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Wir sind nicht immer auf unserem Weg
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eBook323 Seiten3 Stunden

Wir sind nicht immer auf unserem Weg

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Über dieses E-Book

Keiner in meinem Umfeld, am wenigsten ich selbst, hätte jemals vermutet, dass mein Leben zu einer Illusion und mein Traumjob zu einer Belastung werden würde.
Auf das Drängen meiner Hausärztin hin, nahm ich schließlich therapeutische Hilfe an, in der Hoffnung, wieder meine gewohnte Stabilität zu finden.
Doch plötzlich wurde ich gerufen…
Ich folgte einem Weg, den meines Wissens meist nur Gläubige gehen und traf mehr Seelenpartner als in meinem 53-jährigen Leben zuvor. Und ich stieß auf einen Menschen, der mein Leben plötzlich in einem völlig neuen Licht erscheinen ließ: MICH!
In dieser hektischen und von Erfolg angetriebenen Welt haben viele von uns verlernt, auf sich selbst zu hören.
Ich nehme euch mit auf einen Weg, der sowohl Schmerzen und Leid, aber auch Erkenntnisse, Glücksgefühle und Seelenfreundschaften bereithält.
Viele von euch werden sich hier wiederfinden.
Davon bin ich überzeugt!
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum11. Apr. 2022
ISBN9783347501287
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    Buchvorschau

    Wir sind nicht immer auf unserem Weg - Daniela Fromme

    Am Montag machte ich den Abflug!

    Am Montag, 14.06.2021 sollte es endlich losgehen! Meine Tochter würde mich um 06:30 Uhr nach Straßburg fahren und von dort ginge es nach Biarritz. Dann weiter mit dem Bus. Ich würde in Irun starten. Das Gewicht meines Rucksacks betrug nun doch gute 8 kg statt den erhofften 5 bis 6 kg. Es waren aber so viele Energieriegel drin, dass ich hoffte, nach ihrem Genuss 1 kg mehr auf den Rippen und dafür 1 kg weniger im Gepäck zu haben.

    Ursprünglich war geplant ein Zelt und eine Isomatte für den Notfall mitzunehmen, da aufgrund der Corona-Pandemie nicht klar war, ob genügend Herbergen geöffnet hätten. Ich entschloss mich jedoch kurzfristig aufgrund des Zusatzgewichts dagegen und ging das Risiko ein, eventuell die Nächte durchzulaufen und tagsüber am Strand oder in einem Park zu schlafen.

    Mein großes Ziel war erst ein halbes Jahr zuvor geboren worden: Der Camino del Norte! Der Jakobsweg an der Nordküste Spaniens. Bis Santiago del Compostela erwarteten mich 840 ungewisse Kilometer, die ich zu Fuß zurücklegen wollte. Ja, ich wollte nicht nur, ich musste! Meine Hoffnungen lagen auf diesem mir unbekannten Weg.

    Ich befand mich in einer Lebensströmung, an der mir plötzlich und unerwartet das Steuerrad meines Schiffes entglitten war. Und an einem besonders stürmischen Tag meines inzwischen chaotischen Seelenlebens suchte ich Schutz bei meinem Vater und seiner lieben Frau Ingrid. Meine Mutter war im Jahr 2000 nach langer Krankheit dem Krebs erlegen und mein Vater hatte noch einmal ein neues Glück gefunden. Das Verhältnis der sehr religiösen und gläubigen Ingrid und mir war anfänglich schwierig und durch einige unterschiedliche Lebenseinstellungen zeitweise sogar ein wenig gestört. Doch wir waren beide Menschen der Worte und des Verzeihens. Wir hatten uns zuerst toleriert, dann akzeptiert, irgendwann respektiert und inzwischen empfand ich eine vertrauensvolle Freundschaft zu dieser zarten, kleinen und dennoch sehr starken Frau. Sie war es, die mich an diesem Tag bat, in ihrer Einliegerwohnung die Nacht zu verbringen, um nicht allein sein zu müssen. Mein Vater, pensionierter Orthopäde, gab mir zusätzlich ein starkes Schlafmittel, da in meinem Zustand zu befürchten war, ich würde die Nacht ‚durchsegeln‘.

    In der Einliegerwohnung gab es ein Bücherregal und ich lief, schon fertig für die Nachtruhe, darauf zu. Das erste Buch, welches mir ins Auge sprang, war „Ich bin dann mal weg" von dem deutschen Komiker Hape Kerkeling. Als ich nach diesem griff, war nicht abzusehen, was sich daraus entwickeln würde. Ich verschlang dieses Buch, wie wohl viele andere deutsche Leser zuvor. Er schrieb witzig und emotional zugleich. Was mich jedoch am meisten fesselte, war die Vorstellung des tagelangen Laufens.

