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Erkämpfte Träume
Erkämpfte Träume
Erkämpfte Träume
eBook349 Seiten4 Stunden

Erkämpfte Träume

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Über dieses E-Book

Zwei junge Menschen sehen einander nur für wenige Augenblicke. Zwillingsseelen, die sich in unterschiedlichen, oft dramatisch bewegten Momenten begegnen und wieder verlieren.

Zwei Zeitebenen, die in einander verschmelzen. Ein Sehnen. Die Natur des Verlangens, die überwältigende Intensität der Begierde – und dennoch schrecken beide in ihrer abgeklärten Modernität davor zurück. Selbst wenn Körperlichkeit und Sexualität längst aller Schamhaftigkeit beraubt sind, das Herz bleibt scheu. Empfindungen die verwirren, warnen, fordern gelebt zu werden, versinken im Morast der Konventionen. Verzweifelte Moral siegte über zwei Herzen. Das Feuer lodert, droht zwei Menschen zu verbrennen, bis….
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum4. Aug. 2013
ISBN9783847647591
Erkämpfte Träume

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    Buchvorschau

    Erkämpfte Träume - Inge Elsing-Fitzinger

    Jänner 1 9 5 7

    „Innsbruck, Hauptbahnhof. Der Eilzug Wien – Basel fährt auf Gleis 4 ein!"

    Eine knatternde Stimme versucht über Lautsprecher die Reisenden zu erreichen. Informationen dröhnen aus Boxen, werden durch den brausenden Luftstoß des einfahrenden Zuges verschluckt.

    Eine schnatternde Mädchenschar kreischt wild durcheinander. Prallgefüllte Rucksäcke. Wirr herumliegende Schier versperren den Durchgang. Missbilligende Schreie, hysterisches Rufen. Ein mit Armen und Beinen wedelnder Fahrdienstleiter perfektioniert das bedrohliche Chaos.

    In der Menge steht ein junger Mann, gut aussehend, elegant gekleidet. Unternehmungslust blitzt in seinen Augen. Hut und Mantel stechen treffend unpassend aus dem Gewirr von Schimützen und Anoraks ab. Unschlüssig mustert er zwei gewaltige Koffer, eine sichtlich schwere Reisetasche. Ausweglos scheint es ihm, durch dieses wirre Knäuel von Menschen und Gepäcksstücken die Treppe zum gewünschten Gleis zu erreichen.

    Der suchende Blick bleibt abrupt am Fenster des eben anhaltenden Zuges hängen. Der Herzschlag setzt einen Moment lang aus. Ein zartes Gesicht. Vorerst nur ein Oval mit zwei riesengroßen, mandelförmigen Augen. Bernsteinfarben funkeln sie ihm entgegen. Lockung. Verwirrung. Faszination.

    Koffer und Tasche sind vergessen. Kraftvoll schiebt er die herumstehenden Passagiere zur Seite, bahnt sich drängend den Weg hin zu diesem Traumbild. Er reißt Taschen aus Händen, tritt auf Zehen, überhört das Geschrei der Angerempelten. Von einem unsichtbaren Band gezogen, stürmt er vorwärts. Nur noch wenige Meter.

    Jetzt erkennt er einen wohlgeformten Mund, wilde schulterlange Locken, ein bezauberndes Lächeln, das nur ihm gelten konnte.

    In diesem Moment der Entzückung setzt sich der Zug in Bewegung.

    Er hastet weiter, winkt, ruft Worte, die im Rauschen des Fahrtwindes untergehen. Verzweifelt streckt er die Arme nach der wunderschönen, jungen Frau aus. Gehetzt folgt er den rollenden Waggons, hastet mit Riesenschritten dem Unglücksgefährt nach, das ihm das holde Wesen mit jeder Umdrehung der Räder mehr entreißt.

    Unvermittelt sind der Peron und damit die Verfolgung der immer schneller werdenden Wagen zu Ende. Aufgehäufte Schneeberge. Ein letzter Blick. Sie strahlt, winkt spontan, heftig. Mit wehenden Armen erwidert er den Abschiedsgruß. Pustend stammelt er:

    „Wer bist du? Wie heißt du, wo kann ich dich wieder finden?"

    Drei lustige Pfiffe der Lokomotive. Die höhnische Antwort auf seine Herzenspein.

