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CHOR AUS DER DUNKELHEIT: Ein dystopischer Horror-Roman
CHOR AUS DER DUNKELHEIT: Ein dystopischer Horror-Roman
CHOR AUS DER DUNKELHEIT: Ein dystopischer Horror-Roman
eBook365 Seiten5 Stunden

CHOR AUS DER DUNKELHEIT: Ein dystopischer Horror-Roman

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Über dieses E-Book

Europa im 22. Jahrhundert: Großkonzerne haben die Regierung übernommen und beherrschen ein neo-feudales System im Ausnahmezustand.

Doch beherrscht werden nicht nur Menschen, sondern auch Vampire.

Letztere arbeiten - nachdem ein Friedensvertrag zwischen ihnen und dem geeinten Europa geschlossen wurde - für die Regierung und erhalten im Gegenzug Menschenopfer aus Konzentrationslagern. Als es jedoch der Lageraufseher George zulässt, dass die Vampirin Livia eines ihrer Opfer in den Untoten Septimus verwandelt und ihn in die demokratische Gesellschaft der Vampire aufnimmt, gefährdet dies den brüchigen Frieden. Ein ungleicher Kampf auf Leben und Tod beginnt.

Und schon bald erweckt der Konflikt das Interesse verschiedenster ominöser Gruppen...

Mit Chor aus der Dunkelheit präsentiert Philip Dingeldey einen mitreißenden und höchst originellen Hybriden aus Science-Fiction- und Horror-Roman.

Der Apex-Verlag veröffentlicht diesen Roman in seiner Reihe APEX HORROR.

SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum12. März 2020
ISBN9783748731849
CHOR AUS DER DUNKELHEIT: Ein dystopischer Horror-Roman

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    Buchvorschau

    CHOR AUS DER DUNKELHEIT - Philip Dingeldey

    Das Buch

    Europa im 22. Jahrhundert: Großkonzerne haben die Regierung übernommen und beherrschen ein neo-feudales System im Ausnahmezustand.

    Doch beherrscht werden nicht nur Menschen, sondern auch  Vampire.

    Letztere arbeiten - nachdem ein Friedensvertrag zwischen ihnen und dem geeinten Europa geschlossen wurde - für die Regierung und erhalten im Gegenzug Menschenopfer aus Konzentrationslagern. Als es jedoch der Lageraufseher George  zulässt, dass die Vampirin Livia eines ihrer Opfer in den Untoten Septimus verwandelt und ihn in die demokratische Gesellschaft der Vampire aufnimmt, gefährdet dies den brüchigen Frieden. Ein ungleicher Kampf auf Leben und Tod beginnt.

    Und schon bald erweckt der Konflikt das Interesse verschiedenster ominöser Gruppen...

    Mit Chor aus der Dunkelheit präsentiert Philip Dingeldey einen mitreißenden und höchst originellen Hybriden aus Science-Fiction- und Horror-Roman.

    Der Apex-Verlag veröffentlicht diesen Roman in seiner Reihe APEX HORROR.

    CHOR AUS DER DUNKELHEIT

      »Und die andern sind im Licht.

      Und man siehet die im Lichte

      Die im Dunkeln sieht man nicht.«

    - Bertolt Brecht

      Erster Teil: Die Verwandlung

    Eins: Septimus

    Als 7836GS2 eines Nachts erwachte, fand er sich auf einem Steinpult liegend wieder, zu einem ungeheuren Wesen verwandelt. Er erwachte aus seiner ein Leben lang andauernden Ohnmacht. 7836GS2 lag auf einem buckligen Rücken und sah, wenn er den Kopf ein wenig hob, seinen grauen harten Bauch und matte, verschmutzte Lendenshorts.

    Was war geschehen? Er sollte doch eigentlich tot sein. So hatten es ihm die Wachen gesagt. Er war doch nur geboren worden, um schließlich getötet zu werden. Wieso war er noch hier?

    Tot konnte er wohl nicht sein. Er fand sich zwar in einer düsteren Gruft wieder, doch arbeiteten seine Sinne noch, ja, vielleicht sogar besser als zuvor. Das Jenseits hatte er sich immer abstrakter vorgestellt, abseits von sinnlichem Leid. Das hier musste das Diesseits sein. Damit war jede Hoffnung auf ein Jenseits verloren. Er vernahm allerlei Irdisches: Trotz der Dunkelheit konnte er neben sich einige Holzsärge und die ornamental-barocken Verzierungen an Decke und Wänden erblicken. 7836GS2 spürte auch den kalten Stein unter seinem Leib. Er konnte den Moder und den Schimmel riechen, der in der feuchten Luft lag. Er hörte sogar das leise Scharren und Quieken des Ungeziefers am Boden. Und er schmeckte Blut auf seiner Zunge.

