Der Weg nach FISTERRA: Am Ende der Welt
Von Kurt Baldauf
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Über dieses E-Book
Inzwischen weiss ich, wie schnell die Strapazen des Entzugs von unzähligen anderen Erlebnissen in den Hintergrund gedrängt wurden, und ich weiss, was es heisst, jeden Tag ein Stück weiterzuwandern, bis man irgenwann (nach 2'000 Kilometern) das ehemalige 'Ende der Welt' in Cap Finistère erreicht.
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Buchvorschau
Der Weg nach FISTERRA - Kurt Baldauf
VORWORT:
Vor vielen Jahren und in einem anderen Leben, beschloss ich, mein Schicksal wieder in die eigenen Hände zu nehmen.
Nach fünf Jahren in einer heroingestützten Behandlung, hatte ich endlich den Mut, dieses Programm für zehn Tage zu verlassen, um eine zehntägige Wanderung auf dem Schweizer Jakobsweg zu wagen. Diese erste Wanderung wurde zu einem Probelauf für weit Mehr, wovon ich damals aber noch nichts wusste.
Der Mut, bestand damals vor allem darin, für diese zehn Tage von Heroin auf Methadon umzustellen. Das war nötig, weil Heroin grundsätzlich nicht in den Urlaub mitgegeben wird.
Und Methadon hat nicht die gleiche Wirkung wie Heroin. Bei mir jedenfalls nicht.
Am ersten Tag dieser Wanderung war es kalt, Es regnete und schneite ununterbrochen, und ich fühlte mich sehr allein. Trotzdem blühte ich bereits während den ersten Schritten förmlich auf. Am zweiten Tag schien die Sonne und mit jedem Kilometer den ich zurücklegte, wurde alles nur noch immer besser.
Am letzten Abend der zehntägigen Wanderung traf ich schliesslich und endlich auf eine der offiziellen Pilgerherbergen, wo ich für wenig Geld einen Pilgerpass kaufen musste, um dort übernachten zu können. Dieser Pass war ein robustes Faltblatt und jeder wichtige Ort auf dem Jakobsweg hat seinen eigenen Stempel, mit dem er sich dort eintrug, sofern man das wollte. Wenn man den Pilgerpass mit diesen Stempeln füllte, konnte man offiziell beweisen, wo einem der Jakobsweg bisher hingeführt hatte und die heutige Herberge, gehörte zu den Unterkünften, in denen man nur mit diesem Pilgerpass aufgenommen wurde. Der Pass war allerdings fast gratis.
Dieses Papier war mir schon mehrmals von stolzen Pilgern gezeigt worden.
Das hatte mich nie wirklich interessierte, weil ich diese Wanderung ja für mich machte und niemandem beweisen musste.
Der Pilgerpass gehörte für mich zu einem Teil dieses Wegs, für den ich mich nicht richtig erwärmen konnte. Auch der ganze religiöse Aspekt dieser Wanderung war für mich damals allerhöchstens zweitrangig. Zusätzlich führte ich lieber Tagebuch, um mich später an diese Tage erinnern zu können.
Plötzlich bekam dieser Pass aber auch für mich eine handfeste Bedeutung, denn ich war sehr müde und wollte in dieser Herberge schlafen.
Als ich das Faltblatt später genau studierte, lass ich auf der ersten Seite folgenden Eintrag:
„Ich bin Pilger/in auf dem Jakobsweg, der mich dereinst nach
SANTIAGO DE COMPOSTELA führen kann."
„Wer weiss das schon…," sagte ich mir, schluckte meine tägliche Methadondosis und dachte über die letzten Jahre nach:
Als ich mit dem Heroinprogramm begann, hatte ich mir drei Jahre Zeit gegeben. Daraus sind fünf geworden, aber das macht nichts. Ich habe immer gewusst, dass ich irgendwann wieder drogenfrei leben will und mein halbes Leben unermüdlich nach einem Weg aus meiner Sucht gesucht.
