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Liebe Familie: Veränderungen
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eBook297 Seiten4 Stunden

Liebe Familie: Veränderungen

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Über dieses E-Book

Leona und Tom haben es sich schön eingerichtet mit ihrer Familie. Die Kinder sind glücklich. Das Hotel "Zum Sonnigen Garten" läuft gut. Tom plant erstmals wieder eine Tournee für den Spätsommer 2001, er hat einen australischen Musiker kennengelernt und probt begeistert eine andere Musikrichtung.

Dann geschehen die Terroranschläge am 11. September 2001 und haben auch Auswirkungen auf die deutsch-amerikanische Familie mitten im friedlichen Niedersachsen. Diese Veränderungen sind für alle nur schwer zu akzeptieren und wirbeln das fröhliche Familienleben ganz schön durcheinander.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum4. Feb. 2013
ISBN9783844247923
Liebe Familie: Veränderungen

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    Buchvorschau

    Liebe Familie - Linda Fischer

    Über das Buch:

    Leona und Tom Reuenthal haben sich das Leben mit ihren Kindern eingerichtet. Der Künstler Tom plant seine Tournee für den Spätsommer 2001. Es könnte alles so schön sein – doch dann geschieht der 11. September. Die Auswirkungen der Terroranschläge in den USA setzen sich bis in das Leben der deutsch-amerikanischen Familie fort …

    Impressum:

    Liebe Familie – Teil 2: Veränderungen

    Linda Fischer

    Copyright: © 2013 Linda Fischer

    published by: epubli GmbH, Berlin

    www.epubli.de

    ISBN 978-3-8442-4792-3

    Es war der schönste Urlaub ihres Lebens – vier Wochen reiste Leona mit ihrem Mann durch Australien. Sie riefen jeden Tag zu Hause an. Manchmal gestanden sie sich etwas verschämt ein, wie schlecht ihr Gewissen war – zumal der Jüngsten gegenüber, Tessa, die ja erst wenige Monate alt war. Aber die Familie äußerte sich bei jedem Anruf begeistert über ihre Erlebnisse und meinte nur, beim nächsten Mal seien dann eben alle dabei.

    Sie nutzten ein Hotel in Sydney für die ersten Tage und fuhren dann mit einem Wohnmobil über Land. Zum ersten Mal waren sie 24 Stunden täglich zusammen – ohne ihre Kinder. Leona fand jede einzelne Stunde wunderbar. Tom erwies sich als perfekter Kamerad – bei Regen wie bei Sonnenschein. Sie erlebten einen tropischen Regenschauer in Sydney, während sie im Explorer – dem Sightseeing-Bus – die Stadt erkundeten. Auch bei ihrem Taronga-Zoobesuch regnete es ab und zu etwas, und sie hatten eine Gewitternacht in Adelaide. An allen anderen Tagen begleitete sie strahlender Sonnenschein. Leona würde diese herrliche Zeit im Mai 2001 nie vergessen, das wusste sie genau.

    Mit Hunderten von Bildern kamen sie heim: Tiere, vor allem Vögel, Pflanzen, die Landschaft. Leona hatte im Aborigine-Center in Adelaide und am Uluru Kunst eingekauft. Namen wie Coober Pedy, Nitmiluk National Park und Anbangbang Billabong gingen ihr ganz geläufig über die Lippen.

    Die Rückkehr in den Alltag fiel ihr nicht leicht. Tom musste seine Konzertreise vorbereiten. Er telefonierte viel, trainierte mehr – eigentlich erlebten sie ihn erstmals als Vollblut-Musiker, der für anderes wenig Zeit hatte. Aber es war auch so schön – mit Musik, Tanz und Gesang den ganzen Tag. Felix hatte Urlaub von der Bundeswehr. Den nutzte er teilweise, um im Hotel zu arbeiten für die Übergangszeit, denn Tom stellte ab Pfingsten die Arbeit im Hotel ein.