    Wessen Blut war das in seinem Mund? Sein Körper sollte blutleer sein! Das war die Vorgabe gewesen! Die Wärter sollten ihn zu den Ungeheuern bringen, die ihn daraufhin als die ihnen rechtmäßig zustehende Nahrung aussaugen und damit töten sollten. Das, so haben ihm die Wärter gesagt, würde mit ihm in dieser Nacht geschehen, als sie ihm, kurz vor Sonnenuntergang, beim Abendappell eine schwarze Kapuze, die nach Erbrochenem gestunken hat, über den Kopf gezogen, mit einer Injektion betäubt und mit einer Reihe anderer Internierter auf den Transportgleiter gehievt haben. Das war der einzige Sinn seines ansonsten sinnlosen Seins gewesen: quasi eine Existenz ohne Dasein, pure Biomasse. Und doch war er hier. Gab es ein Jenseits, das so war, oder war seine Hölle sein Fortbestand im Diesseits?

    Der ehemalige Häftling mit der Internierungsnummer 7836GS2 wippte mit seinem sich unförmig anfühlenden Körper hin und her – denn mit dem Buckel oder der Geschwulst, die er am Rücken trug, konnte er sich nicht einfach so erheben wie noch heute morgen – und fiel an der rechten Seite vom Pult. Er krachte auf den nackten harten Boden. Erstaunlicherweise schmerzte es nicht allzu sehr. Er sah sich um. Vor ihm hockte eine Ratte und nagte an irgendetwas herum, doch als sie ihn erblickte, quietschte das Tier auf und rannte verängstigt in die Dunkelheit. Sogar die Ratten hatten Angst vor ihm. Was für ein verschreckendes Antlitz er abgeben musste! Die Ratten im Lager waren weniger zimperlich gewesen und hatten oft Häftlinge angegriffen, wenn diese halbtot vor Erschöpfung in den Dreck gefallen waren. Da sah 7836GS2, woran das Tier geknabbert hatte: ein blutiger Fingerknochen. Das Menschenfleisch war fast komplett abgenagt.

    Dem Mann, der eigentlich tot sein sollte, wurde speiübel. Was geschah mit ihm? Wo war er? Er übergab sich auf den Boden. Er kotzte Blut und Galle, Essen befand sich nicht mehr in seinem Magen. Der bleierne Nachgeschmack des Blutes vermischte sich in seinem Mund mit den bitteren Tönen der Galle. Und von dem Anblick wurde ihm bereits wieder so übel, dass ihm das Bedürfnis überkam, seine Organe auszuspeien, doch er brachte nur noch ein Würgen hervor. Er fühlte sich elend, hilflos und jämmerlich.

    Warum war die Tortur, die sein ganzes nacktes Leben darstellte, nicht einmal vorbei? Er hatte jahrelang auf den Augenblick gewartet, an dem er an diese Monster verfüttert werden würde, der Moment, in dem all die Schinderei im Lager endlich vorbei sein, ja, wenn all die Pein endlich der Vergangenheit angehören würde. Und schließlich war der Tag mit der tödlichen Aura da gewesen, als er alt genug war. Die Wärter hatten ihm gesagt, er sei jetzt 29 Jahre alt. Dies sei das beste Alter, um als Futter zu dienen, obgleich sich 7836GS2 an die Jahre seiner Kindheit  nicht erinnern konnte.

    Doch seine nicht vorhandene Jugend war dem ehemaligen Häftling gerade vollkommen egal. Was jetzt zählte, war nur: Herauskommen aus dieser Gruft! Herausfinden, wo er sich eigentlich befand! Fliehen!

    Der Mann erhob sich. Dabei fiel ihm auf, dass sich auch seine ganze körperliche Statur verändert hatte: Er war jetzt viel muskulöser. Sein Fleisch unter nun grauer Haut war ausgesprochen fest. Vielleicht war er sogar ein wenig größer, aber durch den Buckel ging er etwas gekrümmt. Und seine Finger kamen ihm länger vor als früher, und, oh nein: Etwas in seinem Mund fühlte sich seltsam an. Er zögerte erst, doch dann griff mit den Fingern an seine Zähne...  Doch! Seine Eckzähne waren ebenso gewachsen.

