im Unwetter zusammenhalten mussten, um langfristig zu überleben.

    Am Tage schien für gewöhnlich die Sonne, doch nachts war die Kälte unerträglich. Das Schiff besaß keine Boiler. Man hatte einfach nicht daran gedacht, als man den Rumpf zu dem eines Eisbrechers verstärkt hatte. Noch im ersten Jahr baute die Mannschaft das Schiff so um, dass der Dampf nach den Turbinen abgegriffen und in ein separat angelegtes Heizsystem geleitet werden konnte. Die Figaro musste ohnehin immer wieder bewegt werden, um nicht festzufrieren. Der somit erzeugte Dampf reichte aus, um die Schlafräume und Offiziersquartiere für einen Tag beheizen zu können.

    Zuvor war ein Matrose einem bösartigen Fieber erlegen, als er bei einem Schneesturm furchtbar frieren musste. Auch Lennox war es nicht rosig ergangen in dieser Nacht. Er hatte sich in seinen Caban gehüllt und die Nacht fröstelnd in seinem Bett ausgesessen.

    Die Polvölker hausten weder in Schiffen noch in ungeschützten Holzhütten, sondern lebten in Höhlen. Zog ein Sturm auf, verriegelten sie die Eingänge mit Schnee und Eis. In diesen Nächten zogen sich sämtliche Männer, Frauen und Kinder in die Höhle des Stammeshäuptlings zurück. Zuvor sorgten sie für genügend Walfett und Nahrung. Ein Sturm konnte ganze Nächte überdauern, gar mehrere Tage wüten.

    Bei einem Einsatz war ein Streit zwischen zwei Stämmen entbrannt. Die Kommunikation blieb stets mit großen Schwierigkeiten verbunden. Obwohl Lennox neben Delambartisch und etwas Salbertisch sämtliche Mundarten von Hochequiranisch bis Itz-Equi beherrschte, war die Sprache der Nordmänner etwas völlig Außergewöhnliches. Es erforderte ein hohes Maß an Geduld, die nordische Zunge zu erlernen. Zumal die Sprache erst noch erforscht werden musste. Sie zeichnete sich durch Klicklaute aus, die ein herkömmlicher Mensch mit seinem Kehlkopf gar nicht erst erzeugen konnte. Hätte er die Möglichkeit, würde er eines Tages zurückkehren, um die Linguistik der Nordmänner zu studieren. Vielleicht wäre er der Erste, der ein Buch über deren Sprache verfasste.–

    Trotz der erschwerten Konversation erwiesen sich die Nordmänner als gastfreundliche und gesellige Menschen. Sie akzeptierten die Mannschaft unter ihren Reihen. Auch, wenn sie oft unbelehrbar blieben, ließen sie sich zumindest auseinanderhalten und für den Zeitraum eines Abends auf eine Versöhnung ein.

    Als einmal ein Sturm aufgezogen war, verbrachten er und seine Truppe die Nacht mit den Nordmännern in ihrer Höhle. Nachdem der Sturm am nächsten Tag vorüber war, empfing sie ihr Kapitän mit großer Erleichterung. »Ich habe schon geglaubt, erneut meinen Ersten Offizier verloren zu haben.–«

    Was wollte er diesmal? Lennox zählte seine Schritte; eine willkommene Ablenkung, wenn er aufgeregt war. Er wollte gerade die Hand heben und an der Tür klopfen, als er Kapitän Thorostans wutentbrannte Stimme hörte: »Jetzt liegen wir einmal gut in der Zeit und schon müssen wir bis zur Dämmerung warten, nur, weil ein paar billige Handelskähne den gottverdammten Hafen verstopfen!«

    Jemand öffnete die Kajütentür und Lennox trat zur Seite. Der Funkoffizier kam heraus. Als er ihn bemerkte, zuckte er, doch grüßte beiläufig und verschwand seufzend im Gang.

    An seiner Statt betrat Lennox das Quartier. »Nun …«

    Der Kapitän grübelte, ging auf und ab, rieb sich über den Vollbart und zwirbelte seinen Schnauzer, während die Dielen knarzten.

    »Da bist du ja, Junge! Ich muss dringend mit dir reden!«

    »Stets zu Euren Diensten, Sir!«

    Thorostan blieb stehen. Der gebeugte Hals und die ernste Miene überwanden sich zu einem Lächeln. »Wann wirst du das endlich sein lassen, Lennox?«

    »Sind wir etwa außer Dienst?«

    »Nein.« Thorostan richtete sich auf, eine Vorfreude kletterte seine Wirbelsäule hinauf. »Aber bald!« Während der Kapitän einige Schritte näher kam und ihn von oben bis unten musterte, fuhr er fort: »Ich möchte, dass du das Anlanden und Ablegen übernimmst, wenn es so weit ist. Außerdem erwarte ich von dir, dass du dich der neuen Mannschaft annimmst und sie ihren Abteilungen zuweist.« Erneut kam er einige Schritte näher, sodass er ihm auf wenige Zentimeter gegenüberstand. Thorostan senkte die Stimme: »Und Lennox?«

    »Ja, Kapitän?«

    »Halte mir die verdammten Kadetten vom Hals!«

    Er blieb stramm, »Wie Ihr wünscht …«, wollte gerade das »Sir« ergänzen, als ihm Thorostan einen warnenden Blick zuwarf.

    Der Kapitän setzte sich und sah Lennox durch seine hellen Augen eindringlich an. Seine teigige Hand strich über das runde Gesicht mit dem kahlgeschorenen Haar. »Als ich dich in meinen Dienst aufnahm, hielt ich dich für einen dieser neunmalklugen Schulabgänger, die in ihrem Leben noch nie ein Gewehr in der Hand gehalten haben, aber glauben, sie könnten es mit der ganzen Welt aufnehmen. – Derlei Fußvolk wirst du dich in Bälde annehmen müssen.« Sein Schnauzer hob einen seiner Mundwinkel an.

    Lennox schwieg und bewahrte die Haltung.

    »Trotzdem schimmerte ein kluger und äußerst gerissener Geist aus dir, mit einem Hang, dich zu beweisen. Ein Hang, der wie eine lästige Fliege an dir klebt. Aber hinter all der Maskerade sah ich etwas äußerst Vornehmes und Nobles.«

    »Sir? Ich versteh nicht ganz …«

    Doch sein Vorgesetzter schleuderte die Arme zur Seite. »Komm schon, Lennox! Du hast bis vor deinem Abbruch Philologie studiert. Man kann doch noch ein bisschen literarische Übertragungsfähigkeit von dir erwarten, oder?«

    Er schmunzelte. Sein Kapitän hatte Recht. Die Empfehlung, ihn damals auf die Figaro zu schicken, ging auf sein sprachliches Talent zurück. Lennox erwies sich als nützlicher Mediator für eine diplomatische Mission, mit der alles begonnen hatte.–

    Thorostan senkte die Stimme, ging ein paar Schritte vor sich hin. »Was ich sagen will, Lennox, ich habe nie bereut, dich zu meinem Ersten Offizier ernannt zu haben, auch wenn es nicht ganz der Vorschrift entsprochen hat. Ein neuer Kapitän könnte das vielleicht anders sehen.«

    Lennox raunte durch den Mund. »Was sagt Ihr da, Kapitän?«

    »Wir waren zu lange alleine am Pol dieses Planeten, weit abgeschnitten von der Zivilisation. Wenn wir wieder an Land sind, werde ich den obersten Befehlshaber bitten, mich in den Ruhestand zu schicken.«

    Er wollte seinen Ohren nicht trauen. Was hatte er da erfahren?

    »Jetzt sieh mich nicht so an!« Er winkte ab. »Du bist ja bleich wie ein Mehlsack! Sieh mich an! Der Norden hat mich alt gemacht. Ich sehne mich nach dem Festland zurück.«

    »Kapitän! Bei allem nötigen Respekt!«

    Dieser rollte mit den Augen. »Ich wusste, dass du das sagen würdest …«

    Er fühlte, wie seine Lippen die Worte »aber« zu formen versuchten, wie ein kleiner Junge, der einer Strafe widersprechen wollte, doch er biss sich auf die Zunge.

    »Übrigens. Der Kaiser ist tot!«, erklärte sein Kapitän.

    Er stockte, wusste nicht, wovon er mehr verwirrt war: dem prompten Themenwechsel oder der grauenerregenden Botschaft.