    Enttäuscht kehrt er zurück zu den Gepäcksstücken, die verlassenen auf dem mittlerweile leergefegten Bahnsteig stehen.

    Erst jetzt besinnt er sich darauf, eilig den Zug zu finden, der ihn nach Reutte, seinem Wunschziel befördern sollte. Mit angespannter Stimme wendet er sich in makellosem Norddeutsch, dem stampfenden Fahrdienstleiter zu.

    „Ist dies hier der Zug nach Reutte, bitte!"

    Wildes Gestikulieren und Nicken bestätigt seine Vermutung.

    Kaum ist das Gepäck zur Tür hinein geschoben, dampft der Zug ab. Eilig erklimmt er das Trittbrett. Der eben Befragte, mit roter Mütze und Signaltafel, wirft die fliegende Tür hinter ihm zu.

    „Na duml di scho du damischer Flachlandtiroler, damischer!" hört er die keuchenden Worte des Beamten.

    Erschöpft lässt er sich auf einen Platz des kaum besetzten Waggons fallen. In seinem Schädel rotieren verworrene Gedanken an das eben Erlebte. Verdammt müde und erschöpft ist er plötzlich.

    Am Tag davor

    Das monotone Rattern der Räder verbreitete eine beklemmende Lethargie in dem viel zu engen Abteil des Expresszuges, der zügig von Holland gegen Süden strebte. Eine drückende Atmosphäre, verstärkt durch das Grollen des Donners in immer kürzeren Abständen. Am Himmel ballten sich riesige Wolkenmassen zusammen, drohten sich jeden Moment über die vorbeirasende Landschaft zu ergießen.

    Zeitig am Morgen hatte Eduard Behring den Romexpress bestiegen, um seine neue Arbeitsstelle in Österreich zu erreichen. Innsbruck oder Reutte. Zwei gewählte Möglichkeiten aus einem Wust von Stellenangeboten.

    Bei dem Gedanken an Mutters letzte Worte lächelte er unvermittelt. Bub, bist du völlig durchgeknallt, fährst da hinunter zu den Russen!

    Für die älteren Menschen im Norden Deutschlands, denen der Schreck des Krieges auch nach Jahren noch in den Knochen steckte, war Österreich gleichzusetzen mit dem tiefsten Balkan - also Russland.

    Mutter Behring hatte vor wenigen Tagen den Hörer aufgelegt und bitterlich geschluchzt. Ein schmerzliches Sehnen drängte den abtrünnigen Sohn, die verzweifelte Frau innig an sein Herz zu drücken. Er würde einen langen, ausführlichen Brief schreiben.

    Eduard sah die entsetzten Augen seiner Haushälterin vor sich. Seit über einem Jahr regelte die gute Frau zweimal die Woche, mit Engelsgeduld sein häusliches Chaos. Eine Perle.

    „Jesus Maria, Herr Eduard. Das können sie doch nicht machen. So Heut auf Morgen alles hinschmeißen. Die ungewisse Zukunft. Ein fremdes Land. Fremde Menschen!" Händeringend war sie in der kleinen Wohnung herumgerannt. Ein vergeblicher Versuch, mit mütterlicher Fürsorge dieses Hirngespinst aus seinem Kopf zu treiben.

    „Sie kennen doch keinen Menschen da unten. Und die Sprache! Womöglich können sie sich mit diesen Leuten gar nicht richtig verständigen."

    „Sie haben doch auch unsere Sprache perfekt gelernt Frau Novak", hatte er gelacht. Die gute Frau war Tschechin, vor vielen Jahren mit ihrem Mann aus der Heimat geflüchtet. In Deutschland hatte sie tapfer gegen Vorurteile angekämpft und wurde glücklich. Der leicht böhmische Akzent rang ihm oft ein Lächeln ab. Ihren kleinen Sohn hatte sie als Dreijährigen verloren. Vor langer Zeit.

    „Ich mag sie so gern, Herr Eduard. Sie sind mir ans Herz gewachsen, als wären sie mein eigenes Kind. Oh Gott, den Trennungsschmerz werde ich nicht verkraften. Man könnte glauben sie rennen vor irgendetwas davon!"

    Tu ich ja auch, wollte er antworten. Hatte es aber dann doch nicht getan. Verzagt hatte Frau Novak seine Habseligkeiten in die Koffer geschlichtet.