    War er eines dieser Monster geworden? War etwas bei seiner Opferung schief gelaufen, oder erlaubten sich die Aufseher nur einen boshaften Scherz mit ihm? Zutrauen würde er es ihnen ja, denn solcherlei sadistische Aktionen waren die einzige Unterhaltung, die sich ihnen in dem stupiden Arbeitsalltag bot. Aber vermutlich würde es zu viel Geld verschlucken, wenn der Zweck dessen lediglich der Spaß war. Es wäre nicht effizient, und Effizienz war etwas sehr Wichtiges im Lager.

    Da waren eine kleine, steinige Treppe und eine Türe. Soweit 7836GS2 sehen konnte, war dies der einzige Ausgang aus der beengten Gruft. Mit unsicheren Schritten stieg er die wenigen Stufen hinauf – er rutschte einmal auf dem glatten Boden aus – und drückte sich gegen die Tür. Sie war aus Stein und sehr schwer, viel zu schwer für nur einen gewöhnlichen Menschen, um sie einfach so zu öffnen, vermutete 7836GS2. Doch als er all seine Kraft aufwendete, ging sie sich mit einem lauten Dröhnen auf.

    Er trat hinaus ins Freie. Die frische Nachtluft umwehte seine krumme Nase. Eine solche unschuldige Luft war nicht nur wohltuend gegenüber dem modrigen Geruch der Verwesung, sondern der ehemalige Internierte hatte noch nie eine so saubere und reine Luft gerochen, die frei war von Industriestaub, von Abgasen, von Schweiß und Exkrementen. Er atmete tief ein. Ein kurzer Moment des Genusses, der aber von seiner Angst überfrachtet wurde.

    Der Mann fand sich – wie konnte es anders sein, trat er doch aus einer Gruft heraus?! – auf einem alten Friedhof wieder. Es gab also noch Friedhöfe. Er hatte gedacht, solche Parkanlagen gäbe es schon lange nicht mehr und alle wären abgeholzt worden, für wesentlich lukrativere Bauten, wie Einkaufszentren oder Arbeitslager. Und dennoch war er auf einem alten Friedhof. Die Bäume wehten und rauschten im Wind. Hier und da war ein Hügel. Dazwischen befanden sich zahlreiche efeuumwachsene Gräber, in Reih und Glied.

    Selbst im Tod mussten sich diese Menschen noch einordnen.

    Das Einzige, was nicht so recht in das Bild dieses antiquierten Totenparks und seiner düster-romantischen Atmosphäre passte, war das Eingangstor: Es sah modern, steril aus und leuchtete Weiß im Dunklen. Dahinter konnte er, wohl in zig Kilometern Entfernung, die Lichter einer Stadt entdecken. War er so weit ab der Zivilisation? 7836GS2 dachte, der gesamte Erdball wäre bevölkert und bebaut, aber hier war es menschenleer, Natur und altmodische, verspielte Architektur ergänzten sich scheinbar harmonisch, ganz anders als im Lager.

    »Du bist also der Neue, nicht?«, hörte der ehemalige Häftling eine Stimme.

    Er blickte sich um. Links hinter ihm, im Gras saß ein furchteinflößendes Wesen. Wie 7836GS2 selbst hatte es graue fahle Haut, lange Finger, wirkte muskulös und hatte einen Buckel. Jedoch war das Ungetüm weiblich und hatte langes, zerzaustes aschblondes Haar. Ihre Augen waren rot, sie glühten fast, und aus ihrem Mund blitzen vier lange Fangzähne. Ihre anderen Zähne waren alle ausgefallen. Anders als er, trug sie einen schwarzen Overall, der ihren Körper bedeckte, wo 7836GS2 nur Shorts trug. In Anbetracht seiner geringen Bekleidung durchströmte ihm Scham gegenüber diesem weiblichen Monster. Das und seine Furcht weckten seinen Fluchttrieb.

    »Oh Gott, du bist ein Vampir!«, stieß er aus und wandte sich ab, bereit, eine hoffnungslose Flucht anzutreten.

    »Ja, genauso wie du«, antwortete sie gelassen und zuckte mit den Schultern.