    »Hast du‘s etwa noch nicht gehört?«

    Doch er musste passen. Er hatte vergessen, die Funkanlage zu inspizieren.–

    »Vor ein paar Stunden erreichte mich die Nachricht aus dem Marinequartier. Roven Gallianox ist tot! Er wurde mit einem halbvollen Glas Wein leblos in seinem Besprechungszimmer aufgefunden.«

    »Meint Ihr …?«, flüstere Lennox.

    »Möglicherweise!« Er ging weiter auf und ab durch seine Kajüte. »Vielleicht einer seiner engsten Vertrauten und Berater? Vielleicht ein Attentat? Vielleicht eine Frau? Wer weiß!« Thorostan warf die Hände in die Höhe. »Alles Mutmaßungen, die uns nichts angehen …«

    »Wollt Ihr? … Soll ich der Sache nachgehen?«

    Sein Gegenüber stockte. Kurz darauf machte er kehrt. Mit seinem schiefen Kreuz sah er ihn spöttisch an. »Wenn du tot in einer Mülltonne gefunden werden willst, nur zu!«

    Eine kurze Stille trat ein, während er noch das Summen der Maschinen hörte.

    Der Kapitän setzte sich. »Weißt du, Lennox, ich fürchte mich nicht vor Lügen. Was mir Sorgen macht, ist die Wahrheit, die an einer kleinen, aber entscheidenden Stelle verändert worden ist.« Wieder erhob er den Blick.

    Er schwieg, hielt die Lippen stumm.

    »Du brauchst nichts zu sagen. Wenn wir wieder abgelegt haben, muss ich dir sowieso etwas erzählen. – Aber nicht jetzt!« Er stand auf. »Genieße deinen Landurlaub! Such dir ein paar Weiber und lass es dir gut gehen!«

    Lennox schnaubte amüsiert. Typisch Thorostan! »Danke, aber ich brauche das nicht. Mein Dienst gilt ganz der Figaro.«

    »Pah! Ich nehm alles über dich zurück.«

    »Kapitän?«

    »Wir waren sieben Jahre von niemandem als uns, Schnee und Einheimischen umgeben. Und deren Weiber waren nicht gerade, was man in Equinoctika gewohnt ist. Du wirst jetzt in diesen Hafen gehen und dir die Hörner abstoßen, das ist mein verdammter Befehl! Komm erst wieder an Bord, wenn du deine Männlichkeit gefunden hast!« Thorostan hielt noch eine Weile die ernste Miene, dann lachte er herzlich.

    Lennox rang sich zu einem Schmunzeln durch. »Wenn Ihr das sagt …«

    »Und jetzt geh mir aus den Augen!«

    Er strich sich über das Gesicht, als er das Quartier verließ. Konnte das wahr sein? Der Mann, dem er mit Herzblut diente, wollte die Flinte ins Korn werfen und die Segel streichen? Bei allem, was sie miteinander durchgemacht hatten? Die Mannschaft, die Offiziere, die Matrosen … Zorn stieg in ihm auf. Unverständnis.

    Sieben Jahre hatten sie in der Arctika verbracht, sieben Jahre gefroren und gezittert. Sieben Jahre bangten sie um Nachschub am Ende des Monats, ob sich der Kahn in einem Sturm verspätete. Sieben lange Jahre waren vergangen, in denen Männer, die kaum unterschiedlicher sein konnten, wie eine Familie zusammengewachsen waren.

    »Thorostan, du elender…!« Doch er konnte das Wort nicht zu Ende sagen.–

    Der Frust war seinem Kapitän ja anzusehen. Abgeschnitten vom Luxus, fernab der Gesellschaft, ohne vernünftiges Essen und ohne … Frauen. Er dachte an Lenîna in seiner Uhr.–

    Was hatte es mit dem Tod des Kaisers auf sich? Nachdem vor einigen Jahren sein Großvater einer chronischen Lungenembolie erlegen war, wurde sein ältester Enkel Roven Gallianox an seiner Statt zum Kaiser ernannt. Dies hatte er noch miterlebt, bevor er der Figaro zugeteilt worden war.

    Während Roven Gallianox senior jedweden Veränderungen desinteressiert entgegengetreten war, sorgte sein Enkel bereits nach wenigen Wochen für Schlagzeilen. Er unternahm den Versuch, zwei ungleich gestellte Völker brüderlich zu vereinen. Angeblich seien unter seiner Herrschaft den Shuranern mehr Rechte zuteil geworden. Doch so gutmütig die Absichten auch gewesen waren, er hatte versagt. Die Überfälle nahmen zu, die Mordraten stiegen.

    Bedauerlich! Doch wer war er schon? Seine Pflicht galt der Figaro. Schon lange hatte er den Gesprächen und Diskussionen abgeschworen, die zu nichts weiter führten als noch mehr Zwiespalt.–

    Frederidż Salmond sah über den Berg voller Arbeit. Nachdenklich strich er sich durch den Bart. Seit seiner Beförderung zum Hauptmann der Stadtwache hatten sich die Tage auf dem Revier verlängert und die Nächte verkürzt. Er arbeitete nun seit zwölf Stunden.–

    Seine Frau würde ihm wieder Vorwürfe machen, wenn er so spät nach Hause kam. Auch wenn sie nichts sagte. Sie hielt ein Auge offen, wenn er sich leise ins Lager schlich und vorsichtig neben sie legte. Wie seine Mutter, die erst dann das Licht gelöscht hatte, wenn er von seinen nächtlichen Ausflügen nach Hause gekommen war. Hoffentlich schlief sie schon, wenn er zurückkehrte; denn diese Stadt wollte einfach nicht zur Ruhe kommen.–

    Sein Blick schweifte durch das Büro. Es war bereits dunkel geworden auf den Straßen und die Gaslaternen leuchteten gelb. Dazu das Licht des Mondes, das in sein Arbeitszimmer schien und den Raum in ein dunkles Violett hüllte. In seinem Bücherschrank tickte eine Uhr. Unzählige Aktenordner, Landkarten und Register standen in den Regalen, aber nur ein einziges Buch, das ihn an seine Kindheit erinnerte.

    Wiladat Alshams von Radd Nadir, was ins Equiranische übersetzt Die Geburt der Sonne bedeutete. Ein Märchen aus der Heimat seiner Väter. Frederidż sprach die delambartische Zunge nur dürftig, doch dieses Buch kannte er auswendig. Seine Frau war Equiranerin. Sie verstand keinen der wundervollen Psalme und doch verlangte sie hin und wieder, dass er daraus vorlas. »Deine Stimme beruhigt mich, Liebling …«

    Es war zweifellos eine Geschichte zum Einschlafen, offenbar nicht nur für Kinder.–

    Gleich neben dem Märchen stand ein Bild von ihr. Eine der zwei Photographien, die von ihr existierten. Er bewahrte sie im Büro auf, um an sie zu denken, wenn er im Begriff war, etwas Falsches zu tun.–

    Dabei mochte er belichtete Bilder nicht so sehr. Ein Maler oder Kohlezeichner erfüllte da bessere Dienste. Ein Gemälde ließ Platz für eigene Erinnerungen. Ein fehlendes Detail konnte mit Fantasie gefüllt werden. Silberphotographien waren zweischneidige Schwerter, wie er fand; denn, was seinen Zweck in der Aufklärung von Verbrechen erfüllte, verlor seinen Wert als Taschenbild. Photographien waren für Dumme. Sie lähmten das Erinnerungsvermögen und machten faul. Er wusste, dass seine Frau schön war, kein Bild musste ihn daran erinnern.–

    Frederidżs Gedanken kehrten zurück. Während er in seinem Büro grübelte, blieb er sich gewahr, dass Banditen in diesen Stunden in Häuser einbrachen und Truhen plünderten. Als Hauptmann war es seine Pflicht, die Bürger der Stadt zu beschützen, doch immer wenn er glaubte, er wäre einen Schritt weiter gekommen, war es, als würde er nur Rauch fangen.

    Die Überführung der Räuberlegende Robes von Podremos hatte ihm einst all das jetzige Ansehen beschert; denn Gauner und Banditen waren seine Spezialität. Doch auf Züge folgten Gegenzüge und Verbrecher spielten stets die Farbe weiß.–

    Robes von Podremos, oder Robes der Räuberfürst genannt, war der wohl berühmteste Gauner, den die Halbinsel je gesehen hatte. Seinen Vorgängern gleich, ohne Vergangenheit und Zukunft, hatte er eine Schar von Banditen hinter sich versammelt. Viele wollten in seine Fußstapfen treten. Nach seinem Sturz ergriffen sie alle die Flucht. Doch Frederdidż war vorbereitet gewesen.