    Serena war jetzt 15. Auf sie sollte nach den Sommerferien ein neuer Abschnitt zukommen – mit mehr Schule: Jeden Freitag und Sonnabend würde sie nun auf die Musikhochschule in Hannover gehen. Tom hatte bereits ein Hotel in der Nähe der Hochschule ausgesucht.  Er war davon überzeugt, das Mädchen müsse sich an Wettbewerbe und andere ähnlich begabte Kinder ihres Alters gewöhnen, auch an solche, die noch viel mehr konnten. Darüber war die schüchterne Rena nicht glücklich, doch Tom versprach ihr, sie zu begleiten, so oft er konnte. Zunächst entlockte er ihr damit ein Lächeln, dann dachte sie nach und kam auf den Fehler in dieser Berechnung.

    „Aber du gehst ja bis zum 1. Advent auf Tournee, stellte sie plötzlich fest und machte ein unglückliches Gesicht. „Dann fährt Felix mit, Liebling. „Fix? Nee. Felix ist viel zu alt für mich, jammerte Rena und guckte mit unschuldigen Kinderaugen verzweifelt ihren Stiefvater an: „Und er geht dann ja auch nach Schweden.

    Der Mann lachte leise vor sich hin. „Spätzchen, du bist eine Schauspielerin. Denk doch mal nach. Dein Bruder wird demnächst 21. Ich bin doppelt so alt. „Aber du bist ein Künstler. Fix wird irre, wenn ich diskutieren will über … du weißt schon, Ravel oder Bach. Du weißt wenigstens ganz viel über klassische Musik. „Mehr als dein Bruder, ja, das hoffe ich doch, schmunzelte Tom. Rena verstand den Spott sehr wohl und kicherte: „Aber es ist echt eine Katastrophe mit Felix. Also wenn der mit käme. „Dann gehst du eben allein." Aber genau das wollte sie eigentlich nicht.

    Für ihre Mutter war die Vorstellung, Tom demnächst wochenlang auf Reisen zu wissen, noch übler. Je näher der Termin rückte, desto seltsamer fühlte sie sich bei dem Gedanken. Im August vergaß sie es eine Weile: Das Hotel war voll, und sie hatte mehr als genug zu tun. Familie und Hotel füllten sie vollständig aus.

    ***

    Anfang September 2001 bekamen sie Besuch: David Blanasi, ein australischer Musiker mit englischstämmiger Mutter und Aborigine-Vater. Er hatte ein gemeinsames Projekt mit Tom für die Tournee: „Jazz goes didgeridoo". Sie saßen in Toms Haus im Dorf und versuchten sich an verschiedenen Melodien. Ab und zu hatten sie Zuhörer.

    Aus ihrem Freundeskreis war besonders Journalist Michael Röttger sehr interessiert. Er liebte Jazz. Schon deshalb war er eher skeptisch eingestellt, nachdem Tom von seinem Didgeridoo-Partner erzählt hatte, wie er ihn zufällig unterwegs in Australien kennengelernt hatte.  Auch Leona mochte David Blanasi, und Tom zog sie damit auf, dass sie sich wohl Hals über Kopf verliebt habe. Darüber kicherte sie nur. David guckte etwas schräg, lachte dann aber mit.

    Nicht nur die Kinder kreuzten also neugierig auf, so oft Tom es erlaubte. Auch Michael bat um eine Hörprobe. Doch Tom wollte nicht, dass er vor der Tournee schrieb, was geplant war. Sie einigten sich darauf, mit dem Artikel im Dorfblatt noch zu warten.

    „Und nenn mich bloß nicht Sohn der Stadt oder so. „Du bist in Frankfurt geboren, nicht hier im Dorf, das weiß ich doch, verteidigte sich Michael: „Und ein Foto will ich auch. „Ich hasse Fotos. Ich will auch nicht irgend welche durchgeknallten Kollegen von dir hier vor der Tür treffen. Es wird für Leo und die Kinder schwer genug sein in meiner Abwesenheit und … „Verstehe ich. Gerade Leo, die Öffentlichkeit so gar nicht erträgt. Also setze ich das im Oktober ins Blatt. Wenn du schon bei den Proben bist. Dann nerven sie nicht. Okay? Aber später nicht. Ein bisschen vor allen anderen muss ich das haben. „Klar, kein Problem. Meinetwegen Anfang Oktober, als Exklusivstory. Das wiederum verstehe ich. Tom atmete durch – diese freundliche Einigung sagte ihm zu.