    Er hielt inne. Was zur Hölle?! Sollte er heulen oder wegrennen? Überfordert brach er zusammen und schluchzte.

    »Ich sollte doch tot sein!«

    »Hat man dir das gesagt?«

    »Ja, das haben die Aufseher gesagt«, erwiderte 7836GS2.

    »Nun ja, vielleicht sollte ich mich erst einmal vorstellen«, setzte sie abermals nach einer kleinen Pause an, »mein Name ist Silvia, und ich werde dir nichts tun, denn wir sind gleich. Wir sind beide Vampire.«

    Ihre Stimme wirkte fast kindlich. Überhaupt hatte diese Untote den Hauch von etwas Jugendlich-Unschuldigem an sich, etwas, was in keinster Weise zu ihrem Dasein als dämonischer Blutsauger passte.

    »Wir sind nicht gleich. Ich bin ein interniertes Subjekt, zum Tod freigegeben. Und du bist ein Monster«, sagte er.

    »Weißt du, die Menschen bringen uns jede Nacht ein paar von ihnen und ein paar Schweine, deren Blut wir dann trinken dürfen. Dafür arbeiten wir für die Menschen. Wir übernehmen Aufgaben, die sie nicht übernehmen können oder wollen. Zum Beispiel arbeiten wir in Kraftwerken oder so. So ist es ausgemacht zwischen uns. Und einer dieser Menschen, die uns geliefert werden, warst eben du«, sagte Silvia.

    »Das weiß ich doch!«

    »Gut. Die Vampirin, die dich ausgesaugt hatte, und die dich dem Plan zufolge danach hätte sterben lassen sollen, bekam aber Mitleid mit dir. Ich weiß nicht, was Livia dazu bewog. Sie hat es mir ja nicht erklärt. Sie hat nur gesagt, du sähest so traurig und so unschuldig aus, und sie könne es, was auch immer das sein soll, nicht mehr ertragen. Also hat sie dich in einem der Unseren verwandelt.«

    »Sie hätte mich sterben lassen sollen! Das hätte mein Leid beendet!«, sagte 7836GS2. »Ich bin doch gar nicht dazu gemacht, jetzt als Dämon durch die Dunkelheit zu ziehen.«

    »Was soll das heißen?«

    »Ich war doch nur dazu da, um einmal von einem Vampir getötet zu werden«, antwortete er.

    Silvia stockte. Scheinbar konnte sie mit diesem Satz nicht viel anfangen.

    »Das heißt, die Menschen stellen extra Menschen zu diesem Zweck ab?«, fragte die Vampirin nach.

    »Dort, wo ich herkomme, mussten wir alle im Lager arbeiten, um im Alter von 29 Jahren euch geopfert zu werden. Etwas anderes kenn ich gar nicht. Es gab nur diesen Zweck, und nicht einmal den habe ich Versager erfüllt.«

    »Das ist ja furchtbar!«

    »Sag bloß, du wüsstest nicht, woher deine Opfer kommen?!«, meinte 7836GS2 und sank frustriert in sich zusammen.

    Sein Fluchttrieb wich der Resignation.

    »Naja, nicht wirklich«, sagte Silvia, »damit haben wir uns nie so beschäftigt. Dieser Teil des Handels geht uns eigentlich nichts an.«

    Wieder herrschte Stille zwischen den beiden. Er überlegte kurz, ob er doch einfach aufspringen und wegrennen sollte, egal wohin. Doch dieses so unbedarft dreinblickende Monster vor ihm, würde ihn wohl viel zu schnell einholen und schien noch dazu weniger gefährlich und aggressiv zu sein, als er sich Vampire immer vorgestellt hatte.

    »Wie bin ich zu... dem hier geworden?«, fragte er und blickte angewidert an sich herab.