    Google wurde spontan zu meinem besten Freund. Ich suchte mich durch die Jakobswege der gesamten Welt und blieb dennoch in Spanien hängen. Allerdings nicht am Camino Frances, den Kerkeling gelaufen war, sondern eben an der Nordküste. Der Camino del Norte bot alles, was ich mir für meinen Weg wünschte: er war aufgrund seiner zu überwindenden Höhenmeter und einer Länge von ca. 840 km sportlich, aus diesem Grunde sicher nicht so überlaufen wie der Frances und führte an der Küste entlang, was sowohl für eine angenehmere Temperatur als auch für eine Landschaft in meinem Sinne sprach. Nachdem ich nun meinen Weg gefunden hatte, saugte sich dieser an meinem Hirn fest, wie die Zecke am Hund. Mein engeres Umfeld bekam kein anderes Thema mehr zu hören und dennoch glaubte ich, dass es viele für eine vorübergehende fixe Idee hielten. Doch in mir tobte eine unbegreifliche Sehnsucht, die ich selbst nicht einzuordnen wusste. Ich bin Realist! Kein Träumer, kein Esoteriker, kein Gläubiger! Und dennoch gab es einen Augenblick, der meinen Realismus ins Wanken brachte: Ich hatte einen Blog über ‚meinen‘ Camino entdeckt, den ich aufmerksam las. Und darin standen folgende Worte: „Der Camino hat Dich gerufen? Ich gratuliere!" Und so unfassbar dies für mein, nach logisch erklärbar suchendem Gehirn auch war, so spürte ich in mir, dass diese Worte an mich gerichtet waren.

    Viele Menschen brauchen oft Jahre, um ‚den Jakobsweg‘ in Angriff zu nehmen. Ich war nach ca. 4 bis 5 Monaten abflugbereit und hätte Corona unsere allgemeine Reiselust nicht beeinflusst, so wäre ich vermutlich in Deutschland gestartet. Allerdings hätte ich mir ohne die Pandemie auch die berufliche Auszeit in der Länge von 2 Monaten wohl kaum nehmen können. Denn aufgrund des Lockdowns mussten viele Unternehmen, wie auch meines, für viele Monate schließen.

    Mein Rucksack enthielt, ausgenommen der Kleidung, die ich tragen würde: 2 Shirts, eine weitere Zipp-Hose, 1 kurze Sporthose, 1 leichtes Sweatkleid, 1 Schlafkleid, 2 Paar gute Socken, 2 Unterhosen, 1 Bikini, 1 großes und 1 kleines Handtuch, 1 Paar Sandalen und 1 Paar Flip-Flops, 1 Fleecejacke, 1 Langarmshirt, 1 Waschbeutel mit allem, was man so für die Hygiene benötigt, allerlei Pflaster und medizinische Artikel, 1 Tagebuch, 1 weiteres Buch, 1 Schlafsack, Unmengen an Energieriegeln, 1,5 l Wasserflasche und eine kleine Magnetlampe. Hört sich nach wenig an und hatte eben dennoch mehr Gewicht, als erwartet.

    Am 04.05.2021 bekam ich endlich meinen ersten Corona-Impftermin. Für Geimpfte würde sich das Reisen zukünftig wahrscheinlich angenehmer gestalten, was ein zusätzlich positiver Nebeneffekt meiner Impfentscheidung war. Allerdings brauchte ich natürlich auch die Zweitimpfung, die frühestens 4 Wochen später erfolgen konnte. Ich bekam den zweiten Termin allerdings erst nach 6 Wochen und somit am 15.06.2021. In Anbetracht der Tatsache, dass viele nach der zweiten Impfung Krankheitserscheinungen bekamen, war somit ein Abflug vor dem 20.06. eher unwahrscheinlich. Geplant hatte ich meine Reise jedoch 11 Tage früher. Und genau an diesem Tag erhielt ich einen kurzfristigen Termin bei meinem Frauenarzt zur zweiten Impfung und somit das ‚Go‘ für meine Reise! Mir war klar, dass die Impfung erst nach 2 Wochen anerkannt werden würde, da erst dort der Impfschutz gesichert sei. Ich riskierte es dennoch und buchte am 14.06. meinen Flug nach Biarritz. Ich war startklar! In jeder Hinsicht!