    Michael lachte auf: „Was du über mich denkst … „Du bist Journalist, sagte Tom ernst. „Ja. Aber wir sind seit Jahren befreundet. Außerdem – ahnst du, was die Kinder alles reden, wenn wir beim Abendessen sitzen mit deinen Mädchen wie vor drei Tagen? Spannend für einen Journalisten und die Klatschspalte. Aber … ich bin dein Freund."

    Einige Sekunden herrschte geradezu tödliche Stille. Dann lächelte Tom jäh und winkte ab. David Blanasi sah von einem zum anderen. Er spürte, auch ohne Deutsch zu können, wie sich Ton und Einstellung beider änderte.

    Auch am 11. September 2001 saßen die beiden Musiker zusammen und arbeiteten. Die erste in der Familie, die vom Terror in New York hörte, war Leona – im Hotel. Sie sah auf den Fernsehschirm und traute ihren Augen nicht, als die beiden hohen Türme des World Trade Centers nacheinander einstürzten. Eine dichte Staubwolke trieb über Manhattan.

    Samantha rief kurz danach an. Sie hatte ihren Geburtstag in Göttingen feiern wollen, doch diese Pläne fielen ins Wasser. Niemand hatte Lust zu einer Party. Das Mädchen weinte am Telefon. Leona tröstete sie, so gut es ging.

    Plötzlich, nach diesen Gespräch, fiel ihr ein, dass es noch einen Amerikaner in ihrer Familie gab, der mutmaßlich nichts über diesen Anschlag wusste. Sie riss sich von den grausamen Fernsehbildern los und fuhr nach Hause. Tom war nicht da. Zini hütete die Jüngsten. Leona schärfte ihr ein, den Fernseher nicht einzuschalten, und fuhr ins Dorf.

    Dort war kaum jemand auf der Straße. Das Attentat war ja vor einiger Zeit passiert. Inzwischen dürfte es sich herumgesprochen haben, dachte sie besorgt. Wie konnte sie ihrem geliebten Mann davon erzählen? Er litt ohnehin unter Klaustrophobie, nachdem er selbst eine Katastrophe nur knapp überlebt hatte.

    In Toms Haus lief längst der Fernseher. Er saß im Wohnzimmer, zusammen mit David Blanasi. CNN lief: Breaking news – America under attack. Wieder und wieder erzählten die Reporter von den beiden Flugzeugen, die ins WTC gekracht waren, ein weiteres ins Pentagon, und noch eins war in Pennsylvania abgestürzt.

    Ohne jedes Wort setzte sich Leona zu den beiden aufs Sofa. Tom sagte nichts. Nach ein paar Minuten fragte sie vorsichtig: Kennst du … jemanden, der …? „Zwei Mitarbeiter von David Blumenstein. Du weißt – mein Anwalt in Boston … „Ist er gerade da? „Nein. Ich habe die beiden vor ein paar Jahren besucht, als ich in New York war. „Wo genau? „113. Etage."

    Wenn sie an diesem Tag dort gewesen waren, waren sie jetzt tot. Dessen war sie sich bewusst. Wortlos nahm Leona Toms Hand. Er sah sie an: „Ich habe schon versucht, bei Dave anzurufen, aber … ich komme nicht durch. „Und deine Familie? „Alles in Ordnung. Jennys Mann ist heute zufällig in Washington, aber er hat nichts bemerkt. Er war in Arlington." Dann schwieg er wieder.