    »Schön, dass du dich entschlossen hast, wieder in unsere Unterhaltung einzusteigen. Zu deiner Frage: Nachdem Livia dein Blut getrunken und Mitleid mit dir gekriegt hat, biss sie sich die Pulsader an den Handgelenken auf und gab dir von dem Blut, das sich nun in ihrem Organismus befand, zu trinken. So geht die Verwandlung von statten: Beide trinken das Blut voneinander. Ein gleichmäßiger Austausch.«

    »Und jetzt?«

    »Jetzt«, antwortete Silvia, »gehörst du zu uns... denke ich. Die anderen sind gerade bei der Arbeit, und ich bin heute Nacht die Wächterin über unser Heim. Denn hier auf dem Friedhof leben wir. Das ist unser Refugium, das es vor den Menschen zu schützen gilt. Du wirst dich ab jetzt genauso wie wir nur noch von Blut ernähren können, wirst in der Dunkelheit viel besser sehen als früher, du bist nun stärker und schneller. Dein Körper hat sich verwandelt, du bist untot. Die meisten Organe haben ihre Arbeit eingestellt, auch da du keinen normalen Stoffwechsel mehr hast. Alles was unnötig ist, wirkt nicht mehr in dir. Auch dein Penis wird dir in ein paar Wochen abfallen, denn er ist überflüssig geworden. Wir Vampire vermehren uns ja nicht mit Geschlechtsverkehr, sondern indem wir Menschen verwandeln. Und ab morgen wirst du auch irgendwo arbeiten. Vielleicht folgst du einfach Livia in das Kraftwerk. Der Job ist zwar anstrengend, aber nicht sehr anspruchsvoll.«

    Bevor er also auch nur einmal Sex gehabt hatte, würde ihm sein Glied abfallen. Er hatte nie richtig gelebt und war jetzt zu einem dämonischen, blutsaufenden untoten Wesen geworden: Sollte er jetzt auch noch seine Leidensgenossen aus dem Lager töten? 7836GS2 hatte nie die Kontrolle über sein Leben gehabt. Jetzt hatte er sie auch nicht über seinen Tod und seine posthume Existenz.

    »Ich will kein Blut trinken!«, sagte er ruhig, ein bisschen trotzig.

    »Oh, du hast gar keine andere Wahl. Spätestens morgen Nacht wirst du total hungrig aufwachen. Und als Vampir kannst du nur Blut zu dir nehmen. Das Blut anderer ist unser Leben«, sagte sie mit einem mitleidigen Blick auf ihrem fahlen Gesicht.

    Hoffnungslos überfordert blickte er zu Boden.

    »Wie heißt du eigentlich?«, wechselte Silvia wieder das Thema.

    »Ich habe keinen Namen. Ich habe nur eine Nummer, die mir als Häftling verliehen wurde«, antwortete er. »Mit dieser Nummer wurde ich angeredet.«

    Sie zögerte, dann sagte sie: »Hmmm... in Ordnung, mit welcher Zahl fängt diese Nummer an?«

    »Sieben«, sagte der neue Vampir.

    »Gut, dann nenne ich dich ab jetzt Septimus«, sagte sie, und damit war die Sache beschlossen.

    Zwei: George B.

    Jemand musste George B. verraten haben, denn ohne dass er etwas Böses, obgleich etwas Verbotenes getan hatte, erhielt er an diesem Morgen die doppelte Ration an Drogen, als er am Eingang des Lagers stand. Der Portier überwachte diesmal sogar, dass er auch alle Medikamente herunterschluckte und prüfte, ob B. diese auch nicht unter der Zunge versteckt hielt, so als ob er jetzt der Gefangene sei.

    Dabei war George B. doch ein Aufseher im Lager des Verwaltungsbezirks 22. Er hätte brüskiert sein können. B. wusste nicht einmal so richtig, warum er gestern die Pillen, die dafür sorgen sollten, dass er sich selbst disziplinierte und sachgerecht sowie mitleidlos seine Arbeit ausführte, nicht genommen, sondern in seiner Tasche hatte verschwinden lassen. Er wusste nicht, ob dies einfach nur aus Langeweile geschehen war oder ob er den brutalen und redundanten Arbeitsalltag einfach satt oder das Bedürfnis verspürt hat, seinen Job einmal clean und unverzerrt wahrnehmen zu können, sozusagen als Selbstversuch. Doch das war dem Wärter nun einerlei. Tatsache war, dass ihm gestern ein Fehler unterlaufen war, der offensichtlich nicht unbemerkt geblieben war.

    B. trug eine Militäruniform in Erdfarben und war ausgestattet mit einer Laserpistole, einem elektrischen Schlagstock und einem Mobiltelefon ohne Internetverbindung, welches nur auf dem Lagergelände Empfang hatte. Er war zu der Auffassung gelangt, dass die Mütze, die er auf dem Kopf trug, seine hohen spitzen Wangenknochen, seine blauen klaren Augen und die vollen Lippen seines Erdbeermundes, nach dem so viele Frauen gierten, gut zur Geltung brachte. Auch sein durchtrainierter und muskulöser Körper wirkte in der Uniform noch stattlicher und eindrucksvoller, fand er. Bisher war B. zumindest deswegen stolz auf seinen Beruf gewesen. Doch nun hatte er die Drogen abgesetzt. Wer hatte das gewusst?