    „Die frisch gebügelten Hemden. Alles wird wieder zerknittert sein, wenn sie dort ankommen." Aufgeregt war sie herumgeflattert, konnte sich kaum beruhigen.

    „Ich schreibe auch bestimmt sofort eine Karte. Ich schaffe das ganz bestimmt." Er hatte die rundliche Frau zärtlich umarmt, einen Kuss auf die Wange gedrückt. Tränen kollerten über ihre vollen Backen. Ein herzzerreißender Seufzer zum Abschied.

    „Gott befohlen, junger Herr, und alles Glück der Welt!" Ihre letzten Worte hatten gut getan.

    Eine Pappelallee am Horizont. Gefährliche Lanzen. Eine Phalanx gegen die unbändige Naturgewalt. Furcht einflößend. Belächelt von der Allmacht des göttlichen Willens. Das Brausen, Stöhnen, Dröhnen und Rollen schwoll zu einer disharmonischen Symphonie an. Crescendo, Forte, Fortissimo!

    Mit Paukenwirbel und Tschinellegeschmetter brach die schwarze Hülle auseinander. Kugelhagel prasselte auf das Zugdach. Sintflutartige Bäche schwappten über angelaufene Scheiben. Aufgrellende Blitze. Für Bruchteile von Sekunden war die Düsternis erhellt.

    Unbeirrt raste der Zug weiter. Ein mühseliger Versuch dem verderblichen Schicksal zu entfliehen. Wie Zündhölzer brausten Strommasten vorbei. Zischende Luftböen in der angespannten Stille. Das Gefährt hetzte in gleichmäßigem Rhythmus von Bahnschwelle zu Bahnschwelle. Ein Tunnel. Schlagartig verstummte der Trommelwirbel.

    Die westfälische Landschaft, satte Weiden blieben in dichten Nebelschwaden zurück. Wiesen, die sich in Windeseile zu endlosen Seen wandelten, lagen hinter ihnen.

    Der Zug flutschte durch die dunkle Röhre ans Tageslicht. Die Welt war verändert. An den Scheiben zerplatzten dicke Tropfen. Das Dröhnen flaute in Sekundenschnelle ab. Feierliche Stille, nur die regelmäßigen Stöße der Achsen.

    Jetzt war der Himmel blau, mit hellen, pfützenähnlichen Wolkenfetzen bekleckert. Vom Horizont spannte sich ein prächtiger Regenbogen bis zu den Gleisen. Triumphierendes Pfeifen und Schnalzen. Nach Süden, immer weiter, immer weiter nach Süden.

    Zu fünft saßen sie im Abteil. Unterschiedlich an Alter, Geschlecht und Aussehen. Ein fettleibiges männliches Ungetüm schnaufte in der linken hinteren Ecke. Ein Walross, nicht nur an Umfang. Ein zerrupfter Schnauzer wölbte sich über wulstige Lippen, verdeckte eine tiefe Hasenscharte.

    Der rundlichen Bauersfrau gegenüber rutschte der voll gestopfte Proviantkorb vom Schoss. Wurstbrote und Äpfel kollerten zu Boden. Der Nachbar grunzte. Sein hochrotes Gesicht verzerrte sich unwillig. Die klebrige Brille glitt von der Nasenwurzel zur knolligen Spitze. Im letzten Moment fassten ungeschickte, verhornte Händen danach.

    Beim Fenster saß ein junger Mann. Anfang, höchstens Mitte zwanzig. Üppiges, dunkelbraunes Haar fiel keck über die hohe Stirn. Der Rest lag zurückgekämmt über einem wohlgeformten Schädel. Graugrüne Augen fixierten starr einen undefinierbaren Punkt.

    Schiefergrauer Anzug, makellos, nahtglatt. Eine etwas auffällige Weste aus rotem Baumwollstoff, mit eingewebten, silbernen Sternchen. Silberne Knöpfe. Die ebenso rote, mit silbernen Querstreifen durchwirkte Krawatte, korrekt zwei Daumenbreit geknotet. Socken in etwas dunklerem grau als die Hose. Auf Hochglanz poliertes Schuhwerk. Der Anzug war selbst gefertigt. Sein Meisterstück. Dementsprechend gab er sich, selbstbewusst und sicher.

