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Lebensweisheiten eines ordentlichen Trinkers: Einblicke in ein anderes Leben mit Alkohol und in das Kuckucksnest der MPU
Lebensweisheiten eines ordentlichen Trinkers: Einblicke in ein anderes Leben mit Alkohol und in das Kuckucksnest der MPU
Lebensweisheiten eines ordentlichen Trinkers: Einblicke in ein anderes Leben mit Alkohol und in das Kuckucksnest der MPU
eBook407 Seiten5 Stunden

Lebensweisheiten eines ordentlichen Trinkers: Einblicke in ein anderes Leben mit Alkohol und in das Kuckucksnest der MPU

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Über dieses E-Book

Nie habe ich gedacht, dass ich ein zweites Buch schreiben würde über Alkohol. Nie habe ich gedacht, dass eine zweite Trinkphase möglich ist. Nie habe ich einen Rückfall für möglich gehalten. Aber das hier ist tatsächlich eine Fortsetzung. Entscheiden sie selbst, ob es auch ein Rückfall ist. So erzähle ich also weiter über Alkohol und den Kampf gegen seine Folgen.
Die sorgten diesmal für unglaubliche juristische und gutachterliche Konsequenzen. Obwohl ein Gericht ein Verfahren ohne hinreichenden Tatverdacht ablehnte, wurde mir diesmal der Führerschein auf Intervention des Staatsanwalts bei der Verkehrsbehörde, wieder entzogen. Da musste er nichts beweisen. Es reichte seine widerlegte Version der Dinge, damit die Behörde wohlwollend Bedenken erhob, die mich plötzlich beweispflichtig machten. Nur durch eine medizinisch-psychologische Begutachtung konnte ich da wieder rauskommen, trotz einer eindeutigen richterlichen Entscheidung. Dieser taktische Clou führte mich diesmal noch tiefer in ein Kuckucksnest absonderlicher Merkwürdigkeiten fern jeglicher Wahrheit, aber offizieller Realität.
Mein Vertrauen in gutachterliche Präzision auf wissenschaftlicher Basis wurde zu tiefst erschüttert. Ein Höhepunkt war, dass ein Gutachter von einer tatsächlichen Trunkenheitsfahrt als Anlass für die MPU ausging. Das war bei ihm wohl bisher immer so gewesen. So sah er keinen Grund an seinen Überzeugungen aus Erfahrung zu zweifeln, in denen es einen Fall wie den meinen nicht gab. Er ging also ganz selbstverständlich von der Anwendbarkeit seiner Erfahrungen aus, so dass er es nicht für nötig erachtet hatte im Vorfeld meine Akte zu studieren.
Dies ist ein Kernproblem der Begutachtung. Wenn allgemeine Annahmen erhoben werden, können die im Einzelfall in Widerspruch zur Realität stehen. Der Klient, der dann bei der Wahrheit bleibt, kann unmöglich gegen die Überzeugung des Gutachters bestehen. Glaube versetzt Berge, nicht das Wissen.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum14. Sept. 2014
ISBN9783847612360
Lebensweisheiten eines ordentlichen Trinkers: Einblicke in ein anderes Leben mit Alkohol und in das Kuckucksnest der MPU

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    Buchvorschau

    Lebensweisheiten eines ordentlichen Trinkers - Helge Hanerth

    Vorwort

    Nie habe ich gedacht, dass ich ein zweites Buch schreiben würde über Alkohol. Nie habe ich gedacht, dass eine zweite Trinkphase möglich ist. Nie habe ich einen Rückfall für möglich gehalten. Aber das hier ist tatsächlich eine Fortsetzung. Entscheiden Sie selbst, ob es auch ein Rückfall ist. So erzähle ich also weiter über Alkohol und den Kampf gegen seine Folgen.