Wie ich mein grosses Ziel erreichen kann, wurde mir aber erst klar, als ich die zehn Probetage auf dem Jakobsweg durch die Schweiz wanderte und merkte, dass mein endgültiger Entzug auf diesem Weg funktionieren würde.
Und ich begann immer mehr an den Eintrag im Pilgerpass zu glauben.
Ich hatte seit Jahren auf diesen Moment hingearbeitet und von da an würde ich dieses endgültige Ziel nicht mehr aus den Augen verlieren. Das fühlte ich ganz genau, obwohl vieles noch unklar war. Wieder einigermassen zurück in der Realität und im ‚Programm‘, liess mich folgender Gedanke nicht mehr los:
„Ich wollte so bald wie möglich den ganzen Weg nach Santiago de Compostela wandern, zwei, drei Monate unterwegs sein und in den ersten Wochen der Wanderung den Entzug vom Heroinprogramm selbstständig und alleine meistern."
All die Schwierigkeiten und Fragezeichen, die dieses Vorhaben mit sich bringen würde, beunruhigten mich keinen Moment.
So richtig los ging es aber erst, als ich mit meinem Sohn über meine noch nicht konkreten Pläne sprach und er davon begeistert war.
„Geh, geh – ich finde es eine Superidee" meinte er und von diesem Moment an war ich wie elektrisiert und richtete all meine Energie auf die Ziele:
‚Entzug vom Heroinprogramm‘ … und ‚FISTERRA‘, das am Atlantischen Ozean in Galicien (3 Tagesmärsche nach SANTIAGO de Compostela) liegt und mein endgültiges Ziel am Ende des Jakobswegs war.
Das war auch nötig, denn bevor ich überhaupt losgehen konnte, stellte mich bereits die Organisation des Projektes vor die vielleicht grössten Schwierigkeiten der ganzen Wanderung.
Ich wusste aus Erfahrung, dass ich den Heroinentzug möglichst schnell und schmerzlos mit Methadon machen konnte. Dass das aber nur möglich sein würde, wenn ich nicht Methadonabhängig war, wusste ich auch und dafür hatte ich bereits all die Programmjahre gesorgt. (Arbeitgeber hatten mich aus organisatorischen und anderen Gründen immer wieder gedrängt, auf Methadon umzustellen.)
Trotzdem, der Methadon-Abbau „bis auf 0 mg" musste gut geplant und abgestimmt sein. Immerhin hatte ich in den ersten Tagen Medikamente dabei, die mich heute etwa 50 Mal umbringen würden und ich wollte auf keinen Fall nach dieser Wanderung Methadonabhängig sein.
Weil ich alles selbstständig und mit möglichst wenig fremder Hilfe schaffen wollte, kamen die Abmeldungen bei allen wichtigen Stellen dazu. Nur so würden während meiner dreimonatigen Abwesenheit keine Rechnungen eintreffen und niemand würde meinen Briefkasten leeren müssen.
Ich musste möglichst leicht packen und durfte trotzdem nichts Wichtiges vergessen.
Auch meine Rückkehr nach Luzern wollte und musste ich bereits vorbereiten. Das beinhaltete die Wohnung zu putzen, Kleider auszumisten, alle gefährlichen Telefonnummern vom Handy zu löschen… und, und, und.
Dazu kamen all die Unsicherheiten der Reise. Fragen wie:
„Wo gehe ich los? Wo komme ich hin? Wie schaffe ich das?"
Ich wollte an Alles denken, und ich war während diesen Vorbereitungen bis zur Grenze des Erträglichen gefordert. Trost und Mut gab mir in dieser aufwühlenden Zeit die Musik: Ich hörte viel Musik. Ich war dankbar dafür, denn auf Heroin hatte ich kaum mehr Musik gehört. Sie war mir trotzdem immer wichtig gewesen und plötzlich wieder in mein Leben zurückgekehrt.
