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Die Pilgererfahrung: Reset für Körper, Geist und Seele
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eBook275 Seiten3 Stunden

Die Pilgererfahrung: Reset für Körper, Geist und Seele

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Über dieses E-Book

Im August 2017 geht der 56jährige Industriekaufmann Uwe auf den Jakobsweg nach Spanien, um heraus zu finden, was es mit dessen Mythos auf sich hat. Was er dabei erlebt und wie er sich selbst neu entdeckt, beschreibt er hier in sehr offener Weise mal humorvoll, mal ernst, mal nachdenklich stimmend.
SpracheDeutsch
HerausgeberSongtower
Erscheinungsdatum29. Nov. 2018
ISBN9783965440579
Die Pilgererfahrung: Reset für Körper, Geist und Seele

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    Buchvorschau

    Die Pilgererfahrung - Uwe Lauer

    Pilgererfahrung

    Reset für Körper, Geist und Seele

    1 – Die Entscheidung

    „Wenn es Dein Lebenstraum ist, dann tu’s doch einfach. Meine Freigabe hast Du, Lebensträume muss man sich erfüllen, solange noch Zeit dazu ist.  Mit diesen Worten hatte meine Frau eine Lawine in mir losgetreten, als wir an einem lauen Sommerabend mit Freunden noch spät auf unserer Terrasse beisammen saßen und uns bei Wein und Kerzenlicht gegenseitig unsere Lebensträume erzählten. Und so musste ich nicht lange nachdenken, als ich in dieser Fragerunde an der Reihe war. „Den Jakobsweg mal laufen oder so ähnlich war mein Einwurf an dieser Stelle, um ihn postwendend auch gleich wieder in Frage zu stellen, zumindest was seine Realisierbarkeit betraf. Denn – den Jakobsweg zu gehen und parallel noch einen Fulltime-Job auszufüllen, der immerhin wöchentlich 39 Stunden meiner Lebenszeit auffraß - das fühlte sich schon ziemlich unrealistisch an, noch bevor ich den Wunsch ausgesprochen hatte. Doch die spontane Reaktion meiner Frau ließ mich stutzen, denn es hörte sich sofort wie eine winzige Möglichkeit an, es vielleicht doch noch im Lebensplan unter zu bringen, und zwar nicht erst im noch fernen Rentenalter, von dem ich immerhin noch 7-8 Jahre entfernt war. „Du musst doch nicht den ganzen Weg gehen, geh doch einfach nur einen Teil davon, eben so viel wie Du während eines mehrwöchigen Jahresurlaubs schaffst." Ja, und damit hatte sie zweifellos recht, warum eigentlich nicht? Drei bis vier Wochen Urlaub wären nach 39 Dienstjahren bei meinem Arbeitgeber sicher machbar, und in dieser Zeit konnte man – rein theoretisch – verdammt weit laufen. Ich versuchte, wieder den Gesprächen zu lauschen, aber meine Gedanken konnten und wollten nicht mehr so recht folgen, sie schlugen vielmehr unvermittelt und unkontrolliert eine andere Rich-

    tung ein. Mehr noch,  dieser Plan, wenn man es denn zu jener Zeit schon sonennen konnte, beherrschte von nun an für lange Zeit den Innenraum meines schon leicht ergrauten Hauptes, und ich muss zugeben, dass es sich – besonders in den ersten Wochen der Entscheidung – wie ein Sog anfühlte, der zeitweise vollständig von mir Besitz ergriffen hatte, ein Magnet, der trotz seiner Entfernung von 1.800 km eine ungeheure Anziehungskraft auf mich auswirkte. Später las ich dann in diversen Berichten den Satz, den ich zu 100% auch für mich selbst unterschreiben konnte: Der Jakobsweg hatte mich gerufen, und ich fühlte einen unwiderstehlichen Drang, diesem Ruf zu folgen.