    Leona stellte keine Fragen mehr. Sie erkannte, dass er nicht sprechen konnte. Sie rief im Hotel an, erklärte, wo sie war, und sagte, sie müsse an diesem Tag daheim sein und Tom vorm Fernseher. Er sollte eine Chance haben, jeden anzurufen, mit dem er zu sprechen wünschte. Für einen Tag musste ihr ihre Familie wichtiger sein als das Hotel.

    Die nächsten Tage dehnten sich seltsam lang. So wortkarg kannten sie alle Tom nicht. Rena und Zini verschreckte besonders, dass amerikanische Einrichtungen in Deutschland besonders bewacht wurden – nicht nur Militärgebiet, sondern auch kulturelle Gebäude und die Botschaften. Bei ihnen war die Hälfte der Familie US-amerikanisch, und so wollten die Mädchen wissen, ob ein Terrorist kommen würde, um sie zu überfallen.

    „Quatsch, sagte ihre Mutter unwirsch und fuhr sachlich fort: „Geht zur Schule. Träumt nicht von arabischen Killern im Keller. Wer sich hier rein wagt, der erlebt mit mir die Überraschung seines Lebens. Niemand lächelte.

    „Aber, Mama, die sagen, dass das für Amerika ist wie Pearl Harbour. „Richtig, bestätigte Tom. Leona schaute ihn an, überlegte kurz und schüttelte den Kopf: „Nee. Quatsch. Das war Krieg. Der Angriff auf Pearl Harbour, meine ich. „Jetzt ist auch Krieg, erwiderte ihr Mann verärgert. „Nein, Tom. Pearl Harbour war anders. Ein Land griff ein anderes an. Jetzt sind es Terroristen. Das ist was anderes. Ich finde zwar nicht das richtige Wort dafür, aber mit Krieg kannst du das nicht vergleichen. „Und ob ich das kann.

    Zum ersten Mal waren sie völlig uneins. Auch das erschreckte ihre Kinder. Sie wussten damit nichts anzufangen. „Mama, ist es … gefährlich für uns? „Quatsch. Niemals, Leona begann zu lachen. „Möglicherweise", warnte Tom dagegen.

    In Renas Kopf wirbelte es. „Terroristen sind schlimm. Die gibt’s in Deutschland auch. Ich habe von der RAF in Deutschland gelesen. In den 70er Jahren", in den klaren Augen stand so etwas wie Panik.

    „Spätzchen, die sind alle im Gefängnis, Leona warf Tom einen ernsten Blick zu. Zini knabberte an der Unterlippe: „Die Terroristen von jetzt nicht. „Und Papa ist berühmt. Und amerikanisch. Ich auch", meinte Jason.

    Damit bekam er alle mundtot. Nicht mal Leona fiel dazu etwas ein, das ihren Kindern nützlich und hilfreich gewesen wäre, von Trost ganz zu schweigen. Sie dachte nach. „Ja, okay. Das sehe ich ein. Das könnte ein Problem sein. Wenn wir es zulassen. Aber ich hoffe, wir leiden hier in Deutschland nicht zu sehr", sagte sie schließlich zögernd. Tom schwieg dazu.

    Leona seufzte: „Gott helfe uns – bloß keinen dummen Krieg. Ihr Mann fuhr auf: „Gott? Wo war dein Gott, als die Flugzeuge ins World Trade Center flogen? „Tom! „Ich kann nicht an deinen Gott glauben, der zulässt, dass Tausende sterben wegen einiger Terroristen. Er schrie sie fast an. Die sonst so schöne, warme Stimme klang eisig und böse. Zini zog den Kopf ein. Rena zitterte etwas. Jason schaute lieber keinen mehr an.

    Es war an Leona, etwas zu finden, das ihn quasi auf den Teppich holte. „Tom, bitte. Gott lässt das zu, weil er daran glaubt, dass wir Menschen selbst die Verantwortung tragen. Er lässt uns selbstständig sein. Er lässt uns die Wahl. Ihr Mann schnaubte nur verächtlich. „Wir wählen falsch, wenn wir uns für Krieg und Terror entscheiden. Aber das heißt nichts. Gott ist gut. „Gut? Das ist irre, Leo. Total verrückt. Und falsch."