    Der Großteil der Stadtgrenze lag am Meer. So konnten sämtliche Schiffe vor der Abfahrt überprüft und die Stadttore verriegelt werden. Dutzende Gefolgsleute wurden ergriffen und an den Galgen geführt. Doch einige von ihnen entkamen.

    Er hatte es mit einem Nachahmer zu tun, so viel stand fest. Die Bande, die seit einigen Wochen die Stadt heimsuchte, ging äußerst vorsichtig vor und hinterließ kaum Spuren. Ein Anführer musste hinter den Überfällen stecken, so präzis wie die Verbrecher arbeiteten. Auch wenn die Bande weit kleiner war als die des Räuberfürsten, verschaffte ihr gerade das einen Vorteil.

    Frederidż war sich sicher, dass sie etwas Großes im Schilde führten – die Übeltäter, wer auch immer sie waren.–

    Die wenigsten Shuraner trugen Familiennamen. Einst von den Equiranern als Sklaven gehalten, fehlte ihnen das Recht auf Haus und Hof. Selbst heutzutage, nachdem ein Dekret Zur Befreiung der Shuraner erlassen worden war, konnten sich keine Familiennamen durchsetzen.–

    Befreit, doch geächtet, fleißig, aber brotlos, belehrbar und unbelesen. Der Zugang zu Schulen wurde Shuranern bis jetzt verwehrt. Und auch wenn es gegen geltendes Recht verstieß, einen Shuraner von der Ladenschwelle zu weisen, bestanden genügend Schlupflöcher und Gesetzeslücken, um genau das zu tun. Dabei war es nicht allein die Schuld der Schulhäuser und Universitäten, sondern die Mentalität der Landsleute. Viele Bürger duldeten es nicht, neben Ungeziefer zu studieren.–

    Wenn ein Shuraner einen Nachnamen trug, dann nur, weil er ihm von seiner Sippe verliehen worden war. Als Zeichen des Respekts und der Anerkennung, im Guten wie im Schlechten. Robes von Podremos wurde gar ein Titel verliehen nach der Stadt, in der er zum Verbrecherfürsten aufgestiegen war.

    Die meisten Shuraner dienten einer adligen oder gutbürgerlichen Familie. Es war untersagt, einen Shuraner als vollwertigen Menschen aus Fleisch und Blut zu schlagen oder gar zu töten, doch was hinter verschlossenen Türen geschah, entzog sich dem Einfluss der Karabinieri.

    Schlechte Kleidung war ein Zeichen des Makels und der Abhängigkeit – seit jeher ein Mittel, um den Stand zu symbolisieren. So war es kein Wunder, dass sich einige Shuraner durch ausgesprochen teure Kleidung von ihren Gefolgsleuten abhoben – erbeutete Kleidung.

    Auch Robes von Podremos hatte ein äußerst edles Gewand getragen. Frederidż war überrascht gewesen, als er ihn überführt hatte, wo er doch einen ungepflegten Gauner erwartet hatte.

    Die Bande, die in seine Fußstapfen trat, besaß ihren eigenen Stil, doch die Symbolik blieb dieselbe.

    Als hätte er damit nicht schon genug um die Ohren! Sein Freund und größter Unterstützer, Kaiser Roven Gallianox war tot.

    Den Banditen spielte das natürlich in die Karten. Darum erwartete er einen großen Überfall in den kommenden Tagen. Obwohl die volle Priorität bei seiner Arbeit lag, konnte er nicht aufhören, an seinen Freund zu denken.

    Oft hatte ihm der Kaiser zu verstehen gegeben, dass ihn sein Amt die letzte Freude raubte. Mit einer Phiole eines Giftes war er tot aufgefunden worden. Als Frederidż den Ort des Geschehens erreicht hatte, kam jede Hilfe zu spät.–

    Frederidż war ihm als Berater zur Seite gestanden, als man den Räuberfürsten vor ein Tribunal im Forum gestellt hatte.

    Große Teile des Volkes hatten sich versammelt. Nicht nur die Männer und Frauen Equinoctikas, sondern von allen Ecken und Enden des Reiches.

    Nur bei besonders schweren Vergehen, wie einem Blutvergießen, massenhaften Überfällen oder Hochverrat wurde ein Tribunal abgehalten. Die Anordnung musste durch den Kaiser höchstpersönlich erfolgen und vom Rat genehmigt werden.

    Der Angeklagte wurde in der Mitte des Platzes vorgeführt. Sein Blick war stets der Kanzel zugewandt, wo sich der Kaiser mit einer Handvoll Beratern und dem Ansager befand.

    Danach wurde die Anklage erhoben. Man räumte dem Beschuldigten die Möglichkeit ein, Stellung zu nehmen. Es stand ihm zu, die Anklage zu akzeptieren oder abzulehnen. Darauf zog sich die Kanzel zurück und beriet sich über die Verurteilung.

    Es gab die Wahl zwischen drei Entscheidungen: Verurteilung durch den Strick, Begnadigung mit dem Erlass sämtlicher Anklagen oder dem Entscheid durch das Volk.

    Tausende hatten sich im Forum versammelt, um dem Tribunal des Räuberfürsten beizuwohnen. Männer, Frauen und Kinder. Auch wenn es üblich war, bei einer solch erdrückenden Beweislast den Verurteilten hinrichten zu lassen, hatte sich der Kaiser an ihn gewandt.

    »Sir Salmond, dieses Tribunal haben wir nur Euch zu verdanken; Ihr, der den Verbrecher und seine Gefolgsleute gestellt habt, entscheidet, was zu tun ist!«

    Frederidż war nicht darauf vorbereitet gewesen, dass der Kaiser die Entscheidung an ihn übertrug, also tat er, was er für richtig hielt »Lasst das Volk entscheiden!«

    Die Massen tobten bereits. Etliche Familien waren durch Podremos‘ Hand gestorben. Angst und Schrecken lastete noch immer auf den Schultern der Menschen. Sie wollten ihn tot sehen; denn der Hass war groß.

    Der Ansager wandte sich an das Volk: »Die Kanzel lässt verkünden …«

    Stille kehrte ein. Noch nie zuvor hatte er eine solche Aufmerksamkeit von Tausenden erlebt. Alle Blicke waren auf sie gerichtet.

    »… es komme zu einem Entscheid des Volkes!«

    So still das Podium auch gewesen war, so laut grölte es nun. Einige riefen bereits jetzt die Hinrichtung aus, als nützte es etwas. Sie freuten sich über die Möglichkeit, etwas zu Podremos’ Hinrichtung beitragen zu können. Ein Stein fiel von den Herzen vieler, die ihre Geliebten unter den Schreckenstaten verloren hatten und nun Rache nehmen konnten. Sie durften endlich Vergeltung üben. Andere entsetzten sich. Wie konnte eine solch wichtige Entscheidung an das Volk übertragen werden, wo doch nur in Fällen des Zwiespalts diese Option in Frage kam. Eine Auszählung würde Stunden in Anspruch nehmen, vielleicht Tage. Darüber hinaus wähnten sich manche unschuldig, wenn sie nicht abstimmten. Die Zahl der Enthaltungen war meist astronomisch, doch diesmal nicht. Es kam, wie sie es erwartet hatten. Nach über zwölf Stunden lagen die Ergebnisse vor. Tausende waren für eine Hinrichtung, eine Handvoll stimmte dagegen.

    Abermals stand die Stadtwache vor einer Bedrohung. Diesmal mit ihm an ihrer Spitze. Er war zum Hauptmann ernannt worden, nachdem sein Vorgänger das Amt niedergelegt hatte. Abermals rief Equinoctika nach seinem Namen. Zuerst hatten sie ihn zum Oberleutnant befördert und in den Stand eines Sirs erhoben, dann hatten sie ihn zum Hauptmann gemacht. Den Aufstieg von einem Kind der delambartisch imperialien Konstiz zum angesehensten Bürger der Stadt verdankte er seinem großen Talent. Doch die Zeiten hatten sich geändert. Spätestens seit dem Tod des Kaisers, der sein größter Unterstützter gewesen war, bangte er um seinen Posten.

    Damit nicht genug. Die Moral der Stadtwache litt schwer, seitdem er seine Männer zu Sonderschichten verpflichtet hatte. Es war notwendig, um die Sicherheit zu erhöhen, aber während ihrer Nachtschichten verbrachten viele Kameraden ihre Stunden in Tavernen und Freudenhäusern, anstatt ihrer Arbeit nachzugehen. Manch einer zettelte gar einen Streit an, um einen Grund zu finden, das Feuer zu eröffnen.–

    Er hatte bereits einen Soldaten vor das Kriegsgericht gestellt. Der Abtrünnige saß nun hinter Gittern in den Verliesen des Staatsgefängnisses, der Burgnox am Rande der Stadt.