Das konnte nur ein gutes Zeichen sein.
Trotzdem nahm ich keine Musik mit auf den Weg.
Ich hatte meine Musik im Kopf.
In meinem Tagebuch, vermerkte ich jeden Tag die Melodien, die ich hörte. Auch die Filme, an die ich mich auf der Wanderung regelmässig erinnerte.
Manch einer wird sich vielleicht wundern, womöglich auch ärgern, über diese Tagebucheinträge. Das ist mir egal.
Für mich war das ein sehr wichtiger Teil der Reise. Ohne diese Bilder und Melodien hätte ich es nicht geschafft, meine Ziele zu erreichen.
(Auch aus urheberrechtlichen Gründen habe ich diese Beiträge so korrekt wie möglich gekennzeichnet.)
Um es vorweg zu nehmen: Ich bin 2200 Kilometer gewandert. Von Genf bis zum Atlantischen Ozean. Ich bin durch Santiago de Compostela durchmarschiert und habe das Ziel in Fisterra, am ehemaligen Ende der Welt und am ‚Point Zero‘ erreicht.
An dieser Stelle möchte ich mich auch bei all den Menschen bedanken, die mir immer wieder geholfen haben. Bei meiner Familie, bei allen Freunden und Freundinnen, bei meinen Kung-Fu-Trainingspartnern von der Black-Dragon Schule und auch bei meinen Therapeuten vom Drop-in, die womöglich ein nicht kleines Risiko eingingen, als sie diese lange Wanderung unterstützten.
Und ich danke der Kraft in mir, die nie aufgegeben hat.
*
ABSCHIED
Mehrere Wochen gelang es mir, mein Vorhaben vor meinen Mitpatienten im Heroinprogramm geheim zu halten. Das war einfach, denn es ist normal, dass immer wieder Leute das Programm verlassen. Sei es, um den Entzug in eine Klinik oder wo auch immer zu machen, oder weil sie ganz einfach auf die Gasse zurückkehren.
Das gehörte zum Alltag und wurde meistens von niemandem bemerkt oder beachtet.
Bei mir kam es etwas anders.
Mein ‚Abgang‘ war in den letzten Tagen nicht mehr geheim zu halten, weil mir die Angestellten vom Drop-in-Team, die gerade Schicht hatten, der Reihe nach im Konsumationsraum vor allen Anwesenden alles Gute wünschten und die Hand schüttelten. Das hatte ich so nicht erwartet und noch nie erlebt. Die andern Patienten liessen sich nichts anmerken oder waren mit ‚Konsumieren‘ beschäftigt. Ich glaubte aber zu wissen, was dem Einen oder der Anderen durch den Kopf ging, weil ich weiss, was ich gedacht hätte:
„Was soll das Theater, der wird ja sowieso früher oder später wieder hier sein und ich mach jetzt meinen Schuss und Morgen auch und Übermorgen auch. Der kommt schon wieder, wenn er nicht draufgeht."
Mir war es etwas peinlich und unangenehm, dieses Verabschieden, aber auch egal, denn ich wusste:
„Ich will und werde nicht hierher zurückkehren!"
Als es endlich losging und ich die ersten Schritte machte war ich so gut vorbereitet, wie nur irgend möglich und ich musste mich nur noch auf die Wanderung und meinen Körper konzentrieren.
ERSTER BIS ZWANZIGSTER TAG und AUBRAC
Erster Tag:
Zuerst erwartet mich eine Zugfahrt nach Genf und bereits unmittelbar nach der Abfahrt trifft es mich wie ein Schlag: Ich habe das Ladekabel für mein Handy zu Hause vergessen. Was soll das bedeuten? Probleme schon in der ersten Stunde? oder muss es so sein? Ich entscheide mich vorsichtig für: es muss so sein und mache die letzten wichtigen Anrufe und SMS