    2  -  Die Planung 

    Dieser für mich bis heute unvergessliche Abend auf der heimischen Terrasse lag ziemlich genau 380 Tage vor meiner Abreise, wobei die erste spontane Überlegung zum möglichen Beginn der Reise das Jahr 2018 ausspuckte. Was in mir relativ schnell eine gewisse Ernüchterung im Hinblick auf meine Anfangseuphorie erzeugte, denn wie konnte man sich auf ein Ereignis freuen, das zwei Jahre in der Zukunft lag? Wohin mit den Endorphinen und sonstigen Glückshormonen, wenn sie zwei Jahre lang auf Sparflamme gehalten werden mussten ? Wie gesagt, eine mehr als ernüchternde Erkenntnis. Doch es sollte ganz anders kommen …

    Unabhängig vom Plan des Jakobsweges entstanden wenige Wochen später Überlegungen meiner Frau und mir, die Hofeinfahrt vor unserem Haus vergrößern und neu pflastern zu lassen, was angesichts ihres Alters und Zustandes nach 34 Jahren mehr als überfällig war. Als idealer Zeitpunkt dafür hatten wir uns rasch auf das Frühjahr 2017 geeinigt, und so wurde auch schnell klar, dass 2017 erstmals unsere jährliche Urlaubsreise ins Wasser fallen würde. Was lag also näher, als im betreffenden Jahr auch bereits auf

    den Jakobsweg zu gehen, denn: 2018 erneut auf einen gemeinsamen Urlaub zu verzichten nur wegen des Camino, das hätte sich ganz sicher nicht gut angefühlt, von der Sinnhaftigkeit ganz zu schweigen. So schlug ich bei einem

    Glas Wein meiner Frau vor, das Camino-Projekt ein Jahr vorzuziehen und dafür das ohnehin urlaubsfreie Jahr 2017 zu nutzen. Glücklicherweise sah sie das ebenso als sinnvoll an, und so entschied ich, meinen Jakobsweg Ende August 2017 zu beginnen. Das lag nun gerade mal ein Jahr entfernt in der Zukunft, und die Euphorie kehrte mindestens genauso schnell zurück, wie sie der Ernüchterung gewichen war. Allerdings muss ich gestehen, dass mein Enthusiasmus manchmal etwas überschwänglich daher kam. Aber wer kennt das nicht aus eigener Erfahrung: Wenn etwas von einem Besitz ergriffen hatte – sei es eine Idee, ein Erlebnis oder ähnliches – dann neigte man schnell dazu, gerne und fortwährend darüber zu reden. Dabei vergaß man nur all zu leicht, dass dieser Rausch sich ja ausschließlich in einem selbst austobte, während die akustischen Opfer bestenfalls interessiert waren, aber selbst das auch nur in begrenztem Maße, und zwar sowohl was Details als auch die Häufigkeit der verbalen Beschallung durch das „Euphorie-Monster betraf. Da besagtes „Monster (in dem Falle ich) das möglicherweise selbst nicht merkte, musste es irgendwann mal zur Raison gerufen werden. Dieser Zeitpunkt war bei mir sehr rasch gekommen, ich meine, schon nach wenigen Tagen. Und zwar dann, als ich – in schon fast gewohnter Manier – über ein banales Gesprächsthema wie zufällig wieder auf mein Projekt abglitt, aber diesmal nicht ohne Wirkung. Ich hörte plötzlich den Satz: „Du willst aber jetzt nicht ein Jahr lang jeden Abend über den Jakobsweg reden, oder?" Ok, ich gebe zu, diese Reaktion war überfällig und mehr als berechtigt. Das konnte ich meinen Mitmenschen – allem voran meiner Frau – wirklich nicht antun. Schließlich gab es außer dem in weiter Ferne geplanten Jakobsweg auch noch andere Themen, und so nahm ich mich ein ums andere Mal zurück, und war dafür umso redseliger, wenn mich hin und wieder jemand auf meinen Pilgerplan ansprach und mehr darüber wissen wollte. Aber offen gesagt, ab jener Zeit beschränkte ich mich so gut es ging auf den Antwortmodus, und damit konnten sowohl ich als auch meine Mitmenschen gut leben.