    Er erhoffte sich dadurch mehr Disziplin von den restlichen Karabinieren. Vergeblich! Zwar wurden keine Messerstechereien mehr inszeniert, doch während der Schichten wurde weiter getrunken.–

    Doch die oberste Heeresleitung weigerte sich, ihm zusätzliche Mittel zu überlassen. Diese hatte keine Zeit für unwichtige Straßenkämpfe. »Ihr werdet das schon schaffen!«, vertröstete er den Hauptmann stets aufs Neue.

    Als Frederidż das Revier verließ, waren die Räume wie leergefegt; die Sonne bereits untergegangen.

    In all dem Trubel hatte er seinen Notizblock am Empfang liegen lassen. Ausgerechnet auf der Theke. Ein Glück, dass seine Handschrift keiner lesen konnte.–

    Mit Gewissensbissen verschloss er die Tür zum Revier und machte sich auf den Weg nach Hause.

    Im Revier der Stadtwache brannte noch Licht, als sich Levi an einer Fensterbank festhielt; die Hände am Marmor und die Füße auf den Ziegeln einer Gaube. Er war einem Geräusch nachgegangen, kletterte um die Fassade, entfloh dem Sichtpegel der Gendarmerie. Wenn jemand zur Tür herauskam, saß er in der Falle. Es musste der Hauptmann höchstpersönlich sein, der bis spät in die Nacht hinein arbeitete. Salmond mit seinem roten Frack aus Cordsamt und den weißen Perlmuttknöpfen. Er war für seinen unbändigen Fleiß bekannt. Andernfalls würde es ihn wundern, wie ein einfacher Karabinier jemanden wie Robes von Podremos gefangennehmen konnte, wenn nicht durch Emsigkeit und Durchhaltevermögen. Die Hellsten waren sie nämlich nicht, die Karabinieri der Stadtwache.–

    Levi kletterte um die Hausecke, leise wie eine Schlange, bis er zum nächsten Fenster gelangte. Ein Balkon. Es handelte sich um eines dieser Apartments mit dem Blick über die Dächer. Sah man von hier aus gen Westen, konnte man die Wellen bewundern, die sich wie azurblauer Samt um die Schiffsrümpfe schmiegten; sie schaukelten wie in eine weiche Matratze gebettet.

    Dieses Haus konnte nur einem reichen Mann gehören, einem Bankier, Fabrikanten oder erfolgreichen Kaufmann. Nicht viele konnten sich in diesem Teil der Stadt ein Apartment leisten; zumal es sich im Stadtzentrum befand. Von hier aus war es ein Katzensprung zum Rathaus oder dem Parlament. Das Opernhaus und der Hafen waren auch nicht weit. Ging man eine halbe Meile in nordwestliche Richtung, erreichte man das Aristokratenviertel, wo der Hochadel seine Villen und Schlösser entlang der Promenade gebaut hatte.

    Es war nicht sicher, hier zu stehlen, auch wenn ein Wagnis wie dieses eine große Sogwirkung auf ihn entfaltete. Es erforderte Gerissenheit, Agilität und Geschick, das Stadtzentrum heimzusuchen. Anders stand es um jene, die sich wie Tölpel benahmen und das ganze Unterfangen leichtfertig aufs Spiel setzten; leichtfertig wie diese zwei Banditen, die sich lauthals unterhielten. Das Fenster stand offen. Ein Kerzenlicht brannte. Die Stimme des einen verriet die Absichten des anderen. Machten Räuber denn neuerdings Licht?

    »Gib mir ein Schloss und alles, was ich brauche, ist ein Dietrich.« Das war Scarias Stimme. Doch wer war sein Kumpan?

    »Hast du einen parat?«

    Levi stützte sich am Handlauf ab und drückte sich nach oben über das Geländer auf den Balkon. Er versteckte sich im Schutz der Fensterläden.

    »Na ja!«, sagte der Erste. »Sagen wir es so, meinen letzten habe ich vor Wochen verbraucht.«

    Sie machten Lärm. Zuviel Lärm! Levi presste sich mit dem Rücken gegen die Fassade und spähte ins Innere der Wohnung.

    »Warum hast du dann noch keine neuen besorgt?«

    »Bisher ergab sich einfach nicht die Gelegenheit dazu. Es ist ja nicht so, dass ich jemals für etwas bezahlt hätte in dieser Stadt, aber Dietriche sind heute leider Mangelware geworden.«

    Er hörte Schritte von der anderen Seite der Wohnung. Ein Schlag, gefolgt von wackelndem Stahl, der in der Wand stecken blieb.

    »He, ihr Pappnasen!« Es war eine Frauenstimme. »Seht, was ich gefunden hab!«

    Levi nickte einsichtig, hatte verstanden, was vor sich ging. Was trieben die drei dort drin? Hatte er ihnen denn gar nichts beigebracht?

    »Wo hast du das her?«

    Zu laut! Er biss die Zähne zusammen. Viel zu laut!

    »Tja! Ich such eben am richtigen Ort.«

    Putz bröselte von der Wand und traf auf die Kacheln am Boden. Levi kniff die Augen zusammen.

    »Wartet!«, sagte die Frau. »Habt ihr das auch gehört? Ich glaube, wir werden belauscht!«

    Das war sein Zeichen! Levi schwang sich zur Seite und stieg durchs Fenster. »Ich störe die Fete nur ungern, aber euer zwielichtiges Geschwätz ist bis runter auf die Straße zu hören.«

    Scaria und sein Freund Ilîya knieten vor einer verschlossenen Truhe gleich neben einem rechteckigen Loch, das einmal eine Tür enthalten haben musste.

    »Eine Tür mitsamt Zarge eintreten, obwohl das Fenster offensteht, wirklich?« Levi schnalzte tadelnd.

    Ihre Kumpanin stand in ihrer Mitte; sie hielt eine von Juwelen verzierte Goldkette in der Hand.

    »Ich rate dir, zweckdienliche Kleider zu tragen, Tylia!« Mithin drückte er ihr einen roten Stofffetzen in die Hand. Es war derselbe Samt, aus dem ihr Überrock gefertigt war. »Allgemein frage ich mich, wie du Wert auf dein Äußeres legen kannst, wenn du doch die Absicht hast, nicht gesehen zu werden.«

    Sie trug ein Korsett, darunter eine schulterfreie Tunika mit kniehohen Stiefeln und dunklen Hosen; Halstuch und Kapuze dienten der Vermummung.

    »Und wedle nicht so mit der Kette herum!«, sagte er und deutete auf die Beute, »denn mit Raub verhält es sich wie mit Masturbation. Es ist ein gutes Gefühl, aber sollte geheimgehalten und das Ergebnis nicht herumgezeigt werden.«

    Tylia erwiderte ihm einen Todesblick. Sie zog das Messer aus der Wand. Er hatte sich über sie gestellt, ihr die Fähigkeit abgesprochen, Entscheidungen zu treffen, ihren Stolz verletzt.

    Levi wandte sich an die beiden Männer: »Und ihr zwei redet zu laut! Habt ihr drei etwa nichts von mir gelernt? Man bricht nicht in Häuser ein, wenn man plant, die Nachbarschaft zu plündern.«

    »Aber das Leben besteht aus einmaligen Gelegenheiten«, sagte Ilîya verfänglich. »Das sind deine eigenen Worte gewesen.« Er nickte wie ein unschuldiger Bengel, der nach Aufmerksamkeit bettelte.

    Sanfter Regen setzte ein und kühlte die junge Nacht.

    Scaria fuhr fort: »Das Fenster stand offen. Wenn sie ihren Besitz schon nicht behalten wollen …«

    »Nun«, sagte Levi. »Manchmal zahlt sich Dreistigkeit aus. Aber denkt daran, wie es Robes von Podremos ergangen ist!« Er kehrte ihnen den Rücken zu, sein Blick fiel nach draußen.

    Einst eine Legende unter den Banditen und sein großes Idol, Robes der Räuberfürst, war von einem Leutnant der Stadtwache überrascht worden, der sich heute Hauptmann schimpfte. Dabei war sein Plan, das Parlament zu überfallen, von unbestechlicher Elleganz gewesen. Er beging allein den Fehler, zu viele Leute in seinen Plan miteinzuweihen. Einen Fehler, den Levi nicht wiederholen würde.–

    »Erwartest du«, sagte Tylia, »dass wir dir gehorchen?«

    »Gehorchen?« Er drehte den Kopf zur Seite. »Leben bedeutet dienen! Also diene dir selbst!«

    Der Regen verstärkte sich. Levi erklomm die Fensterbank. »Morgen wird Geschichte geschrieben!«, sagte er und verschwand in die Nacht.