    Rena erkannte es als erste: Diese Diskussion brachte niemanden weiter. Vorsichtig fasste sie nach Leonas Arm: „Mama, müsst ihr euch weiter streiten? „Nein, Schatz, müssen wir nicht. Tom? „Ja, schon gut. Doch er hatte seine Probleme, auch wenn er höflich blieb: „Ich streite nicht mit deiner Mutter, Süße, wir unterhalten uns nur.

    Auch die musikalischen Proben mit David Blanasi zogen die Ereignisse eindeutig in Mitleidenschaft. David verstand jedoch, welchen Schlag die Amerikaner hatten hinnehmen müssen. Zum ersten Mal sah er, dass Tom mehr Amerikaner als Deutscher war.

    Am Wochenende kamen Samantha und Markus aus Göttingen. Sie hatten eigentlich Sams Geburtstag – ausgerechnet am 11. September – nachfeiern wollen mit der Familie. Ihre Feier in Göttingen war schon völlig in die Binsen gegangen wegen der Terroranschläge, berichteten sie traurig. Leona sah ein, dass ihr Trost rein gar nichts gebracht hatte.

    Noch immer schockiert saßen Familie und Freunde zusammen. Die offene Diskussion drehte sich auch um Religion und Fanatismus. Uwe Holzschuh, der Polizeibeamte, war Jude, seine Frau Protestantin, ebenso auch Leona und ihre Familie. Leona blieb bei ihrem Glauben, und Tom glaubte an nichts. Seine Frau hatte an diesem Tag afghanische Flüchtlinge dazu gebeten – sie erzählten von ihren islamischen Wurzeln. Der Sohn der Afghanen ging in eine Klasse mit Jason. Sie kannten sich vom Elternabend.

    In einem waren sich alle einig: Die Ereignisse in den USA waren furchtbar, die Attentate das falsche Signal, denn sie richteten sich gegen alle Menschen. Leona und Michael teilten die Argumente: „Terror ist die Sache weniger Irrer, die Attentate für Zeichen halten. „Attentaten sind Zeichen für Unmenschlichkeit, sonst nichts. „Wir können nicht hinnehmen, dass Terroristen unser Leben bedrohen oder unsere Taten bestimmen wollen." Tom schwieg dazu. Er hatte genug von diesem Thema.

    Am Montag nach den Terroranschlägen arbeitete Leona bis zum späten Abend. Ihr Mann war zu Hause und hütete die Kinder. Er schaffte es immer, freundlich mit Tessa und Jason umzugehen, allerdings redete er kaum. Doch den beiden Jüngsten genügte es, den Vater in der Nähe zu wissen – erreichbar, wenn nötig.

    Als sie gegen 23 Uhr ankam, stand Tom an der Terrassentür. Die großen französischen Fenster waren weit geöffnet. Es war eiskalt im Wohnzimmer, draußen regnete es. Doch er lehnte am Türrahmen und atmete keuchend, fast grün im Gesicht. Leona sah ihn besorgt an. Dies wirkte sehr ernst auf sie. Sie ahnte, dass sein Zustand mit seinen Erinnerungen zu tun hatte, mit Klaustrophobie und posttraumatischem Schock. Er musste irgendwie zu seiner Ruhe finden, zu sich selbst und zu seiner Vernunft.

    „Rühr dich nicht, ich bin sofort wieder da", sagte sie und rannte zur Garderobe.  Sie sprang eilig in ihre Schuhe, zog ihre Jacke wieder über und schnappte sich eine dicke Jacke für ihn. Tom zog die Jacke an, als sie sie ihm hin hielt. Sie packte ihn am Arm, zog ihn hinaus in den Garten über die Terrasse, rund ums Haus, auf die Straße und über nasse, dunkle Waldwege. Es war finster, nur einige wenige Straßenlampen spendeten ausreichend Licht für diesen Weg. Der Regen tropfte von den Bäumen. Bald war sie trotz ihrer Jacke völlig durchnässt.