    Von Irun nach San Sebastian

    14.06.2021. Um 05:00 Uhr klingelte mein Wecker und ich stand mit ein wenig ‚Lampenfieber‘ auf. Immer wieder wurde ich, nachdem bekannt wurde, dass ich den Jakobsweg laufen wollte, gefragt, ob ich denn keine Angst hätte. Nein. Nicht eine Sekunde. Warum auch? Es gab nur eine einzige unsichere Frage, die allerdings eher Neugier als Angst in mir hervorrief: „Wo würde ich die nächsten Nächte unterkommen?"

    Meine Tochter hatte in ihrem alten Zimmer geschlafen, damit wir den letzten Abend noch gemeinsam verbringen und am nächsten Tag zeitnah starten konnten. Um 06:00 Uhr öffnete das Testzentrum, das mit dem Auto anfahrbar war und in dem ich mir vorsichtshalber noch einen ‚Schnelltest‘ abholen wollte. Stäbchen rein und 20 Minuten später saß ich mit dem negativen Testergebnis neben meiner Tochter im Auto Richtung Airport Straßburg und pünktlich um 10:30 Uhr landete der Flieger in Biarritz. Dort lernte ich am Busbahnhof die 26-jährige und 1,81 m große und sehr hübsche Sarina aus Karlsruhe kennen. Wir machten uns gemeinsam auf den Weg zum Startpunkt des Camino del Norte, den auch sie gehen wollte. Erst mit dem Bus zum Hendaye Gare und dann zu Fuß in ca. 30 Minuten nach Irun. Dort angekommen wurden wir beide dann erstmals etwas euphorisch, als wir mit den Füßen neben dem ersten Hinweisschild standen. Geiles Gefühl! Wir hatten den Camino del Norte betreten! Keine von uns beiden wusste, was dieser Weg an Erfahrungen für uns bereithielt. In Irun trennten sich dann schon unsere Wege, da sie eine Übernachtung gebucht hatte und ich gleich weiterwollte. In der City Hall Irun holte ich mir meinen Pilgerausweis und bekam meinen ersten Stempel für die Anreise und 30 Minuten Fußmarsch. Ich freute mich wie ein kleines Kind!

    Als ich um kurz vor 15:00 Uhr startete und aus Irun hinauslief, krähten mir einige Hähne spöttisch hinterher. Die wussten ja noch nicht, dass so ein 53-jähriger Gaul aus dem ‚Frommschen‘ Gestüt sehr hartnäckig sein konnte. Die Schafe und Ziegen zeigten etwas mehr Ehrfurcht und schauten mir bewundernd nach.

    Der Weg nach San Sebastian (denn dieses hatte ich mir irrsinnigerweise als Ziel gesetzt) war zwar traumhaft schön, aber sehr mühselig. Nach 4 Stunden zitterten meine Knie bei jedem Abstieg. Ich befürchtete schon es nicht zu schaffen. In einer kurzen Pause mit geistigem Größenwahnsinn, buchte ich zur zusätzlichen Motivation ein Hostel in San Sebastian. Und bereute es bei jedem verdammten schmerzenden Schritt. Aber nun musste ich da durch! Der erste Tag und ich war schon kurz vorm Heulen. So schaffte ich das langfristig nicht, das wurde mir spontan, wenn auch leider etwas zu spät, klar. Die An- und Abstiege wechselten zwischen steinigem Geröll und nassem Schlamm, so dass man bei jedem Schritt aufpassen musste.

    Ich war schließlich um 21:45 Uhr, nach über 30 km endlich am Hostel und der junge Mann fragte mich, woher ich jetzt noch käme. Ich antwortete auf Englisch: „Aus Irun und brauche jetzt dringend ein Bier! Er sah mich fassungslos an, fragte: „German? und als ich nickte, stellte er mir eine eisgekühlte Dose hin. Doch um diese genießen zu können, brauchte ich zuerst eine Dusche! Das Hostel war überfüllt mit männlichem Testosteron und somit die erste große Herausforderung! Denn meine erste Nacht auf dem Camino würde ich wohl gleich in einem Mehrbettzimmer mit ca. 8 Männern verbringen müssen. Ich hoffte nur, die konnten bei meiner Schnarcherei schlafen …