    Lennox fürchtete, zu lange fernab der Zivilisation gelebt zu haben. Es war vielleicht nur ein Gefühl, aber an diesem Abend glaubte er, seine besten Jahre auf der Figaro verschlafen zu haben.

    Wie hatte er seinen Heimathafen nur vergessen können? All die Orte und Straßen lagen noch immer vor ihm wie damals. Und zu seiner Trübsal gesellte sich der Hauch einer jugendlichen Melancholie, als er in die Nähe eines Tanzlokals geriet. Als Knabe hatte er die ein oder andere Nacht in ihm verbracht. Der Hängende Matrose war eine Absteige für ruhmsüchtige Zwanziger und solche, die es noch werden wollten. Früher war hier die Hölle los gewesen. Heute tanzten frühreife Burschen und Mädchen zu schlechter Musik. Die Fräuleins rissen sich förmlich um die Matrosen; denn schon damals war eine gebügelte Uniform ein Objekt der Begierde gewesen. Zweifellos wurden hier keine Bünde fürs Leben geschlossen.

    »Umso besser!«, sagte ein Kadett. Er musste von einem der unzähligen Kreuzer stammen, die im Hafen schwebten. »Der Wind weht heute gut!«

    Lennox war unwohl bei der Sache. Besser wäre er draußen geblieben. Was hatte ein Vize schon in diesem Etablissement verloren? Hatte er heute Nacht wirklich seine Rangabzeichen abgelegt, um einige Krüge später in den Armen eines Mädchens zu liegen – wie Thorostan es ihm befohlen hatte? Was sich vor der Kommode noch wie eine gute Idee angehört hatte, erschien ihm nun wie ein fremder Gedanke, der ihm wider Willen eingepflanzt worden war.–

    Als Matrose hatte er viel von den Fantasien anderer Kameraden erfahren; meist von Dingen, die sich Männer im Rausch auf der Mannschaftskabine erzählten. Hatte er ihren Gesprächen abseits in der Hängematte gelauscht, hatte er sich oft das Bild in seiner Uhr angesehen. Als Mann allein unter Männern konnte das Bild einer Geliebten zum kostbarsten Besitz werden – gleichwohl war es für ihn Gewissheit, dass zu Hause niemand auf ihn wartete.–

    Es war ein Gefühl, an das man sich gewöhnen konnte. In all den Jahren hatte er sich an viele Dinge gewöhnt. An die militärische Zucht, die strenge Disziplin und die schwere körperliche Arbeit. Er fand es bemerkenswert, woran sich ein Mensch alles gewöhnen konnte. Er lernte mit Flöhen zu leben, in Hängematten zu schlafen, selbst die stets verkochte Kost der Kombüse zu genießen. Als Erster Offizier stand ihm zwar mehr als ein auf zwei Balken aufgespanntes Laken zu, dennoch war der Schlafplatz in seinem Quartier kein Vergleich zu einem echten, warmen Federbett.

    Er dachte an den Zeitungsartikel, den er heute früh in einem Café gelesen hatte über einen wahnwitzigen Erfinder, der sich einen Propeller vor das Fahrrad montiert hatte und mit einem Paar selbst konstruierter Flügel die Lüfte erklimmen wollte. Sie lieferten ihn mit einem Dutzend Blutergüssen und einem verstauchten Handgelenk ins nächstgelegene Hospital ein.–

    War er denn der Einzige, der neben einer Posaune über den Alltag sinnieren konnte? Während die Pauke sein Trommelfell massierte, stürzte irgendein Mädchen rücklings in seine Arme. Sie war gestolpert und geradewegs auf ihn gestürzt. Für ihn war es der Blick eines betrunkenen Kindes, das sich lachend über dem Boden halten ließ. Der Kopf hing durch, überdehnte den Hals, während sie ihn mit naiven Augen ansah. Dabei machte sie keine Anstalt, sich zu bewegen. Was erwartete sie? Das Mädchen war ein Kind, vielleicht vierzehn Jahre alt.

    Er hielt sie unter den Achseln und stemmte sie zurück auf die Tanzfläche.

    Die Kleine musste ein Federgewicht sein, einige zusätzliche Kleidungsstücke würden daran nichts ändern.

    Sie verlor das Interesse unmittelbar, als sie wieder auf eigenen Beinen stand. In wenigen Augenblicken würde sie ihn wieder vergessen haben.–

    »Die war ja voll wie eine Haubitze!«, sagte der Kadett von vorhin. – Wenn du heute Nacht eine rumkriegen willst, musst du schon angreifen, Kumpel!« Er stolperte auf Lennox zu, verspritzte ein paar Tropfen Bier. »Wer bist du eigentlich?«

    Möglicherweise war es gut so, dass er auf einem unbekannten Schiff wie der Figaro diente. Zumindest konnte er noch ein Tanzlokal besuchen ohne gleich erkannt zu werden.–

    Er lächelte nur und wandte sich kopfschüttelnd ab, als ihn ein Tanzgast in die Seite stieß. Alkohol tropfte auf Lennox‘ Uniform, worauf sich der andere wortlos aus dem Staub machte. Er rieb den grauen Stoff mit dem Handballen trocken – versuchte es zumindest. Es war ja nur ein Versehen gewesen, dachte Lennox, doch man hätte sich wenigstens entschuldigen können. Es war an der Zeit, von hier zu verschwinden. Da richtete er seinen Blick auf die Stirnseite des Ambientes. Jemand beobachtete ihn.

    Es war das vertraute Gesicht eines adrett gekleideten jungen Mannes, der auf ihn das Glas zu heben schien. Dieser nickte Lennox zu und verschwand mit einem verräterischen Zwinkern in der Menge.

    »Levi …« Der Name strömte wie Atem über seine Lippen. Was machte er denn hier? Die letzte Begegnung musste schon Jahre zurückliegen … Was hatte dieser Blick nur zu bedeuten? Vierfinger führte etwas im Schilde, wollte ein Verbrechen begehen. Lennox musste ihm nach.

    Er nahm die Verfolgung auf, ehe er die Fährte verlor. Levis Nicken war keine Aufforderung gewesen, ihm zu folgen, also musste er sich verdeckt halten. Die Art und Weise, wie Levi sich auf der Straße umsah, verriet bereits seine niederen Absichten.

    Lennox hätte gerne einen anderen Weg gewählt, um ihn abzufangen, doch es gab nur diesen. Er musste vorsichtig sein, wenn er ihm unbemerkt folgen wollte. Dass Levi einen Weg einschlug, der besonders trickreich und verwinkelt war, spielte Lennox in die Karten. Vierfinger war schon immer ein gerissener Mann gewesen, doch seine Überheblichkeit war zugleich seine Schwäche.–

    Er folgte ihm in eine abgelegene Seitengasse, fort von der Magistrale. Ein stechender Geruch von Tod stieg ihm in die Nase. Ratten? Passanten mussten diesen Ort meiden bei diesem Gestank.

    Vierfinger stieg auf einen Vorsprung und kletterte auf einen überdachten Torbogen. Danach verlor Lennox seine Spur.

    Er war ihm entwischt, geräuschlos wie ein Schatten. Levi war ein Meister im Klettern – er war es schon immer gewesen. Lennox beneidete ihn um diese Fähigkeit. Er musste einen anderen Weg finden, sonst würde er sich verraten.

    Doch nach wenigen Schritten fand er sich vor einer Sackgasse wieder. Nur ein paar Treppenstufen führten noch tiefer ins Gemäuer. Dieser Ort widerte ihn an. Er machte kehrt. Vielleicht war es besser so. Lennox ging, ehe es zu spät war.

    »Hei, Süßer!«

    All seines Leibes Muskeln zogen sich in einem Schlag zusammen.

    Dort oben in einem der heruntergekommenen Gebäude schaute ein Freudenmädchen aus dem Fenster. Es musste ihn für irgendeinen über den Weg gelaufenen Freier halten; denn sie wedelte mit ihrem weißen Dessous und geiferte nach Klientel.

    Er wollte sich gerade abwenden, als sie nochmal etwas rief: »Er ist da lang gegangen!« Das Mädchen zeigte in Richtung der Straße.

    Lennox hob zum Dank die Hand. Er hoffte, dass Levi dem armen Ding nichts angetan hatte. Doch dann, als er am Ende der Gasse angekommen war und über den ganzen Boulevard sehen konnte, sah er in einer halben Meile Entfernung den Goldenen Fasanen – ein Hotel der extravaganten Klasse. Lennox stockte, als er den Ort wiedererkannte. Hierhin hatte ihn Levi also geführt! Doch nicht etwa, um …

    Ein lautes Krachen hinter seinem Rücken – ein Stoß – Kopfschmerz – schwarz.