    Darüber hinaus begann ich bereits jetzt, im August 2016, einige grundsätzliche Überlegungen anzustellen: Wann würde ich starten, wie viel Urlaub würde ich brauchen, wie viele Lauf- und Pausentage konnte ich im möglichen Urlaubs-Zeitfenster unterbringen, und wie viele Kilometer pro Lauftag wären realistisch planbar? Ok, ausgehend von vier Wochen Urlaub, von denen ich am Ende noch einige Tage nach der Rückkehr als Puffer rechnen müsste, wären 3,5 Wochen Spanien realistisch. In Tagen ausgedrückt: 25, und wenn ich wenigstens einen Pausentag pro Woche einlegen wollte, blieben 20 Lauftage plus je ein Pausentag nach der ersten und zweiten Woche, sowie am Ende 2-3 Tage in Santiago de Compostela, falls ich denn jemals dort ankommen sollte… , und würde ich pro Tag etwas mehr als 20 km laufen, dann könnte ich mit etwas Mut und Selbstvertrauen vielleicht eine Strecke von etwa 450 km bewältigen. Theoretisch. Aber was blieb mir anderes übrig, als irgendeine denkbare Zahl als Ausgangspunkt für meinen Blick auf die Landkarte zu wählen. Und dieser Ausgangspunkt war – nach einigen ‚Erkundungen‘ – Castrojeriz, ein kleines, heute nur noch teilweise bewohntes, Dorf mit rund 800 Einwohnern in der Provinz Burgos. Und als ich mir das Örtchen im Internet etwas genauer ansah, wie es beschaulich und verträumt am Fuße des 900 m hohen Tafelberges lag, erschien es mir als der ideale Beginn meines erträumten Pilgerweges. Natürlich nicht auch zuletzt deshalb, weil Castrojeriz ganz und gar kein typisches Etappenziel auf dem Camino Frances war. Viele Pilger ließen es sich nicht nehmen, in der etwa 49 km westlich gelegenen Provinzhauptstadt Burgos zu starten. Eine Stadt mit etwa 170.000 Einwohnern, welche nachweislich die meisten Sehenswürdigkeiten bot, ein Mekka für Kunsthistoriker. Schon allein deshalb ein häufig auserkorener Ausgangspunkt für Pilger. Aber bereits in dieser frühen Planungsphase war es für mich von größter Bedeutung, nicht mit dem großen Strom zu schwimmen, sondern größtmögliche Distanz zu etwaigen Pilgeransammlungen oder –gruppen zu wahren. Denn meine Sehnsucht nach dem Jakobsweg und meine Entscheidung, dieses Projekt nun tatsächlich anzugehen, hatten ein ehrgeiziges Ziel: Eine innere Einkehr, die vielzitierte Reise zu sich selbst, mit sich selbst ins Reine zu kommen, vielleicht auch um sich selbst neu zu erleben und neu kennen zu lernen. Und es bedurfte nun wirklich keiner Pilgererfahrung, um zu dem Schluss zu kommen, dass dies wohl nur möglich sein würde, wenn man alleine pilgerte. Zumindest den größten Teil der geplanten Strecke. Was ja in keinem Fall heißen sollte, dass ich keine sozialen Kontakte zulassen würde – im Gegenteil - denn auf diesem Weg Menschen aus aller Welt mit interessanten Lebensgeschichten kennen zu lernen, erschien natürlich auch reizvoll. Aber der Weg selbst – so las ich es immer wieder – würde sein Geheimnis nur preisgeben, wenn man ihn alleine ginge. Und so wurde dieses Bestreben zu einer Prämisse, die schon frühzeitig über allen anderen stand.

    Schon im frühen Stadium meiner Planung hatte ich zusätzlich das Glück, dass ein junger Arbeitskollege aus meiner Abteilung den Camino Frances vor wenigen Jahren selbst bereits gegangen war und somit für mich eine Art Mentorstellung einnahm. Als Sebastian (25) nämlich erstmals von meinem Plan erfuhr, schickte er mir noch am gleichen Abend – es war der 31.8.2016

    – eine umfassende Mail, in der er mich mit allen Informationen versorgte, was ich für ein sinnvolles Zusammenstellen meiner Ausrüstung brauchte. Dabei blieb er in jedem Punkt völlig unverbindlich und ließ mir den Spielraum für Individualität, den ich schon allein aufgrund meines Naturells so dringend brauche. Und so erstellte ich ein Excel-File, in welchem ich – nach Kategorien getrennt – die wichtigsten Ausrüstungsgegenstände listete. Diese Liste wurde – neben meiner Etappenplanung – mein wichtigstes Tool während meiner gesamten Vorbereitungszeit. Und jede Eintragung dort, mit der ich einen Gegenstand als ‚erledigt‘ verzeichnen konnte, erfüllte mich mit ungeheurer Genugtuung. Und das blieb so bis wenige Tage vor meiner Abreise.