    Nach einer turbulenten Nacht weiter nach Orio

    15.06.2021. Es schliefen dann doch nur 3 Männer und 1 Französin mit im Zimmer und es wurde auch schnell klar weshalb. Mitten in der Nacht fing es im Nebenbett an zu rascheln. Mein Nachbar schien wohl noch Lust auf Knabbereien zu haben. Nachdem ich dem Knistern eine Weile zugehört hatte, fiel mir auf, dass sich der Nachbar wohl über mein Studentenfutter hermachte, welches ich in der offenen Seitentasche des Rucksacks deponiert hatte, welcher wiederum direkt zwischen uns am Kopfende stand. Ich drehte langsam meinen Kopf, schob den Bettvorhang leise zur Seite und sah zu meinem Erstaunen, dass das Bett neben mir leer war. Dafür krabbelte etwas Pelziges über meinen Rucksack. Ich schoss hoch und wollte dieser frechen Maus gerade erklären, dass ich meinen Proviant noch bräuchte, da machte sie sich feige aus dem Staub. Ich deponierte die Tüte im Inneren des Rucksacks und beschloss in den oberen Teil des Stockbettes umzuziehen. An Schlaf war dennoch nicht mehr zu denken, da die aufgewühlte Maus in Abständen mal über den Boden oder die Bettkante lief. So entschloss ich mich zu Entspannungsübungen, damit wenigstens mein geschlauchter Körper sich etwas erholen konnte. Am frühen Morgen gegen 06:00 Uhr (ich musste wohl doch noch etwas eingenickt sein) weckte uns die Französin dann in einer sehr ohrenunfreundlichen Tonlage, da es sich Mr. Maus wohl gerade bei ihr kuschelig machen wollte.

    Den netten jungen Spaniern zuliebe, die diese Herberge betrieben, wollte ich den Namen des Hostel in meinem Blog nicht erwähnen. Ansonsten war auch alles sehr sauber und die Atmosphäre sehr familiär.

    Mein rechtes Knie lieferte sich mit mir allerdings eine heftige Diskussion über den weiteren Verlauf des Tages. Ich mochte Mäuse, aber ich wollte weiter. So lief ich erst einmal nach San Sebastian hinein, um ein Rathaus oder eine Kirche zu finden, bei der ich mir meinen wohlverdienten zweiten Stempel holen konnte. Zu diesem Zeitpunkt war mir nämlich noch nicht bekannt, dass es diese Stempel auch in jeder Herberge gab. Ein Gebäude wurde mir in Google Maps als Rathaus angezeigt und eine nette junge Polizistin vor Ort drückte Stempel Nr. 2 in meinen Pass.

    Ich hatte zuerst kein wirkliches Ziel. Ich ließ es entspannt angehen, nahm erst einmal ein frisch gekauftes kleines Baguette und etwas Käse zu mir und fütterte die niedlichen Spatzen und Meisen. Dann wollte ich zumindest mal bis ans Ende von San Sebastian laufen. Der Atlantik lud auf der Strecke zum erholsamen Baden ein und ich konnte nicht widerstehen. Die meisten Strandbesucher räkelten sich nur träge in der Sonne und scheuten das kalte Wasser. Ich legte mir meinen Bauchbeutel mit den wichtigsten Gegenständen um den Hals und watete bis zum Bauch in das erfrischende Nass. Meinen Knien tat die Kühlung unglaublich gut. Ich fühlte mich anschließend auch tatsächlich fit genug, um weiterzugehen. Zur Belohnung für meine mutige Entscheidung kaufte ich mir ein knallbuntes und zuckersüßes Eis und wackelte los. Jetzt hieß mein Ziel: Orio! Gute 20 km entfernt (Jakobswegstrecke! Es gibt kürzere Wege, um jeweils zu den Etappen zu kommen). Der Ausblick über San Sebastian bestärkte mich in meiner Entscheidung - es war fantastisch! Das blau-grüne Meer war sichelförmig umrandet vom langgezogenen Sandstrand, umschlossen von der dennoch sehr grünen Stadt San Sebastian und im Hintergrund grüßten die Berge.

    Kein Foto konnte dieses erste Gefühl widerspiegeln. Ich wusste spontan, dass ich hier richtig war. Der Camino del Norte hatte mich wohl tatsächlich gerufen!

    Meine einzigen Wegesrand-Begleiter waren die Tiere, die mich grasend, dösend oder bellend begrüßten. Auf der ganzen Strecke begegnete mir kein einziger Pilger. Maximal 5 verrückte Jogger und ebenso viele Autos kreuzten meinen Weg.