    »Hab dich!«, sagte Levi und hielt Lennox fest, um ihn vor einem Sturz zu bewahren. Auf diese Weise hatte er schon unzählige Männer betäubt. Wenn er einen Mann wirklich töten wollte, müsste er ganz andere Stellen am Kopf treffen.–

    Es war ein guter Einfall gewesen, durch das Gebäude zu schleichen und mit etwas Kleingeld eine Schlampe für ein Ablenkungsmanöver anzuheuern, … aber was trieb sich der alte Lex Lennox hier unten herum? Hatte er die Stadt nicht vor Jahren verlassen? Beinahe hätte er seine Pläne durchkreuzt! Ein Glück, dass sein alter Freund berechenbar geblieben war.–

    Als wäre es ein Selbstgefallen gewesen, beging Lennox nach all den Jahren immer noch denselben Fehler. Hatte er geglaubt, Levi hätte ihn vergessen? Der, von dem Lennox das Diebeshandwerk überhaupt erst gelernt hatte? Welch erbärmlicher Versuch, seinen Meister zu überlisten! Hatte er nicht mehr auf Lager? Ein anderes Wiedersehen wäre ihm lieber gewesen, doch die Dinge kamen nun mal, wie sie kamen, auch wenn es danach keine neue Begegnung mehr geben würde.–

    Er zog Lennox tiefer in die Gasse; weg von der Straße, wo ihn neugierige Fußgänger leicht finden konnten. Eine mahnende Stimme wurde in ihm laut: Ramseys Worte, als er den Botenjungen getötet hatte. Lennox hätte ihn vielleicht gefunden, wenn er jetzt nicht gehandelt hätte.–

    Als Levi ihn wie einen schlafenden Betrunkenen an die Wand lehnte, nahm er ihn genauer in Augenschein. Wie hatte er dieses zarte Gesicht nur vergessen können? Lennox hatte sich kaum verändert. Er besaß dasselbe knabenhafte Antlitz, das eine umso weichere Stimme hervorbrachte. Das dunkelblonde Haar war wie eh und je zu einem Bob geschnitten; heute sogar zu einem exakten Scheitel gekämmt. Lennox hatte doch nicht etwa versucht, mit diesem schleimigen Auftreten einer Frau zu imponieren?

    Ein Ruck durchzog ihn. Es blieb keine Zeit, hier länger zu verweilen. Durch diesen Zwischenfall hatte er schon genug wertvolle Zeit verloren.

    Sein Opfer pflegte ein wöchentlich immer gleiches Ritual. Nachdem es im Goldenen Fasanen mit seinen Vertrauten und prominenten Gästen üppig zu Abend gespeist hatte, zog es sich für einen Spaziergang auf die Terrasse zurück. Dies war wohl der einzige Zeitpunkt, wo es gänzlich allein und ungeschützt war.–

    »Ihr haltet die Stellung, während ich mich um Rednox kümmere!« Levi war am Sammelpunkt angekommen: das Dach einer alten Burg aus den Eroberungskriegen, die heute der Stadtwache als Hauptquartier diente. Die restlichen Banditen warteten bereits. Vom Dach aus hatten sie einen ausgezeichneten Blick auf das Hotel.

    »Rednox ist ein Gewohnheitsmensch. Er liebt die Routine. Das ist unser Vorteil. Wir gehen nach Plan vor!«

    Tylia drängte sich nach vorn. »Und wer garantiert, dass du dich an dein Versprechen hältst und dich nicht mit der Beute aus dem Staub machst?«

    Levi lachte nur. »Wann habe ich je vergessen, euch zu bezahlen? Nenn mir ein Ereignis, an dem ich mich nicht an meine Pflicht gehalten habe!«

    Tylia verstummte, aber funkelte zornig.

    Sie hatte ihm nichts vorzuhalten! Mit oder ohne sie – er war sich seines Sieges sicher.

    Levi sprang auf die Zinnen und reckte die Hände in die Luft: »Ihr habt mir einen Räuberschwur geschworen, erinnert ihr euch?« Er mied ihren Blick; denn soviel Aufmerksamkeit hatte sie nicht verdient. »Wenn jemand aussteigen will, der möge jetzt zurücktreten! Wir werden ihn ziehen lassen, das garantiere ich!

    Wer allerdings hier bleibt, hält sich an die Abmachung oder stirbt!« Sein Blick schweifte streng über die Köpfe seiner Gefolgsleute.

    Scaria ergriff das Wort: »Ich hab zwar keine Skrupel, aber ich habe Fragen.«

    Er ahnte es bereits und hielt eine Antwort parat.

    »Wie viel?«

    Ach, der Anteil, richtig … Er hatte ihn beinahe vergessen. Levi sah ihm in die Augen. »Ein Fünfundsiebzigstel.« Es war mehr als Levi damals je erhalten hatte. Scaria sollte glücklich darüber sein!

    Ilîya trat ebenfalls nach vorn. »Und für mich?«

    Er überlegte kurz, schmunzelte dann. »Ein Hundertfünfzigstel – weil du es bist!«

    Die Antwort löste ein Lächeln bei seinem Gegenüber aus.

    Levi harrte aus, wartete auf weitere Fragen, doch niemand rührte sich. Lediglich einige beunruhigte Mienen ragten aus der Gruppe. Augen voller Neid, andere mit einer tollkühnen Naivität.

    »Ausgezeichnet!« Er richtete den Finger auf den Ältesten. »Ramsey, Ihr bewacht den Eingang von hier oben aus! Wenn Ihr etwas Auffälliges beobachtet, so gebt Ihr Scaria das Zeichen, damit er uns warnen kann!« Darauf richtete er seine Aufmerksamkeit auf diesen. »Du und dein Kumpel, ihr kümmert euch um die Hauptstraße an der Ostseite des Fasanen. Tylia, du bist für den Westflügel verantwortlich. Der Rest von euch versteckt sich unauffällig und greift an, wenn es los - geht!«

    »Wie lauten die Regeln?«, fragte der Jüngste der Bande. Es war Rim; er hatte kaum das mündige Alter.

    »Spätestens, wenn die Wache hinausstürmt, um mich zu stellen, ist euch der Fasan schutzlos ausgeliefert. Nehmt so viel ihr könnt, doch lasst die Zivilisten am Leben! Rührt keine Frau und kein Kind an!« Er widmete Scaria einen ernsten Blick. »Keine Frauen! Keine Kinder!«, wiederholte er. »Unser Zeichen sollte bekannt sein.«

    Ilîya nickte und bellte wie ein Fuchs.

    Leises Gelächter brach aus.

    Der Rufende blickte begeistert um sich, wie ein Außenseiter, dem es einmal gelungen war, einen Witz bis zur Pointe zu erzählen ohne unterbrochen zu werden.

    Levi schüttelte den Kopf und stieg von der Anhöhe. Fernab der Gruppe stieg er zwischen zwei Zinnen und blickte hinab auf das Hotel.

    Tylia stellte sich unauffällig neben ihn. »Darf ich ehrlich sein?«

    Was hatte sie ihm nun schon wieder zu sagen? Er ahnte es: Es war keine gute Idee gewesen, sie in den Plan mit einzuweihen. Er vertraute ihr nicht! Nein, er vertraute niemandem; am allerwenigsten einem Dieb. Aber es war etwas anderes, das ihn beunruhigte, die dauernde Präsenz einer Vorahnung – diese Frau führte etwas im Schilde.–

    »Was könnte dich davon abhalten?«, fragte er.

    Im Hintergrund wiederholte Ilîya sein albernes Fuchsgeheul zur Belustigung der anderen.

    Ihre Stimme blieb unverändert. »Wir hätten beim Zwitschern bleiben sollen …«

    Er schwieg, während seine Schuhspitzen über das Gemäuer ragten. Es war ein weiter Weg bis nach unten. Einen Sprung würde er nicht ohne Weiteres überleben, es sei denn, er landete weich. Er malte sich aus, bald auf sein Opfer zu springen, ihn mit den Schuhsohlen zu Boden zu treten und das Messer in ihm zu versenken. »Dann wüsste die Stadtwache sofort, dass wir es sind.«

    Doch möglicherweise hatte sie in einem anderen Sinne Recht. Ilîya war nicht vertrauenswürdig. Nicht, dass er ihn im Schlaf erdolchte – das würden, wenn überhaupt, andere tun – Levi zweifelte an seiner Verlässlichkeit. Ilîya quasselte zu viel und er war tölpelhaft. Einfältig war er auch. Scaria auf der anderen Seite – Levi war froh weder Frau noch Tochter zu haben. Konnte sich Levi überhaupt auf irgendjemanden verlassen?–

    Ramsey! Auf Ramsey war Verlass. Er war ein guter Bandit. Levi hatte viel von ihm gelernt. Auch wenn er alt und lahm geworden war, was auch immer er sagte, es hatte stets Hand und Fuß. Levi hatte sich oft einen Rat bei ihm eingeholt.