    Ohne die Zeit zu haben, sich auf diese Frage zu konzentrieren, passierte er das große metallene Eingangstor des Internierungslagers und begab sich flott zum Appellplatz, wo in Kürze die morgendliche Zählung durchgeführt werden würde.

    Der Appellplatz war ein halbrundes Gelände mit Kiesboden im Norden des Lagers. Das Lager selbst war von hohen Mauern mit elektrischem Stacheldraht und Wachtürmen umgeben. Von dem Platz weg führten, wie Sonnenstrahlen, Alleen mit Plastikbäumen, die vor allem bei sengender Hitze dem Wachpersonal Schatten spendeten. Außerdem vermittelten sie dem ansonsten brutalistischen Komplex eine künstliche Idylle, der die Internierten aber nicht so recht vertrauen wollten. Echte Bäume wuchsen in dieser Umgebung nicht. Die Natur war zu zerstört. Neben den Bäumen befanden sich jeweils zweistöckige und hundert Meter lange graubraune Gebäude mit großen Fenstern. Das waren die Wohntrakte, die Küchen sowie die sanitären und medizinischen Anlagen für die Inhaftierten, die B. sechs Mal pro Woche beaufsichtigte.

    Als der Aufseher den Platz betrat, fing gerade der Morgenappell an. Dazu lief lautstark Kindermusik. Das war das Signal für die Häftlinge, die Wohnbaracken zu verlassen und sich auf dem Platz aufzustellen, nach ihren Nummern geordnet. Dadurch fiel es den Wärtern leichter auszumachen, ob einer fehlte. Zwei Appelle pro Tag hielten die Internierten fit, sorgten für soldatische Disziplin und ließen sie jeden Tag erkennen, welchen Platz sie im System und der Hierarchie einzunehmen hatten. George B. verteilte hier und da noch ein paar Tritte und Schläge mit dem Stock an einige, die sich nicht schnell genug aufstellten. Nachlässigkeit konnte nicht geduldet werden, denn dies führte nur zu Ineffizienz. Und das wäre absolut inakzeptabel. Denn schon an der Eingangstür des Lagers stand geschrieben: Disziplin und Ordnung.

    Als die Kinderlieder verstummten und sich schließlich alle Häftlinge aufgestellt hatten, konnte man ein lautes selbstgefälliges Surren in der Luft hören. Es stammte von den Überwachungsdrohnen. Diese hatten Kameras nach allen vier Seiten. Sie waren unterhalb der Propeller angebracht. Lasergeschosse befanden unterhalb des Rumpfes, mit denen die Drohnen eingreifen konnten, wenn der Betrieb gestört wurde. Im Grunde übernahmen diese Drohnen schon einen Großteil von B.s Arbeit, dennoch legte die Lagerleitung Wert darauf, dass weiterhin eine gewisse Anzahl an menschlichen Aufsehern direkt mit den Internierten in Kontakt trat. Gleichzeitig wurde damit ein digitales und mobiles Panoptikum geschaffen, ergänzt um eine analoge Überwachung durch Fachkräfte wie George B.

    Mit leichtem Ekel im Gesicht sah er, wie die Häftlinge mit hoffnungslosem Blick steif dastanden. Für ihn waren sie keine Menschen, ein notwendiges Übel, um die fortschrittliche europäische Gesellschaft zu Beginn des zweiundzwanzigsten Jahrhunderts am Laufen halten zu können. Sie waren Humanmaterial, Futter für die Vampire. Kurz gesagt, B. glaubte, er verfütterte minderwertige Wesen an Dämonen. Er hielt es für keinen tollen, aber einen unbedingt nötigen Job; und er wurde obendrein auch noch gut bezahlt, und das war das Wichtigste in dieser Zeit.