    Nach etwas mehr als einer halben Stunde blieb Tom urplötzlich auf einer Brücke über einen kleinen Fluss stehen. „Warte", sagte er leise. Sie sahen auf das Wasser hinunter. Das Licht der Straßenlampen spiegelte sich. Das Wasser wirkte dunkel, doch an einigen Stellen glitzerte es vom Licht.

    Tom blieb ruhig stehen. Ohne jedes Wort umarmte er sie fest. Leona hielt ihn umfangen. Seine Traurigkeit war kaum erträglich für sie. Doch vielleicht spülten ein paar Tränen das Schlimmste fort. Sie streichelte seine nassen Haare und weinte mit.

    Schließlich hob er den Kopf. „Besser jetzt? fragte sie liebevoll. „Nein. Aber du bist da. Es hätte schlimmer kommen können. „Es ist schlimm genug, wie es ist, Tom. „Ich bin eine Belastung für dich, ich weiß. „Nein, bist du nicht. Es ist nur … Du bist krank davon, und die Kinder … Ich kann ihnen doch nicht sagen, dass alles in Ordnung kommt, während es dir so …"

    Ihr fehlten die passenden Worte. Sie lächelte ihn traurig an. „Mies geht. Ja, Leo. Verzeih mir, sagte er und fuhr dann fort: „Und ich glaube, wir haben alle Türen zu Hause offen gelassen, oder?

    Leona stieß einen leisen Entsetzensschrei aus: „Nein! „Ich glaube, wir laufen lieber mal schnell wieder nach Hause, schlug Tom vor, und seiner Stimme war zum ersten Mal seit Tagen wieder etwas Heiterkeit anzuhören.

    Sie waren beide völlig außer Atem, als sie zu Hause ankamen. Doch zum ersten Mal seit Tagen lachten sie wieder. Nichts war passiert. Ihre Kinder schliefen allesamt ruhig. Tom sah überall nach, während sie sich die durchnässte Kleidung mitten im Wohnzimmer vom Körper zerrte.

    ***

    Die Terroranschläge brachten für Tom eine Veränderung mit sich, die er bisher nicht bedacht hatte. Zunächst war er stocksauer, als David Blumenstein ihm erzählte, wie viele Bodyguards er diesmal für die Tournee organisiert hatte. Doch dann dachte er an seine Familie – und ließ sich einen für die Waldvilla empfehlen. Leona gegenüber sprach er von einem „Chauffeur und „Kindermädchen. Allerdings war sie längst nicht naiv genug, um ihm das abzunehmen, als er den Vorschlag das erste Mal machte.

    „Du hast einen amerikanischen Chauffeur für unsere Schulkinder bestellt? „Ja. „Der hier abends, wenn ich arbeite, als Kindermädchen einspringen soll? „Ja. „Rena ist 15 und Zini 14. Die brauchen kein Kindermädchen. Und wir brauchen auch keinen Babysitter, weil sie alt genug sind, sich um ihre jüngeren Geschwister zu kümmern. „Doch. Das ist nötig. Denn Rena fährt ja jeden Freitag bis Samstag nach Hannover.  „Mit Felix. „Ich glaube, der Große hat längst eigene Pläne. „Und ich glaube, du hängst mir gerade einen eigenen Bodyguard auf. Mir und den Kindern."