    Wie schon erwähnt, war das zweite Tool meine Etappenplanung, die ich ebenfalls schon gut 11 Monate vor dem Start in Angriff nahm. Ausgehend von einer Anreise am Samstag, dem 26.08.2017, würde ich mich am frühen Morgen des darauf folgenden Sonntags auf meine Pilgerschaft begeben, während um mich herum das verschlafene Castrojeriz wohl noch in Morpheus

    Armen schlummern würde. Und so plante ich zunächst 7 Pilgertage mit Entfernungen zwischen 20 und 26 km, um am Ende der ersten Woche einen Pausentag einzulegen, bei dem ich mir am Zielort ein Zimmer in einer Pen-sion nehmen würde, um dann die zu diesem Zeitpunkt möglicherweise drin-gend ersehnte Privatsphäre jenseits von Pilgerherbergen genießen zu können. Möglicherweise würde mein Körper diese Pause nach einer Woche Belastung auch aus anderen Gründen brauchen. Die zweite Woche würde ich in gleicher Weise planen, eventuell mit einem etwas gesteigerten Tagespensums an Kilometern, aber ebenfalls mit einem Pausentag endend, um dann am Ende der dritten Woche, am Sonntag den 17. September. so Gott will – an der Kathedrale in Santiago de Compostela anzukommen. Zum Abschluss meiner Pilgerreise dann eventuell noch 2-3 Ruhetage in Santiago, und der Rückreise ca. 20.09.17. Mit dieser Planung war ich, nicht nur was mein Gefühl betraf, sehr zufrieden, sie erschien mir gleichermaßen realistisch wie machbar und dennoch anspruchsvoll genug, um sie als große Herausforderung für Körper und Geist anzusehen. Denn ein geplanter Tagesschnitt von etwa 23 km über einen Zeitraum von drei Wochen war definitiv etwas, was mein Körper nicht ansatzweise kannte, und entsprechend hoch war mein Respekt vor meinem eigenen Plan.

    3 –  Monatelange Vorfreude

    Mein bereits erwähnte Arbeitskollege Sebastian, der den Camino Frances schon vollständig von Frankreich aus gelaufen war, hatte mir schon in seiner allerersten Mail mitgeteilt, dass die Vorfreude auf die Pilgerreise nahezu genauso intensiv sei wie die Reise selbst. Zumal sich diese bei frühzeitiger Planung über einen sehr langen Zeitraum erstrecke, und man sie so eben auch über Monate hinweg genießen könne. Wobei es hier verständlicherweise Zeiten gab, wo man den Kalender gerne in einen höheren Gang schalten würde, denn die Sehnsucht zum Camino war nicht nur allgegenwärtig, sie

    wuchs auch von Woche zu Woche, von Monat zu Monat, und ich gebe zu, dass ich mir schon sehr früh über eine Formel in einer Excel-Datei täglich ausrechnen ließ, wie viele Tage noch bis zur Stunde null verblieben. Diese stetig schrumpfende Zahl verlieh mir sogar eine Art Genugtuung, ein „Be-weis", dass es irgendwann zwangsläufig so weit sein musste, eine Art Visua-