    Nichtsdestotrotz konnte er sich im Schlaf in Sicherheit wiegen. Zumindest noch eine Weile. Solange, wie er sein Geheimnis für sich behielt.–

    Lenîna Salmonda seufzte. Das Klirren des Silberbestecks bereitete ihr Kopfschmerzen. Warum redeten Männer immer so viel? Konnte das nicht bis nach dem Dinner warten?

    Der Goldene Fasan war ein schönes Hotel, das Essen im Restaurant angenehm. Aber viel lieber würde sie jetzt die Zeit im Freien verbringen. Der Nachmittag war viel zu rasch an ihr vorbeigegangen. Sie hatte sich kurz in den Garten gelegt, ihr frisch gewaschenes Haar in alle Richtungen ausgebreitet, um es in der Sonne zu bleichen, dann war es schon Abend geworden.

    Sie schwenkte das Haupt zur Seite und sah nach draußen durch die verglaste Fassade an der Südseite des Ambientes. Der Mond war aufgegangen und die Gaslaternen waren entfacht worden. Vorhin noch hatte die Abendsonne rot geglüht, wie eine reife Orange, während Luftschiffe den Himmel wie Vöglein überzogen.

    Einmal war sie im Zeppelin mitgefahren. Es hatte ihren Mann unzählige Gulden gekostet; für »ein exquisites Erlebnis in Vogelperspektive«, wie es auf den Plakaten immer angepriesen wurde. Mitnichten! Sie hatten sich eine unvergessliche Aussicht erhofft; umso ärgerlicher, dass sie nach halber Höhe Schwindel erlitt. Lenîna hatte den Rest des Fluges auf dem Boden der Gondel gehockt!

    Wenn sie ehrlich zu sich war, brauchte sie keine Luftschiffe, um glücklich zu sein. Es war ja alles da! Hier, am Boden der Welt. Sie brauchte nur nach draußen zu sehen und die Sonne genießen. An Abenden wie diesen war ihr goldener Schein einfach umwerfend! Was würde sie nur alles dafür geben, um jetzt im Freien zu sein?

    Als sie an der großen Tafelrunde wie ein Püppchen im Schaufenster saß, juckte es in ihren Beinen wie Ameisen. Dieser Abend war völlig nutzlos und vergeudet! Statt ihren Bedürfnissen nachzugehen, musste sie sich den Tratsch dieser Herren anhören. Ihr Vater war der Veranstalter des Abends, darum saß er an der Stirnseite des Tischs mit dem Blick auf das Meer.

    Sie zählte sich glücklich, zum vermögensten Haus Equinoctikas zu gehören, womöglich der gesamten Halbinsel Anthroplicote und gar darüber hinaus. – Nun ja, sofern es außerhalb der Inseln eine halbwegs brauchbare Zivilisation gab. Sie war sich da nicht so ganz sicher.

    Ihr Vater war der Schatzmeister der equiranischen Republik. Mit dem größten und sichersten Tresor des Landes war er der ausgezeichnete Kandidat für dieses Amt. Das Schloss war eine Sonderanfertigung gewesen, von der Regierung in Auftrag gegeben, von ihrem Vater bestellt und in das Anwesen integriert. Es war schon ein merkwürdiges Gefühl, über dem Staatsvermögen des Reiches zu schlafen, aber man gewöhnte sich daran.

    Doch der Reichtum war nicht allein auf seiner Arbeit gewachsen. Soweit sie den Stammbau ihrer Familie zurückverfolgte, waren die Familienoberhäupter alle eine Art Geldverleiher gewesen.

    Neben ihr saß Frederidż, ihr Ehemann. Er gehörte zur Familie der Salmonds. Irgendwann waren seine Vorfahren aus dem delambartischen Imperium hierher emigriert. Von seinem bemerkenswerten Werdegang abgesehen, war Frederidż kein Geringerer als der Kopf der Stadtwache. Somit hatte auch er ein Amt im kaiserlichen Rat inne, neben dem obersten Befehlshaber Ronan Ashbirkov, der ein paar Plätze weiter saß, dem Außenminister Polman deVries und der Ersten Ministerin und Rechten Hand des Kaisers Eugênia Gallianôxa, die heute leider verhindert war.–

    Da der Kaiser Roven Gallianox erst vor ein paar Tagen in seinem Büro tot aufgefunden worden war, war sie, die Tante des Kaisers, zur Zeit das amtierende Staatsoberhaupt. Zumindest bis zur Krönung des rechtmäßigen Thronnachfolgers.–

    Kaiserin Gallianôxa. Das klang so lächerlich! Bereits Rovens Großvater hatte sie als oberste Beraterin unterstützt. Von allen amtierenden Mitgliedern zählte sie die längste Zeit im kaiserlichen Rat und besaß zweifelsfrei die meiste Erfahrung in Regierungsangelegenheiten.

    Es wurde gemunkelt, dass der Kaiser unter starkem Einfluss seiner Tante gestanden hatte; zumindest, wenn man den Boulevardzeitungen Gehör schenkte. Aber auch Intellektuelle kritisierten, dass ein Kaiser, der zum Amtsantritt gerade einmal zweiunddreißig war, unmöglich ein gutes Bild abgeben könnte. Lange hatte es jedenfalls nicht gewährt. Nach nur sieben Jahren war er nun ausgeschieden. Selbstmord, als er eine Ansprache einstudiert hatte.

    Liebend gern hätte sie diese Rede gelesen, doch vermutlich war sie nie für die Öffentlichkeit bestimmt gewesen. Wohl war es in Wirklichkeit ein Abschiedsbrief gewesen. Vielleicht an seine Mutter?

    Roven hatte eine enge Beziehung zu dieser Frau gepflegt, wie er Lenîna in einem Gespräch erzählt hatte. Er hatte sich neben sie auf den Balkon bei einer Festlichkeit in ebendieser Lokalität gestellt. Sie erkannte ihn nicht sofort und hielt ihn für einen gewöhnlichen Gast. Die Feier betraf den Geburtstag Roven Gallianox seniors; dem Großvater Rovens und einstigem Kaiser.

    Sie behielt Roven als angenehmen und bürgernahen Menschen in Erinnerung. Oft bot sich ihr jedoch nicht die Ehre.

    Ein anderes Mal ließ Roven ihren Mann für eine dringliche Sitzung laden. Es war ein Feiertag gewesen, also durfte sie Frederidż begleiten. Es folgte ein Imbiss im Empfangsbereich, wo sie einige nette Worte mit dem Kaiser wechseln durfte. Im Anschluss holte sie ein Fräulein ab, das sie auf die Terrasse geleitete. Dort nahm sie zusammen mit Rovens Ehefrau, seiner Mutter und einigen weiteren Damen Kaffee und Kuchen ein. In der Zwischenzeit kümmerten sich die Herren um ihre ach so wichtigen Regierungsangelegenheiten.

    Von den wenigen, aber bezaubernden Begegnungen wusste sie, dass Roven ein Rotweinliebhaber war. Es war kein Wunder, dass er sich an seinem letzten Abend dem Genuss eines feinen Tropfens hingab. Mit dem Abschiedsbrief auf der Armlehne und dem Weinkelch auf dem Tisch war er am Abend in seinem Sessel tot aufgefunden worden. Neben der Weinkaraffe entdeckte man die Phiole eines seltenen hochwirksamen Giftes, das in Sekunden tötete. Ihr Mann versicherte ihr, die Ermittlungen wären in vollem Gange.

    Kaum verging die Nacht, schrieben schon die ersten Zeitungen von Suizid. Dabei hatte Roven gar nicht den Anschein erregt, von solchen Gedanken gequält zu sein. Bei dem, was er noch alles vorgehabt hatte. Natürlich konnte sie es nicht mit Gewissheit sagen, anmaßen wollte sie es sich nicht. Das Lächeln musste an ihm festgefroren sein, als öffentliche und erste Person der Regierung, Repräsentant der equiranischen Republik.