    Sein Blick verriet ihn. Leona musterte ihn verärgert: „Du bist wirklich unmöglich. Ich habe keine Lust auf einen Bewacher. Das ist nicht witzig, fuhr sie ihn an, als er etwas schmunzelte. Ihr Mann setzte rasch wieder eine ernste Miene auf. „Liebste, ich bin nicht ganz sicher … „Aber ich. Bombensicher, Tom! „Nur als Chauffeur. Wenn du ihn hier nicht haben willst, lassen wir ihn in meinem Haus im Dorf wohnen. „Vielen Dank – aber ich will überhaupt niemanden haben. Völlig überflüssig. „Ist es nicht. „Tom, das ist hier kein Kriegsgebiet. „Schätzchen, bitte, sei nicht so. Ich lasse dich nicht hier allein sitzen – mit vier Kindern, dem Hotel … Wir müssen uns die Verantwortung teilen, und da ich nicht hier sein werde …

    Sie fiel ihm etwas beleidigt ins Wort: „Tom, ich hab’s längst schon allein mit vier Kindern geschafft. Zwei Jahre lang. „Nicht mit einem Baby. „Auch das habe ich schon geschafft. Während Dennis in Schweden für Mats gearbeitet hat. Da war Rena 4 und Zini 3, und Felix mal gerade 10, unsere sind fast alle älter … „Eins ist wesentlich jünger. Vielleicht hilft er ja hier im Haushalt mit. Schmeißt die Waschmaschine an und so … „Ich will ihn nicht! „Aber ich habe ihn schon bezahlt. Leo, bitte. David hat ihn gut ausgesucht. Er kann Deutsch. Er wird dir gefallen. „Ein Mann im Haus? Ha!"

    Nach diesem Ausruf war es erst einmal still. Dann gewann der Lachreiz. Sie sahen sich an und prusteten beide los. Der Streit war damit beendet, zur Erleichterung ihrer Kinder, die es nun auch ganz lustig fanden.

    Doch wirklich erfreut war Leona nicht darüber, einen Leibwächter quasi vor die Nase gesetzt zu bekommen. Der erste Blick auf ihn, als er im Leihwagen vorfuhr, bestätigte ihr allerdings, dass Toms Freund und Manager wohl eine gute Wahl getroffen hatte. Der Mann wirkte wie mindestens 30 oder noch älter, er guckte todernst und versuchte nicht, sich mit einem Lächeln bei ihr einzuschmeicheln.

    Das imponierte ihr, zumal sie gehört hatte, was Tom Dave am Telefon über ihre Skepsis berichtete. Inzwischen war es Mitte Oktober, Tom und David Blanasi sollten am nächsten Tag abreisen – da blieb ihr sowieso keine Wahl.

    Der Ankömmling wirkte streng und fast ärgerlich, als er ausstieg. Das würden ihre Kinder nicht gerade schätzen. Andererseits sollten sie ab sofort respektieren, was ihnen ein Fremder sagte: Rena in Hannover, Zini mit ihren oft so frechen, vorlauten Antworten, Jason konnte auch gewöhnungsbedürftig sein … Und konnte dieser Mann mit einem Kleinkind wie Tessa umgehen? Ihr die Windeln wechseln? Das bezweifelte Leona. Die Zeit würde es erweisen – wenn Tom längst weg war.

    Sie stöhnte, doch nur innerlich. Nach außen hin begrüßte sie den Fremden freundlich: „Hallo. Sie wollen meine Kinder hüten, sagt mein Mann. Ich bin Leona Reuenthal. „Frederick Myers, sagte er knapp, reichte ihr aber die Hand. Er verstand offensichtlich wirklich Deutsch. „Und hier sind meine Kinder, für die Sie den Schutzengel spielen sollen: Rena, Zini, Jace und Tessa. Komm, Tessa, sag mal: Guten Tag!"

    Die Kleine war gerade ein gutes Jahr alt, doch sie hatte noch nie Widerstand kennen gelernt, und sie kannte aus dem Hotel viele Fremde. Außerdem brachten ihre Geschwister Freunde mit, Mitschüler, und häufig tummelten sich viele Leute im Haus. So hatte sie nur erfasst, wie nett es mit anderen Menschen sein konnte.

    Bereitwillig ließ sie sich von ihrer Mutter auf den Arm nehmen, lächelte breit und gehorchte mit ihrer süßen jungen Stimme: „Guten Tag."