    So passend sich das Erscheinungsbild auch zusammenfügte, so unpassend schien es für diesen Anlass. Im Netz über ihm zusammengepfercht zwei große Koffer aus hellem Schweinsleder, eine prall gefüllte Reisetasche. Die Gepäcksstücke ließen eine länger dauernde Reise vermuten.

    Ein heftiges Rucken des Zuges. Aus seinem Traum gerissen, hörte er plötzlich die Worte seiner Mitreisenden. Plattdeutsch. Ausdrucksweise und Tonart variierten unwesentlich. In jedem Ort des Münsterlandes wandelte sich der Dialekt geringfügig. Mit ihm änderten sich auch Gehabe und Mentalität der Menschen. Manche waren zurückhaltender als andere, wortkarger, stiller. Gesprächig oder überschwänglich war wohl kaum einer. Mit wenigen Worten kam man rasch auf den Punkt. Eine romantische Liebeserklärung zu formulieren lag nicht in der Wesensart der Westfalen. Trotzdem liebten sie.

    Eduard Behring, der junge Mann mit dem eher unpassenden, doch perfekt passenden Anzug, saß schweigend inmitten der Gruppe. Feingliedrig dünnhäutige Hände ruhten kraftvoll auf der makellosen Bügelfalte. Die Schmachtlocke auf der ebenmäßigen Stirn verlieh ihm ein abenteuerliches Aussehen.

    Auch er kam aus dem Norden, aus einem kleinen Städtchen an der holländischen Grenze. Die meisten Männer dieser Gegend waren Nachkommen der Wikinger. Eduards dunkler Haarschopf bildete eine löbliche Ausnahme. Sein hoher Wuchs, sein schmales, wohlgeformtes Gesicht, die breiten Schultern zeigten Rasse. Er war stolz Westfale zu sein, geboren im Frühling 1936, in einer verträumten Kleinstadt.

    Wie nah noch an Kilometern, und doch schon so fern im Herzen.

    „Die Heimat werde ich nie vergessen", säuselte er kaum hörbar vor sich hin.

    „Es ist an der Zeit die Geborgenheit abzustreifen, sich von der Familie zu lösen." Eine Tatsache, die die meisten seiner Landsleute als Sakrileg bezeichnet hätten.

    In der vergangenen Nacht hatte er die Nabelschnur mit einem scharfen Schnitt durchtrennt. Jetzt war er auf der Flucht vor der Einberufung zur Bundeswehr.

    Im Ernstfall würde er sein Herzblut für das Vaterland lassen. Er liebte seine Heimat. Den Humbug, dieses großkotzige Training zur Verteidigung wollte er einfach nicht mitmachen. Krieg führen ja, Krieg spielen bestimmt nicht.

    Ein Entschluss, den er lange überdacht, alle Fürs und Wider erwogen hatte. Letztlich stand seine Entscheidung fest.

    Ein Deserteur der deutschen Fahne, doch reinen Herzens.

    Drei Jahre später: Frühling 1 9 6 0 in Wien

    Theresa wickelte eine Locke ihrer Prachtmähne verträumt um den Finger. Melancholie lag in ihrem Blick, Sehnsucht und Zuversicht.

    „Den Mut könnte man schon verlieren bei soviel Jugendwahn in der Modeszene, sinnierte sie vor sich hin. „Sechzehnjährige drängen unermüdlich vorwärts. Da sehe ich mit meinen fast zweiundzwanzig Lenzen bisweilen ganz schön alt aus. Aber ich bin glücklich und das ist doch das Wichtigste.

    Die junge Frau strahlte von Innen. Liebe! Begeisterung für ihren Beruf! Ein Sehnen, mehr zu geben, als ihr gerade in letzter Zeit möglich gewesen war. Selbstverwirklichung, einen stets wiederkehrenden Traum umzusetzen.

    Kritisch betrachtete sie ihr Spiegelbild. „Die Lockenpracht? Pure Berechnung? Bestimmt nicht, klang ihre Stimme überzeugt. „Ich liebe meine langen Haare. Schon als Mädchen war ich stolz auf seine üppige Fülle.