    lisierung des Näherkommens, so seltsam das auch klingen mag. Und natürlich schwang in diesem überdimensionalen Zeitfenster der Vorfreude auch stetig die Sorge mit, dass noch ganz viele theoretische Geschehnisse auf dem Weg dahin das Projekt wieder zu nichte machen konnten, und zwar von heute an bis zum Tag der Abreise: Krankheit, Verletzungen, oder es könnte etwas mit den mir am nächsten stehenden Menschen passieren, wie meiner Frau oder meinen Kindern. Aber die Philosophie hat uns gelehrt, dass Angst zwar in bestimmten Lebenssituationen eine ganz hilfreiche Einrichtung der Natur, aber auf dem Weg zur Verwirklichung von Plänen und Erreichen von gesteckten Zielen kein erstrebenswerter Begleiter war. Diese Erkenntnis hatte nicht selten dazu geführt, dass ich mich selbst ermahnen musste, nicht allzu sorgenvoll auf den D-Day zuzusteuern. Was für die praktische Anwendung allerdings leichter gesagt war als getan, denn wer kennt sie nicht, die nur allzu häufige Verselbstständigung der eigenen Gedanken…

    Und so zogen die Wochen und Monate ins Land, Herbst und Winter kamen und gingen, die Liste der Pilgerausrüstung erfuhr nach und nach geduldig ihre Erledigungsvermerke zu den einzelnen Utensilien, die Etappenplanung ihren letzten Feinschliff, und sowohl die Flüge, die erste Unterkunft in Castrojeriz als auch die Busfahrt von Bilbao nach Burgos wurden gebucht. Einzig für den allerletzten Abschnitt von Burgos nach Castrojeriz war keine wirkliche Planung möglich, da es keine öffentlichen Verkehrsmittel für diese letzten 49 km gab – und so blieb hierfür lediglich der Vorsatz, vor Ort einen akzeptablen Transportpreis mit einem dortigen Taxi auszuhandeln. Und während all dessen verschlang ich Literatur und Internetberichte über das bevorstehende Abenteuer, und ich hätte gelogen, wenn ich damals behauptet hätte, dass das Projekt nicht längst vollständig von mir Besitz ergriffen hatte. Und diese Gefühlsvielfalt und –intensität hielt an. Sehr lange. Genauer gesagt, bis etwa 3 Wochen vor der Abreise.

    Dann wandelte sie sich fast über Nacht…

    4 – Die letzten Tage vor der Abreise

    Wo war meine Vorfreude geblieben? Nein, es war ganz und gar nicht so, dass ich nicht endlich aufbrechen wollte, aber fast über Nacht hatten sich die Gefühle in mir völlig verwandelt. Ich muss nachdenken, wie ich sie beschreiben, ja bezeichnen soll: Respekt? Zweifel? Angst? Ganz sicher eine Mischung aus all dem, und es fühlte sich völlig anders an als noch vor vier Wochen. Ich setzte mich nun fast unbewusst intensiver mit dem Projekt auseinander, damit, dass es nun in kürzester Zeit plötzlich Realität werden würde. Aus allen Richtungen strömten fragende Gedanken in meinen Kopf: Ich war völlig untrainiert, also konnte ich diese Strecken wirklich jeden Tag laufen? wochenlang? Mit diesem Gewicht auf dem Rücken? Konnte das alles wirklich funktionieren, was ich mir in der Theorie ausgedacht hatte? Und was konnte dort eigentlich alles dazwischen kommen, auf dem Weg selbst? Was wäre, wenn ich nach zwei bis drei Tagen schon kapitulieren müsste, weil ich mich völlig überschätzt hatte? Und: Käme ich überhaupt dort an? Bliebe ich vielleicht schon am Frankfurter Flughafen hängen, da ich ja gar kein Flugticket hatte, sondern nur so eine komische Ticket-Nr., die angeblich reichte, um einzuchecken? Das waren nur einige dieser Fragen und Zweifel, und selbst ein Außenstehender kann sich in etwa denken, wie sich das im Betroffenen anfühlte. Währenddessen waren auch aus dem Freundes-, Bekannten- und Kollegenkreis immer wieder Kommentare zu hören wie: ‚Für mich wär das nichts‘, oder „Ich glaube nicht, dass Du das schaffst, oder „Respekt – ich würde das nicht schaffen. Und das sagten dann Leute, die hinsichtlich ihrer Konstitution keinesfalls schlechter dran waren als ich. Geflügelte Worte dieser Art gaben meinen unterdrückten Selbstzweifeln natürlich zusätzlich Nahrung. Aber es half alles nichts, in wenigen Tagen würden Taten folgen müssen, und ich wäre der allerletzte, der vor einem geplanten Projekt kniff, im Gegenteil, ich würde mich der Herausforderung stellen, käme was da wolle. Zudem war ich von Natur aus der Typ, der immer an eine Lösung glaubte, ganz gleich, wie schwierig sich eine Situation darstellte. Und durch meinen Optimismus sowie meinen Glauben an das Gute hatte ich mich bis-her schon unzählige Male selbst am Schopf gepackt und aus so mancher Lebensmisere gezogen. Warum also sollte es diesmal anders sein? Das Glück würde mich nicht verlassen, schon gar nicht auf einer Pilgerreise. Und schließlich hatte ja der Jakobsweg mich gerufen und nicht umgekehrt. Mit solchen und ähnlichen Überlebensphilosophien näherte ich mich also mit großen Schritten dem Tag X, was blieb mir auch anderes übrig …?