    Vampire waren lange vor George B.s Geburt aufgetaucht. Es musste so vor etwa 60 Jahren der Fall gewesen sein, einer Zeit, als sich der Kontinent ohnehin im Umbruch befunden hatte. Die Untoten waren plötzlich da gewesen und hatten die Menschen angegriffen. Wie ein gemeiner Wolf ein Reh, hatten sie einfach Leute von der Straße gerissen und ihnen nachts das Blut ausgesaugt. Deswegen hatte Europa Krieg gegen diese Wesen führen müssen, so hatte er es im Internet gelesen. Tatsächlich verbrannten die teuflischen Wesen bei Sonnenlicht, sodass es dem Militär hin und wieder gelungen war, tagsüber einige der Aufenthaltsorte dieser Terroristen ausfindig zu machen, und sie der Sonne auszusetzen, bis sie innerhalb von wenigen Minuten verbrannt waren. Doch diese Bestien waren auch stark, schnell, zäh und den Menschen körperlich überlegen. Knapp 20 Jahre hatten die Europäer wohl mit den Vampiren Krieg geführt; es hatte viele Opfer gegeben, ohne dass sich ein Gewinner abgezeichnet hätte.

    Da kamen die Vorstandsvorsitzenden der europäischen Großkonzerne auf eine brillante Idee: nämlich die eines Friedensvertrags. Schließlich regelten zivilisierte Völker – und als solches verstanden sich ja immerhin die Europäer – jeden Konflikt und jedes Blutbad vertraglich. Der ist jetzt seit vier Jahrzehnten in Kraft. Darum war auch B.s Job so wichtig. Er arbeitete an der Schnittstelle zwischen Menschen und Vampiren. Denn der Vertrag regelte, dass die Vampire seitdem nachts für die Unternehmen arbeiteten und somit etwas zur europäischen Wirtschaft beitrugen. Dafür hatten die regierenden Konzerne Europa den Vampiren zusichern müssen, die vampirischen Unterkünfte zu schützen und sie täglich mit Nahrung zu versorgen. Was für billige Arbeitskräfte! Der europäisch-vampirische Vertrag sorgte nun für einen kalten Frieden zwischen beiden kriegsmüden, aber sich kritisch taxierenden Gegnern. Um das entsprechende Humanmaterial liefern zu können, hatten einige Konzerne die Lager bauen lassen. Die dort zur Verfügung stehenden Menschen wurden im Alter von 29 Jahren an die Vampire verfüttert. Und es gab keinen Grund, die Internierten nicht auch vorher arbeiten zu lassen. Sie waren dabei billiger als die meisten Arbeitsroboter.

    Nun hieß es, die Häftlinge zu ihren Arbeitsplätzen zu bringen. Am anderen Ende des Lagers befanden sich Hallen, in denen die Häftlinge militärische Maschinen bauen mussten. Mit ein paar Schlägen und dem Surren der Drohnen, das den Häftlingen die totale Überwachung vergegenwärtigte, marschierten sie mit B. vom Appellplatz in die Arbeitshallen.

    Da es George B.s Pflicht war, sowohl die Internierten zu beaufsichtigen, als auch hin und wieder diese und ein paar Schweine an die Vampire zu liefern, war es nur natürlich, dass er sich für die Untoten interessierte. Doch er hatte nichts Valides über ihren Ursprung herausfinden können. Im Netz und in den Dateien der Lagerarchive – zumindest jene, zu denen er Zugang erhielt – gab es keinerlei Informationen dazu. Also hatte er im Netz alle möglichen Bücher zum Vampirismus gesichtet. George B., der eigentlich nie ein großer Freund des Lesens gewesen war, hatte sich sogar Romane dazu angesehen: von Bram Stokers Dracula, über kitschige Liebesromane über Vampire, die Anfang des 21. Jahrhunderts die Geister weiblicher Teenager und Spießermütter vernebelt hatten, bis zu den Sagen, die den heroischen Kampf von Vampirjägern während des zwanzigjährigen Krieges schilderten – obgleich der Aufseher die historische Existenz solcher Jäger bezweifelte. Doch aus all diesen Texten hatte er über die echten Vampire nicht viel Valides entnehmen können. Klar, sie tranken Blut, hatten spitze Fangzähne, waren untot und starben bei Sonnenlicht. Vielleicht würden sie als Untote auch nicht Altern und nicht auf natürlichem Wege sterben. Doch auch diese Information war unsicher. Erwiesen war inzwischen, dass Silber, Holz oder Knoblauch nicht gegen Vampire halfen.