    Mühevoll hatte einst die allzu strenge Frau Mama sie zu Zöpfen zusammengewürgt. Mutter hielt es für unschicklich und absolut unangebracht, mit wallender Mähne zur Schule oder zum Klavierunterricht zu gehen.

    Unglücklich ließ Tess dieses Martyrium damals über sich ergehen, löste jedoch bei jeder sich bietenden Gelegenheit das quälende Geflecht auf. Die krausen Locken fielen dann schon bei der kleinsten Bewegung übermütig über Stirn und Nacken.

    „Lass sie doch ihre herrlichen Haare offen tragen. Die meisten Mütter wären stolz, wenn ihre Töchter eine solche Mähne aufzuweisen hätten", kam der verständnisvolle Einwand Papas öfters zaghaft durch. Doch leider hatte Papa im Hause Hofer nur die Funktion des zweiten Geigers. Um des lieben Friedens willen, wie er sich meist auszudrücken pflegte, und resigniert die Schultern hob. Gegen die Autorität seiner allgewaltigen Frau konnte und wollte er nicht ankämpfen.

    Mittelmäßigkeit feierte Triumph. Risiken wurden gescheut. Durch jahrelange Knechtschaft mürbe gemacht, fungierte er als treusorgender Familienvater, plante das leibliche Wohl seiner Lieben. Zu Hause hielt er sich eher im Hintergrund. In gehobener Beamtenstelle zeigte er sich stets verständnisvoll und zuverlässig der kleinen Gruppe gegenüber, die er väterlich betreute.

    „Wo sind nur meine Träume geblieben, grübelte er oft. „Große, schöne Träume. Schauspielschule. Burgtheater. Filmstar. Große Karriere.

    Irgendwann einmal stand Leopold Hofer kurz davor, ein zukunftsträchtiges Engagement zu bekommen. Just in dem Augenblick hatte das Schicksal erbarmungslos zugeschlagen, ihm Mara über den Weg geschickt. Zielstrebig schaltete die junge Frau die Hirngespinste ihres Geliebten aus, verdonnerte ihn zu lebenslangem Staatsdienst. Als Lohn durfte er sie, die alles Beherrschende, zum Traualtar führen. So geschehen am 3. September l933. Ein denkwürdiger Tag im Leben des leider allzu schwachen, seelenguten Mannes.

    Frau Mara Hofers Leben verlief in penetrant geregelten Bahnen. Tödlich langweilig, phlegmatisch, moralisierend, wie Tess bald herausfand. Trotz ständigem Lamento über Familie, Freunde und Bekannte, die sich mit unverschämter Selbstverständlichkeit regelmäßig bei ihr ein Stelldichein gaben, wurde kein Fest übersehen. Sie fühlte sich für die ganze Verwandtschaft verantwortlich. Ein Versäumnis wäre ihrer unmaßgeblichen Meinung nach, einem mittleren Weltuntergang gleichzusetzen gewesen.

    In der geräumigen Küche prangte ein nicht zu übersehender, etwa vierzig Zentimeter langer Geburtstagskalender. Über und über voll gekritzelt mit roten, blauen, gelben und grünen Namen. Durch verschiedene Farben nach Wichtigkeit, wie Verwandtschaft, Freunde, Bekannte oder sonst wen, geordnet. Nicht zu vergessen, die in Schwarz geschriebenen, mit einem Kreuz und dem genauen Datum des jeweiligen Todesjahres versehenen. An solchen Tagen stand dann ein Bild des Onkels, der Tante oder eines Freundes im ersten Fach der Anrichte. Davor flackerte eine kleine Kerze.

    Damals als Kind häufig belächelt, musste Theresa sich eingestehen: „Ich habe doch tatsächlich auch solch ein Ding an der Wand hängen. Zwar wesentlich kleiner, aber immerhin. Meine Aktionen und Sehnsüchte, ein kaum zu bewältigendes Arbeitspensum. Termine und Sessionen, Auftritte, Meetings", stöhnte sie auf.

    Das Telefon schrillte störend.

    „Der Termin für die Modenschau wurde um zwei Stunden vorverlegt. Ein Keuchen in Intendant Möllers Stimme ließ sie das Schlimmste befürchten. „Tess, sie müssen um fünfzehn Uhr auf der Matte stehen, sonst gibt es eine Katastrophe.