    Kein Lächeln – nur ein kurzes Nicken bekam sie zur Antwort. Bevor es peinlich werden konnte, fuhr Leona rasch fort: „Ich habe meinen Kindern gesagt, dass sie Sie als Respektsperson ansehen. Sie sollen auf Sie hören wie auf uns Eltern. Sind Sie damit einverstanden? „Ja.

    Leona warf einen verzweifelten Blick zu Tom. Auch ihm kam die „Respektsperson reichlich wortkarg vor. „Sie sollten sich mit unsern Kindern näher bekannt machen, fing er an. „Ich denke, das ist nicht die Frage. Sagen Sie mir einfach, was ich tun soll. Dann tue ich das, erwiderte der andere kalt. „Okay, wie Sie meinen. Sie sollen unsere Kinder zum Schulbus fahren, auf Tessa aufpassen, während ich im Hotel arbeite. Wir essen sehr oft alle im Hotelrestaurant, mal abgesehen vom Frühstück. Haben Sie Erfahrungen mit Kindern? Eigene? „Nein."

    Er schien die Situation zu hassen – auch seine neuen Aufgaben. Die Kinder begrüßten ihn und waren so höflich, wie sie auch im Hotel auftraten. Doch Rena flüsterte Zini zu: „Ich glaub‘, das wird voll doof mit diesem Mr. Eisklotz."

    Da Tessa gerade noch einmal „Guten Tag" krähte, hoffte Leona, dass der Mann diese vorlaute Bemerkung überhört hatte. Sie warf Rena dennoch einen warnenden Blick zu, und ihre Tochter schwieg sofort. Allerdings fand auch Leona diesen Fremden allzu kalt, um ihre herzenswarmen und oft so liebevollen Kinder zu hüten.

    Dieser Mann hatte richtig frostige Augen – blaugrün wie Gletschereis. Es wirkte nicht gerade, als sei er an Menschen interessiert oder an menschlichem Miteinander. Das mochte sie gar nicht. Allerdings konnte sie nicht umhin, seinen Akzent irgendwie süß zu finden. Obwohl die wenigen Sätze in fließendem Deutsch gekommen waren, hörte sie ihm den Amerikaner an.

    „Woher kommen Sie? „Los Angeles. „Ach, die Stadt der Engel. Eine schöne Stadt … „Für interessierte Touristen sicher, antwortete er gleichgültig. Leona setzte Tessa ab und wandte sich Tom zu: Sie wollte keinen Fremden in ihrer Nähe haben, der so unfreundlich auftrat, und sie wollte ihrem Mann klar machen, dass sie ein klares „Nein" zu ihrem Chauffeur und Kindermädchen Frederick Myers sagte.

    Mit unsicheren Schritten lief Tessa auf die neue Bekanntschaft zu und stolperte. Er fing sie auf und stellte sie auf ihre kleinen Füße. Tessa strahlte ihn an und sagte freundlich „Hello. „Hello, Tessa, antwortete er – ohne jedes Lächeln. Doch er hatte sie aufgefangen, und diese Reaktion war so blitzschnell gekommen, dass es Leona wunderte. Das zählte mehr als ihr erster Eindruck. Als er Tessa nun aufhob, weil sie ihre Ärmchen verlangend zu ihm hoch reckte, sammelte er weitere Pluspunkte bei der kritischen Mutter.

    „Okay, Sie haben den Job, Mr. Myers. Aber ich behalte die Verantwortung und sage Ihnen täglich, was ich wünsche, stellte sie ernst klar. Tom musste sich abwenden, damit keiner sah, wie er sich amüsierte. Er kannte seine Frau gut genug, um sich einige heftige Zusammenstöße zwischen diesen beiden Menschen vorzustellen. „Ich werde ja bezahlt. Also sagen Sie, was Sie wollen, erklärte Frederick Myers.

    Ins Bild passte rein gar nicht, dass der „Eisklotz dabei das lächelnde Kind im Arm hatte. Tessa schien ihn zu mögen, darauf kam es an. „A-a, sagte sie nun laut. Leona grinste: „Haben Sie Lust, gleich mal zu lernen,

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