    Allerdings wurde nun doch nach wenigen Stunden klar, dass auch dieser Weg beschwerlich werden würde. Mein rechtes Knie wollte sich, trotz neuem Knieschoner und leichtem Schmerzmittel, nicht auf die erneuten Strapazen einlassen. Das linke, und somit das eigentlich aufgrund eines Meniskusschadens beeinträchtigte Knie, hielt mir aber fest die Treue. Auf steinigem Weg entdeckte ich eine Möglichkeit doch einigermaßen schnell voranzukommen. Meine Knie hatten inzwischen den Namen ‚Maximus‘ und ‚Mimikus‘ erhalten. Wenn Maximus nun auf eine Erhöhung trat, konnte ich den ‚pienzigen‘ Mimikus gerade nach vorne durchziehen, ohne das Knie beugen zu müssen. Damit war Maximus zwar wirklich maximal beansprucht (immerhin musste ich nun hier das Bein immer stecken), aber Mimikus war somit entlastet. Das war zwar sicherlich sehr unfair, aber wir waren nun mal ein Team und mussten zusammenarbeiten. Zwischendurch wurde ich vom Camino persönlich noch mit einem Schild auf einer Steinwand angefeuert, das meinen Namen trug, was mir einen weiteren Motivationsschub verlieh.

    Nach 23 km kam ich um 18:30 Uhr endlich in Orio an und suchte nach einer günstigen Herberge. Leider waren alle Pilgerherbergen geschlossen und inzwischen drohte auch Maximus das ‚Kraft-Aus‘. Das über Booking.com zu buchende günstigste Hotel kostete 60 Euro/Nacht. Aber mir blieb keine Wahl, ich konnte nur noch in winzigen Schritten vorwärtskommen. Allerdings musste ich, um das Hotel zu erreichen, wieder ein Stück meines Weges mit eben diesen Mäuseschritten zurück. Die Dame an der Rezeption war zuckersüß und kümmerte sich so rührend um mich, dass ich vor lauter Dankbarkeit noch das Frühstück für 5 Euro dazubuchte. Bedeutete: die kommenden Tage musste ich finanziell stark runterfahren, sonst würde ich aus Kostengründen abbrechen müssen. Und das wollte ich auf gar keinen Fall!

    Jetzt gab es aber erst einmal ein warmes Bad und anschließend ein gekühltes, gratis Glas Sangria vom Hotel, welches von mir nicht ausgeschlagen wurde. Das Zimmer war wunderschön, aber grundsätzlich hatte ich mir meine Pilgerreise anders vorgestellt. Vor allem günstiger. Ich hatte auch nicht damit gerechnet, schon am ersten Tag gefühlt eines meiner Beine zu verlieren. Ich dachte eigentlich, ich sehe nicht nur aus wie eine gut durchtrainierte Frau, sondern ich wäre es auch. Vor meiner Reise nach Spanien hatte ich mit einigen 1,5 l Flaschen Wasser im Gepäck mehrere Strecken durch den Schwarzwald absolviert, um mich auf den Camino vorzubereiten. Und doch hatte mich die Kombination aus meinem doch etwas schwereren Gepäck, über 30 km Strecke und die Beschaffenheit des Weges mit seinen Höhenmetern zu Fall gebracht. Blöder Anfängerfehler! Die kommenden Tage mussten die Etappen einfach kürzer ausfallen. Aufgeben war definitiv keine Option!

    Erholt zurück nach Orio und weiter nach Zarautz

    16.06.2021. Ich schlief bis 08:00 Uhr mit nur 3 Unterbrechungen durch! Das ist in Anbetracht der Tatsache, dass ich normalerweise kaum schlafe, ein erfreulicher Start in den Tag.

    Dieser wurde auch nicht durch die immer noch maulenden Knie und der leichten Abschürfung an der rechten Schulter getrübt. Ich fühlte mich ausgeruht und fit für die nächste Etappe. Das Frühstück sorgte für eine weitere Euphorie! Der Kaffee war mega und so gönnte ich mir 2 Tassen. Den Rest des übrig gebliebenen Obstes packte ich als Reiseproviant ein. Ich hatte noch Zeit, da ich bewusst spät loswollte. Da der Rumpf während des Pilgerns aus meiner Sicht wenig beansprucht wird, legte ich mich auf den Boden und betrieb ein 8-minütiges leichtes Bauchmuskeltraining.