    „Immer ich. Habt ihr denn kein anderes Zugpferd mehr." Den Termin im Kosmetikstudio konnte sie wieder einmal vergessen.

    „Aber ich habe doch noch…"

    „Es gibt nichts Wichtigeres. Sie sind vertraglich gebunden. Bitte Tess, machen sie mir das Leben doch nicht so schwer." Von wegen, dachte die gestresste Frau verbittert. Möller kreischte hektisch weiter.

    „Außerdem fliegen sie für zwei Tage nach Mailand. Das habe ich heute Vormittag mit Belluzzi arrangiert. Die neue Kollektion ist fertig. Packen sie das Notwendigste zusammen. Ich bringe sie nach der Show persönlich zum Flughafen. Tschüss bis später. Ich kann mich doch auf sie verlassen?" War das nun eine Frage, überlegte Tess leicht schockiert. Eher ein Befehl.

    Wo blieb da noch Zeit für einen Gedanken an Tante Emmas Namenstag?

    Mutters zweite Leidenschaft galt ausschließlich ihrer Wunschtochter. Mit diesem Kind stillte sie ihr Sehnen nach etwas, das ausschließlich ihr gehören sollte. Dem Etwas, das sie besitzen, formen, manipulieren konnte. Dem sie ihren Willen aufzwingen, es beherrschen wollte. Ihr Ehemann blieb meist zurückhaltend, um unnötigen Streitigkeiten aus dem Weg zu gehen.

    Leopold hatte seine eigene Lebensphilosophie, die er mit akribischem Eifer verfolgte. Quälte ihn das Weib zu sehr, verschwand er stillschweigend. Reichte das Nebenzimmer nicht aus, und verfolgten ihn ihre Sticheleien und zänkischen Beschimpfungen selbst bis auf das kleinste Örtchen der nicht allzu großen Wohnung, packte er Hut und Mantel, suchte Zuflucht bei Freunden aus vergangenen Jugendtagen. Häufig seufzte er schweren Herzens längst verlorenen Illusionen nach.

    „Die liebenswerte, fröhliche Hansi! Einstmals Solotänzerin an der Staatsoper. Und der gutmütige Karl, mittlerweile ein begehrter Volksschauspieler", träumte er. „Den Fritz mag ich am allerliebsten. Was für herrliche Witze erzählte er doch stets, ohne die Miene zu verziehen.

    In ihrer Runde konnte er unbeschwert und herzlich lachen. Auch das ein oder andere Gläschen Wein durfte er sich genehmigen, ohne eine ätzende Rüge befürchten zu müssen. Manchmal durfte ihn Tess begleiten. Glücksmomente, von denen es nicht allzu viele zu Hause gab. Mutter fühlte sich unverstanden, verschmäht, und ließ dies auch alle hören, ob es sie interessierte oder nicht. Sie nervte mit bewundernswerter Ausdauer.

    Ihr Kind, für sie von Anfang an klar, dass es nur ein Mädchen sein konnte, sollte alle unerfüllten Träume erfüllen, alle heimlich ersehnten Wünsche Wirklichkeit werden lassen. Sie imaginierte einen Homunkulus, geschaffen aus ihr, geformt von ihr, gelebt einzig nach ihrem Reglement.

    Theresa war selbstverständlich ein Mädchen, auch ein Sonntagskind, wie gewünscht. Die erste Enttäuschung, die sie Mama gleich bei der Geburt bereitete, war ein Kranz kohlrabenschwarzer, etwa fünf Zentimeter langer Haare, anstatt der ersehnten blonden Löckchen. Nach etwa drei Monaten fielen auch diese, missmutig bereits akzeptierten schwarzen Borsten aus.

    „Leopold, was soll ich nur machen, kreischte die Frau einst panisch. „Das Kind sieht ja schrecklich aus. Ich werde noch verrückt. So kann ich den Wurm doch keinem Menschen zeigen. Ein erstickter Verzweiflungsschrei durchdrang die Wohnung. Tess strahlte als rosiger Skinhead in den Tag. Totale Panik seitens der Mutter, über Monate.

    „Das Kind braucht unbedingt Ersatzhaare. Ich habe mich schon diesbezüglich erkundigt. Morgen wird eine Kinderperücke angeschafft. Koste es was es wolle." Diesen Irrsinn verhinderte Papa überraschender Weise.