    Die letzte Woche brach an. Im Büro war ohnehin kaum noch ein klarer Gedanke zu fassen, geschweige denn, sich auf das Tagesgeschäft zu konzentrieren. Die noch verbleibende Zeit nach jedem Arbeitstag war Tag für Tag minutiös verplant. Und so stand am Montagabend das Fertigpacken des Rucksackes auf dem Programm, und zwar in unserem Wohnkeller, wo ich die gesamte Ausrüstung angesammelt und auf einer großen Decke ausgebreitet hatte. Alle Utensilien wurden zu Kategorien zusammengefasst und dann je Kategorie in einen eigens dafür vorgesehenen Drybag gepackt: In einem kleineren roten verschwanden alle helfenden Dinge wie Blasenpflaster, Wundspray, Desinfektionsmittel etc., in einem mittelgroßen grünen alle Dinge für den täglichen Gebrauch wie Brillen, Fußcreme, Sonnencreme, Duschgel etc., und in einen großen gelben die gesamte Kleidung zum Wechseln, mit Ausnahme der Regenjacke, welche ich separat in den Rucksack packte, sowie den Poncho, der in einem eigens dafür vorgesehenes Fach des Rucksackes verschwand. So war der Plan, und so begann ich das Packen. Allerdings war dieser Vorgang schon nach wenigen Minuten beendet, und ich starrte mit erschrockenen Augen auf das, was sich da vor mir eröffnete: Nämlich die Tatsache, dass die Ausrüstung auf gar keinen Fall in den von mir vorgesehenen Rucksack passen würde.

    Definitiv nicht.

    Es war ein etwa 28 l fassender, leichter, blauer Rucksack, den mir mein Freund und Nachbar ausgeliehen und den ich für ein paar wenige Trainingsmärsche benutzt hatte. Bei diesen Wanderungen – ich nenne es mal so – hatte ich den Rucksack immer mit 6-7 Flaschen Mineralwasser befüllt und

    so ein Gewicht von etwa 7,5 kg erzeugt. Aber für eine Pilgerausrüstung dieses Umfangs, mit 3 Drybags, Trekkingstöcken, Regenjacke, Kulturbeutel, Trekkingsandalen, Pantoffeln, und…und…und…, nein, dafür war er definitiv nicht ausreichend. Ok, also in Ruhe überlegen: Schnell noch einen Rucksack über Ebay-Kleinanzeigen suchen? Oder Amazon? Fieberhaft fuhr ich den Rechner hoch und begann zu stöbern – und ich muss zugeben - von einer ordentlichen Portion Nervosität begleitet, denn eins war sicher: In genau vier Tagen musste ich startklar sein, und ich hatte keinen Rucksack. Nach etwa 20 minütiger Sondierung auf allen möglichen Seiten fand ich ein Angebot eines 50 Liter Trekkingrucksackes zum Preis von nur € 68. Dieser war optisch sehr ansprechend, sehr detailliert beschrieben und schien allerlei Vorzüge zu besitzen. Zudem würde er – bei sofortiger Bestellung – schon in zwei Tagen per DHL bei mir eintreffen. Also: Ab in den Warenkorb, bezahlen, fertig. Das war geschafft – jetzt musste er nur noch rechtzeitig

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