    Der Himmel wirkte regnerisch und so zog ich eine lange Hose an und versteckte darunter beide Knieschoner. Jetzt waren Maximus und Mimikus so gut eingepackt, dass ich hoffte, ihr Murren heute nur dumpf hören zu können. Noch etwas Sonnenmilch auf die Haut und Penatencreme auf die Schürfwunde. Um 10:26 Uhr startete ich. Nachdem ich am gestrigen Tag, um zu meinem Hotel zu gelangen, wieder aus Orio rausmusste, ging es heute wieder in die Stadt hinein. Und hoppla… vor mir die ersten Pilger!

    Unter normalen Umständen hätte mein Ehrgeiz mich gezwungen, die beiden schnellstmöglich zu überholen. Da der asphaltierte Weg jedoch nach unten führte, war ein Herankommen völlig ausgeschlossen. Auf gerader oder ansteigender Strecke konnte ich trotz der Schmerzen ein gewisses Tempo halten, bergab lief ich allerdings weiterhin im Mäuschenschritt.

    Orio lag wie eine braune Flunder im Tal. Es liegt zwar sehr idyllisch am Fluss Oria, aber sein Charme packte mich nicht und so machte ich mir auch nicht die Mühe, es weiter zu erkunden.

    Der Weg führte nun ausschließlich über asphaltierte Straßen. Der Reiseführer riet, möglichst am Grasrand entlangzulaufen, um die Gelenke zu schonen. Leider fehlte an einigen Stellen diese Möglichkeit und ich bekam zu spüren, wie unangenehm das Laufen auf der harten Straße war. Asphalt war ausschließlich für Kraftfahrzeuge gemacht worden. Für die landschaftliche Optik und unsere Gesundheit war er aus meiner momentanen Sicht aber völlig untauglich! Ich biss die Zähne zusammen und bemühte mich, die Schmerzen zu ignorieren. Die Wut auf den Asphalt aber blieb!

    Ich lief an einem eingezäunten Hundestrand und einer Eselfarm vorbei und freute mich über die glücklichen Tiere. Hier gab es überhaupt sehr viele Hundebesitzer, die ihre Tiere frei herumtoben ließen und niemand störte sich daran. Leider waren diese Hunde aber auch so gut erzogen, dass sie mich keines Blickes würdigten und schnell und ungestreichelt an mir vorbeiliefen. 

    Am höchsten Punkt der Straße fand sich wieder eine Wasserstelle, aus der ich gierig trank, denn der Weg auf der beschatteten und ansteigenden Straße hatte sehr durstig gemacht. Solche flüssige Quellen befanden sich in ca. 5 bis 7 km Abständen, so dass man keine Sorge wegen Wassermangel haben musste. Ich traf an einer dieser Wasserstellen auf zwei Cockerspaniel in Begleitung ihres Besitzers, denen es ebenso erging und überließ ihnen natürlich aufgrund der doppelten Anzahl an vielleicht schmerzenden Beinen den Vortritt.

    Nun ging es leider wieder bergab. Aber schon nach wenigen Metern wurde ich mit einer fantastischen Aussicht auf Zarautz belohnt! Ähnlich wie in San Sebastian lag das Meer an einem, diesmal mit dem Lineal gezogenen Sandstrand und wurde von Feldern und der Stadt Zarautz in Empfang genommen. Das Rauschen der leichten Wellen, die an den Strand gespült wurden und der frische Meeresduft in der Luft, ließen mich kurz meine Augen schließen und meine Schmerzen vergessen. Meine Seele hatte sich bisher noch nicht gemeldet. Ich denke, sie war sowohl überwältigt als auch überfordert mit so viel Freiheitsgefühl. Aber eine Emotion setzte sich immer stärker in mir fest: Ich war hier zu Hause! Nicht direkt in Spanien und auch nicht auf diesen Straßen. Es hätte wohl jedes andere Land und jeder Weg sein können. Aber ich war eine Pilgerin. Rast- und heimatlos gaben mir die Geräusche der Natur und die Einsamkeit das Gefühl, schon immer so gelebt zu haben und auch nichts anderes zu wollen oder anders: ich vermisste nichts!

    Ich war nur knapp 2 Stunden gelaufen, hatte aber Maximus und Mimikus versprochen, wir würden uns heute einen Ruhetag gönnen, um möglichst bald wieder schneller unterwegs sein zu können. Und außerdem waren wir ja nicht auf der Flucht, sondern wollten diesen Weg auch genießen. Mein Ehrgeiz meldete sich kurz zu Wort und erhielt spontan eine innerlich verbale Backpfeife. Die Pilgerherberge nahm

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