    Endlich, als Einjährige, sprossen Härchen als zarter Flaum, die sich, je länger sie wurden, in winzigen Ringellöckchen um das hübsche Gesicht legten. Selbstverständlich weißblond, wie gewünscht.

    Stolz nahm Mutter die entzückten Vergleiche von Nachbarn und Bekannten entgegen, denen sie ihr wunderschönes Töchterchen nun präsentierte.

    Häufig dehnte Mara ihre Einkäufe stundenlang aus, und hörte sich nicht satt an den Verzückungen der Leute, die sie traf.

    Tess konnte sich des Gedankens nicht erwähren, Mutter hätte sie mit Freuden unter einen Glassturz gestellt, im Naturhistorischen Museum als Unikat bewundern lassen.

    Dabei wäre mein einziger Wunsch nur etwas aufrichtige Liebe gewesen. Ein wenig Zärtlichkeit, Streicheleinheiten, eine innige Umarmung, Verständnis und später, ja später oft auch Nachsicht, sinnierte sie bisweilen.

    Doch solcher Gefühle war die Mutter nicht fähig. Sie erwartete Perfektion. Wozu hätte sie sonst all die hübschen Kleidchen, Stiefelchen, Maschen und Rüschen, die sündteuren Geburtstagspartys finanziert? Ausgaben müssen sich schließlich lohnen.

    Mit weißen Strumpfhosen, weißen Handschuhen und einem pastellfarbenen Schürzchen stand Tess oft sehnsüchtig vor der Sandkiste, beneidete ihre Altersgenossen. Im Gatsch planschten, Sandburgen bauen. Doch da war kein Erbarmen seitens der gestrengen Mama zu erwarten. Ein einziges Mal stürzte sie sich mit heroischem Mut mitten in das Kindergetümmel. Kurz darauf wurde sie unter Beschimpfungen und Ohrfeigen vom Spielplatz gezerrt. Soviel zur wunderbaren Kindheit.

    Theresas sechster Geburtstag war gleichzeitig auch ihr erster Schultag. Freudige Erregung erfüllte das Kinderherz. Nun aber mussten beste schulische Leistungen erbracht werden.

    Wenigsten diesbezüglich gab es keine nennenswerten Probleme, erinnerte sie sich. Aber Mutters krankhafter Ehrgeiz, aus ihr eine Nobelpreisträgerin zu machen, ein Hirngespinst. Lernen bis spät in die Nacht. Unzählige herausgerissene Seiten, wenn auch nur ein einziger Buchstabe etwas aus der Reihe tanzte. Ungerechte Prügel mit dem Kochlöffel oder dem Teppichklopfer. Völlig überflüssig, trotzdem nicht weniger schmerzhaft.

    „Wenn du dich weiter so renitent anstellst, du undankbarer Fratz, kommst du ins Internat, das verspreche ich dir." Sie hörte Mutters schrille Stimme, als stünde sie neben ihr.

    Tess wurde immer aufmumpfiger, begann sich vehement den felsenharten Maßstäben der ehrgeizigen Mutter zu widersetzen. Fazit: Internat. Klosterschule. Papas schwache Gegenargumente wurden völlig ignoriert.

    So kniete Theresa tagaus, tagein um sechs Uhr morgens in der Klosterkapelle, leierte inbrünstig Gebete und Bitten herunter, in der Hoffnung ein Gott hätte Erbarmen. Doch da war scheinbar auch wenig Verständnis zu erwarten. Es tat sich einfach nichts, was in irgendeiner Form ihren Wünschen entsprochen hätte. Fromme Sprüche ballten sich zentnerschwer auf das gemarterte Kinderherz.

    Irgendwann kam für kurze Zeit der Wunsch auf Ordensfrau zu werden und Medizin zu studieren. Albert Schweizer war in aller Munde, fand auch den Weg hinter die meterhohen Steinmauern des Klosters. Theresa, wie sie nun allerorts genannt wurde, wollte als Missionsärztin nach Afrika.

    „Schaut doch nur, diese armen, niedlichen Heidenkinder. Denen will ich unbedingt helfen. Das kann doch nicht allzu schwer sein." Triumphierend hatte sie damals stapelweise Bilder in der Runde geschwenkt, die die frommen Frauen ihr mit Begeisterung schenkten. Sie wollte den Ärmsten der Armen Glück und Frieden bringen.