    Rovens Tod war schlicht und ergreifend bedauerlich. Trotz all der Kritik hatte sie gehofft, er würde noch lange regieren.

    Unter den Ratsmitgliedern war von Trauer keine Spur. Eine laute Rederei ohne Inhalt und Anstand ging durch die Reihen; ausnahmslos durch die gesamte Lordschaft. Die Mehrheit der Herrschaften lachte, einige von ihnen rauchten Pfeife und Zigarre.

    »In der Tat, das glaube ich!«

    Erneut ein schrilles Lachen, diesmal von der anderen Seite des Tisches. »Ihr meint Miranda la Grassa? Diese Frau wiegt eine Tonne! Sie auf ein Pferd zu setzen ist Tierquälerei!«

    Es genügten allein die Gespräche, um sich speiübel zu fühlen. Vielleicht war es nur ein mulmiges Befinden, aber sie mochte sich übergeben.

    »Lenîna!«

    Hatte da jemand ihren Namen gerufen?

    »Lenîna?« Die Stimme klang nun satter. »Hier drüben!«

    Die Fragestellerin saß auf der anderen Seite der Tafel, dem Teil des Tisches, der der Terrasse abgewandt war. Ihre Mutter ersuchte um ihre Aufmerksamkeit. Sie saß neben ihrer besten Tratschbasen, eine ihrer Schwestern, Lenînas Tante, die zwar häufig zu Besuch kam, aber nur selten Zeit mit ihr verbrachte.

    Lenîna zog eine Braue nach oben, stützte sich dabei mit dem Gesicht in ihre Hand. Es löste ein beschämtes Lachen bei ihrer Mutter aus. Sie wusste genau, wie sie dabei im Spiegel aussah. Damals hatte es eine Ohrfeige gegeben, wenn sie bei Tisch so da gesessen hatte. Welch ein Glück, dass heute heute war und nicht mehr gestern; denn mehr als ein verlegenes Lächeln konnte ihr die Mutter heute nicht entgegenbringen.

    »Dein Onkel Herbert«, erklärte sie nach vorn gebeugt, »hat geschrieben. Er fragt, wie es dir geht!«

    Lenîna runzelte die Stirn. Bei all den Diskussionen und den lauten Stimmen der Herren war es kaum möglich, ein abgewandtes Gespräch zu führen.

    »Onkel Herbert!«, wiederholte sie.

    Ihre Tante grinste.

    Konnte das nicht bis später warten? Lenîna wollte gerade aufstehen. Sie verlor bereits das Polster unter ihrem Kleid, als sie sich besann und wieder setzte. Sie würde darum nicht ihren Platz verlassen. Wenn es etwas Dringendes gab, sollte ihre Mutter selbst zu ihr kommen. »Mein Onkel?«, wiederholte sie stattdessen begeisterungslos.

    Die Tante runzelte scheel die Stirn.

    »Fragt, wie es dir geht!«

    Ja, das hatte sie gehört. Aber was war daran so wichtig? Sie nickte in Gedanken verloren, lächelte und machte dabei einen krummen Hals. Vielleicht sollte sie ihm mal wieder schreiben. Der letzte Brief lag sicherlich ein Jahr zurück. Wo er sich gerade bloß aufhielt?

    Ihr Onkel war ein Professor der Ozeanographie. Dafür reiste er oft für Monde herum und besuchte entfernte Inseln, um die Fischbestände zu untersuchen oder so etwas. Er schrieb sogar Abhandlungen darüber. Langweilige Schmöker, die nur alte Männer oder frauenlose Junggesellen lasen. Seine Studenten begleiteten ihn manchmal dabei. Vermutlich war ihr Onkel der am jüngsten Gebliebene von ihnen.–

    Als Kind hatte er ihr oft Souvenirs von seinen Studienfahrten mitgebracht. Muscheln, Perlen, seltenes Gestein; einmal gar eine Halskette aus Haifischzähnen. Sie hatte nicht darnach gefragt, wie er daran gekommen war.

    »Schatz?«, hörte sie es sagen. Diesmal war es ihr Mann. »Alles in Ordnung mit dir? Du hast ja kaum was gegessen …«

    Es war aufmerksam von ihm, sich nach ihrem Wohlbefinden zu erkundigen, doch sie verspürte keinen Hunger. Das Bankett war köstlich angerichtet worden, keine Frage, doch nach wenigen Bissen war ihr der Appetit vergangen.

    Es gab Hirschgulasch in Rahmsauce, dazu Klöße und Preiselbeerkonfitüre auf einer Birne. Abgerundet wurde das Galadiner mit einigen Blättern Feldsalat und einer Orangenscheibe. Beim Empfang war eine klare Gemüsebrühe serviert worden, mit frischem Basilikum dekoriert. Ehe sie antworten konnte, wurde auch schon der Obstteller gebracht. Lenîna glaubte, ihr Magen kapituliere. Sie fühlte sich wie damals auf dem Zeppelin. »Entschuldige mich!«, flüsterte sie, verließ ihren Platz und ging nach draußen.

    Wissen war Macht! Die Worte waren ihm klarer denn je, als Levi über das Dach pirschte. Es war das Wissen darum, wie er den Tresor von Lord Rednox brechen konnte. Alles, was er brauchte, war der Schlüssel; und diesen führte der Bankier stets mit sich. Er war an seinem Finger. Es war der Ring an seinem Finger.

    Levi beobachtete sein Opfer, fühlte sich wie ein Löwe, der sich beim Anblick einer saftigen Gazelle die Zähne bleckte. Das Juwel war kaum zu übersehen. Trotz der Anhöhe konnte er im warmen Schein der Abendsonne den Diamanten funkeln sehen; eingegossen in vierundzwanzig-karätiges Gold. Eine äußert seltene Schmiedekunst par excellence, die er bisher nur einmal gesehen hatte.–

    Ein Ring, der gleichzeitig ein Schlüssel war. So konnte er nicht verloren gehen. Die einzige Tragik dabei war, dass der Ring in Händen der meisten Diebe keinen Wert besaß, der über das Material hinausging. Das Kleinod würde irgendwo auf einem Schwarzmarkt verscherbelt werden, von Besitzer zu Besitzer wechseln, ohne dass jemand ahnte, um welch kostbaren Schatz es sich dabei handelte.–

    Rednox war reich – zu reich für seinen Geschmack. Er würde ihm nicht einmal die Existenz streitig machen, wenn er dessen Tresor mitsamt dem Anwesen plünderte. Rednox müsste lediglich ein paar Aktien oder Anleihen verkaufen, um finanziell wieder zu genesen. Teile seines Vermögens lagerten sicher auf den Teutebronner Inseln. Welch eine Schande, dass er diesen Abend nicht überlebte.–

    Levi würde in die Geschichtsbücher eingehen als der Mann, der Lord Willem Dorothilias Rednox ins Jenseits beförderte.

    Es geschah beim Spaziergang, würden sie berichten, als das Phantom gespenstergleich vom Himmel herabstürzte und ihn überfiel, seinen Dolch tief in seinen Torso rammte wie die Nähnadel im Stoff. Er schüttelte betört den Kopf bei diesem Gedanken, was er alles mit ihm anstellen konnte.–

    Es sollte inmitten des Grund und Bodens vom Goldenen Fasanen geschehen. Doch das Beste an der Sache war das Dilemma, dass niemand dieser Schafe weder seinen Namen noch sein Antlitz je zu Gesicht bekommen würde. Die engste Familie, ja das Haus Rednox, sie würden gleich zweimal frappiert sein, wenn sie gerade einmal den Tod ihres Familienoberhaupts realisiert hatten und ihr Tresor leerstand, noch bevor sie die Türschwelle ihres Hauses erreichten. Sie würden es nicht kommen sehen; denn der Ring an seinem toten Finger war bis auf eine zarte Gravur im Innern gleich dem Unikat, das Levi ihm bald entwendete.–

    Gehe im Klang deines Namens!

    Ja, genießt Eure letzten Atemzüge beim Anblick der roten Sonne, Lord Rednox, Ihr, der Ihr niemals Hunger oder Kälte leiden musstet! Frönt noch einen Moment dem Anblick dieses köstlichen Gartens in der vornehmsten aller Pensionen dieser Stadt, während die Regierung Kredite bei Euch abbezahlt auf Kosten der Allmende.

    Ihr Narr, jetzt wo Euer Ende naht, habt Ihr Euren Schutzpatron im Hotel gelassen. War es nicht zum Anbeißen herrlich, an einem solch sorglosen Ort der Reichen und Schönen ins Gras zu beißen? Habt Ihr einen solch edlen Tod denn überhaupt verdient?–

    Was war das? Der

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