    Freilich gab es allerlei Klatsch auf den Straßen, woher die Vampire kamen. Verschiedene Gerüchte hielten sich bis heute und drangen an George B.s Ohren, doch auch hier überzeugte ihn keines so wirklich. Manch einer glaubte, es handle sich um eine Seuche, die beispielsweise per Wasser oder Luft übertragen worden war und die Menschen zu Vampiren mutieren ließ. Doch warum waren dann nicht alle oder zumindest viele Leute einer bestimmten Region infiziert worden, und warum waren sie dann untot und nicht einfach nur krank oder tot? Manch einer glaubte, dies sei jetzt die Strafe Gottes für die maßlose Dekadenz der Menschheit oder gar die Einleitung der Apokalypse. Dies wäre dann nur die Konsequenz daraus, dass der Mensch den Planeten Erde zerstört und die meisten Ressourcen verbraucht hätte. Doch erstens fehlte jeder Beweis, zweitens würde Gott wohl keine Dämonen beschwören, und drittens stand die Welt auch noch Jahrzehnte nach dem Auftauchen der Vampire. Manch einer glaubte, einige Menschen seien einen Pakt mit dem Teufel oder einem anderen dämonisch-metaphysischen Wesen eingegangen, um als Vampire die Bevölkerung zu töten. Doch warum sind die Untoten dann in einen Vertrag mit Regierung und Konzernen getreten und haben es nicht auf die totale Vernichtung des Feindes abgesehen? Manch einer munkelte gar unter vorgehaltener Hand, ein Bio- oder Chemiekonzern hätte ein Vampir-Gen oder einen Virus erfunden und einigen Leuten eingeflößt, um die Gesellschaft zu spalten und strikter regieren zu können. Doch für diese Verschwörungstheorie fehlte jeder Beweis. Und wo war hier außerdem noch die Verhältnismäßigkeit zwischen Kosten und Nutzen für besagte Konzerne? Kurz gesagt, nach einigen Recherchen war George B. kaum weiter gekommen über den Ursprung der Vampire. Er wusste nicht einmal, ob sie erst im einundzwanzigsten oder zweiundzwanzigsten Jahrhundert entstanden waren oder schon vorher und sich erst später stark reproduziert haben. Aber wenn letzteres zutraf, warum war das nicht schon hundert oder zweihundert Jahre früher geschehen? Warum haben in diesem Falle die Vampire Großereignisse der Zerstörung, wie den Zweiten Weltkrieg, nicht genutzt, um der Menschheit bei der gegenseitigen Vernichtung zu helfen, um daraufhin die Macht zu erlangen?

    Gegen die meisten Thesen, wie dem Pakt mit dem Teufel oder der Strafe Gottes sprach, dass eben schon lange vor dem offiziellen Auftauchen Autoren in Fiktionen Vampire beschrieben hatten, es also keine metaphysische, übermenschliche Reaktion auf die letzten Jahrzehnte darstellen kann. Klar war B. nur: Die Untoten waren da und hatten einen Vertrag mit den Menschen. Und B. sowie seine Kollegen waren dafür verantwortlich, dass von europäischer Seite alles glatt ging.

    Doch dann war ihm gestern Nacht dieser Fauxpas passiert.

    »Stehen Sie stramm, wenn ich mit ihnen rede!«, brüllte ihm jemand ins Ohr und holte ihn damit aus seinen Träumereien.

    Es war der Lagerkommandant. B. salutierte und entschuldigte sich kleinlaut. Er wusste, dass sein Vorgesetzter ihn hasste und gerne seinen Frust an ihn ausließ.

    »Seien Sie nicht immer so abwesend, Aufseher B.!«

    »Entschulden Sie, Mister Kommandant.«

    »Aufseher B., die Lagerleitung verlangt, Sie unverzüglich zu sprechen! Ich vermute mal, es geht um Ihre Nachlässigkeit gestern Nacht«, sagte sein Vorgesetzter in einem abgehakten Ton.

    Die arrogante Schnoddrigkeit war fast mit Händen zu greifen. Auch die Schadenfreude des Kommandanten war kaum zu überhören.

    »Jawoll, Mister Kommandant«, skandierte George B. und machte sich auf den Weg, nicht ohne noch einen Häftling grundlos, wie er zugeben musste, den elektrisierten Stock über den Schädel zu ziehen.

    Man gönnte sich ja sonst nichts.

    Das Büro der Lagerleitung befand sich

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