    „Außerdem haben die Schwestern so wunderschöne, wallende Kleider an." Eine Feststellung, die selbst Papa nicht widerlegen konnte.

    Tess betete also fleißig weiter, lernte seitenweise Bibelsprüche auswendig, und wurde bald eine hoffnungsvolle Anwärterin.

    Mit wachsender Besorgnis beobachtete Papa den Wandel seines geliebten Kindes, und begann nun doch systematisch dagegen anzukämpfen.

    Eines Tages, es war an Theresas vierzehntem Geburtstag, fasste er sich ein Herz, überhörte alle Protestrufe der frommen Frau Mama, beschloss seine einzige Tochter aus dem Internat zu nehmen, um sie vor dem „drohenden Klosterleben" zu bewahren.

    „Hast du dir eigentlich schon einmal ernstlich Gedanken über deine Zukunft gemacht?", fragte der fürsorgliche Vater nach einer ungemütlichen Jause mit diversen Onkeln und Tanten, die alle gekommen waren, um nach dem Seelenheil des jungen Mädchens zu sehen.

    „Du hast doch so gerne deinen Puppen neue Kleidchen genäht, und dich dabei äußerst geschickt angestellt. Möchtest du nicht auf eine höhere Schule gehen, wo du alles über Schneiderei, Mode und Design lernen könntest?

    Erstaunt hatte ihn Tess angeblickt. Zweifelnd, ratlos. Die einseitige Erziehung im Kloster hatte sie völlig vergessen lassen, dass es auf der Welt auch noch andere Dinge, andere Berufe, andere Maßstäbe gab, die es lohnte zu bedenken.

    „Nächsten Donnerstag fahre ich mit dir in die Modeschule Hetzendorf. Die Frau Direktor hat uns freundlicher Weise eine Sonderführung mit ausgiebigen Erklärungen und Hinweisen zugesichert. Eine zukunftsträchtige Branche", fügte Vater mit Überzeugung hinzu.

    Tess war begeistert. Spontan beschloss sie zu Beginn des nächsten Schuljahres dort einzutreten. Zum Geburtstag wünschte sie sich eine Nähmaschine.

    Völlig aufgewühlt, streifte das Mädchen in den weiten Räumen der vielleicht künftigen Schule umher. Erinnerungen überwältigten sie.

    Sie war etwa drei Jahre alt, als Mama eine Periode der Selbstverwirklichung hatte. Modistin. Den Beruf hatte sie einst erlernt. Diese verrückten, untragbaren Hüte, die Mama in dieser Zeit auf ihrem Kopf herumschleppte, in der tiefsten Überzeugung die Schönste zu sein. Obstkörbe, dann wieder Vogelnester oder Blätterranken in Herbsttönen. Entsetzlich kitschig aber sehr spaßig.

    „Ich habe mir damals wirklich alle Mühe gegeben, diese guten Stücke auseinander zu nehmen, lachte sie herzlich auf. „Was für ein Spaß, an ihnen herumzuschnippeln, oder das schrecklichste Ereignis; eines dieser einmaligen Modelle in den Ofen zu stecken, wo es ein Raub der Flammen wurde.

    Erbarmungslos prügelte Mutter mit dem Teppichklopfer damals auf sie ein, kreischte hysterisch. Sie war wirklich bitterböse. Ein Schauer überlief sie heute noch.

    Tess hatte zu dieser Zeit täglich viele Stunden bei den drei Buresch – Schwestern verbracht. Die unverheirateten Damen wohnten auf der gleichen Etage. Sie führten einen seriösen Schneidersalon, und gaben den perfekten Babysitter ab. Liebevoll umhegten sie den kleinen Spatz mit allem nur Erdenklichen. Hier fühlte das Kind, bislang erdrückt von kühler Zuwendung, das erste Mal aufrichtige Zärtlichkeit. Ausgehungert nach Liebe und Verständnis, hineingepresst in das Wunschschema einer unbefriedigten, egozentrischen Frau, empfand sie Wärme, Verständnis und Geduld als himmlische Wohltat.

    Tante Willy, die älteste, riesengroß und ziemlich beleibt, mit lustigen Grübchen in den Wangen. Richtige kleine Löcher, weil sie immer

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