    Die sorgten diesmal für unglaubliche juristische und gutachterliche Konsequenzen. Wieder wurde mir der Führerschein entzogen. Diesmal nach einer Personenkontrolle an einer S-Bahn Station. Ich war mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs. Die Streifenpolizisten waren anderer Meinung. Der folgende Antrag eines Staatsanwalts auf ein Gerichtsverfahren wurde ohne hinreichenden Tatverdacht abgelehnt. Den Führerschein erhielt ich zurück, bis auf Intervention des Staatsanwalts bei der Verkehrsbehörde diese den Führerschein wieder einzog. Diesmal musste er nichts beweisen. Es reichte seine vor Gericht widerlegte Version der Dinge, damit die Führerscheinstelle wohlwollend Bedenken erhob, die mich plötzlich beweispflichtig machten, obwohl kein Vergehen vorlag. Nur durch eine Medizinisch-Psychologische Begutachtung (MPU) konnte ich da wieder rauskommen. Dieser raffinierte Dreh des Staatsanwalts führte mich diesmal noch tiefer in ein Kuckucksnest absonderlicher Merkwürdigkeiten fern jeglicher Wahrheit, aber offizieller Realität.

    Mein Vertrauen in gutachterliche Präzision auf wissenschaftlicher Basis wurde zu tiefst erschüttert. Der Gutachter hatte sich ein entsprechend seiner Erfahrung plausibles Bild gemacht, dem ich nur noch zustimmen sollte. Ein makabrer Höhepunkt seiner Annahmen war, das er von einer tatsächlichen Trunkenheitsfahrt als Anlass für die MPU ausging. Das war bei ihm wohl bisher immer so gewesen. So sah er keinen Grund an seinen Überzeugungen aus Erfahrung zu zweifeln, in denen es einen Fall wie den meinen nicht gab. Er ging also ganz selbstverständlich von der Anwendbarkeit seiner Erfahrungen aus, so das er es nicht für nötig erachtet hatte im Vorfeld meine Akte zu studieren. Ganz offiziell lag lediglich ein Verstoß gegen die Abstinenzpflicht vor. Daraus machte der Gutachter eine wiederholte Trunkenheitsfahrt. Meine Einwände fand er unglaubwürdig. Das entsprach einfach nicht seiner Erfahrung.

    Der Experte war einem Kernproblem bei der Begutachtung erlegen. Wenn allgemeine Annahmen erhoben werden ohne ausreichende Wissensgrundlage, können die im Einzelfall in Widerspruch zur Realität stehen. Der Klient, der dann bei der Wahrheit bleibt, kann unmöglich gegen die Überzeugung des Gutachters bestehen. Glaube versetzt Berge, nicht das Wissen.

    Ich war enttäuscht, dass man mich auf ein statistisches Niveau stutzte, das mit meiner Lebensrealität überhaupt nicht zusammenpasste. Die relativen Aussagen von Statistiken wurden zum absoluten Maßstab erklärt. Man erwartete, dass ich ihre Annahmen bestätigte. Darüber hinaus interessierte man sich nur für Maßnahmen, die ich ergriffen hatte, um aus dem tiefen Loch des Alkoholismus herauszukommen, in dem ich mich nie sah. Es war doch alles ganz lustig gewesen und die Trinkphase längst abgeschlossen.

    Ich war schockiert, wie man Fakten ignorierte, wenn sie nicht die Überzeugungen der Experten und ihre Statistiken stützten. So entstanden einige systematische Fehler in ihren Folgerungen, die durch und durch falsch waren und den Prinzipien einer empirischen Vorgehensweise krass widersprachen. Vorsichtige Kritik wurde mir schnell als Unschuldsfantasie oder Widerstandstendenz ausgelegt. So kreierte man ein surreales Kuckucksnest in dem selbstherrlich des Gutachters Gespür und Bauchgefühle regierten. Assoziationen ohne rationalen Bezug dienten der Bestätigung von Überzeugungen. Wenn dem etwas widersprach, dann gehörte es auch nicht in die MPU. Die Rechtfertigungen blieben diffus, denn er suchte nur die Plausibilität, die er vorgab. Er wusste, die Beweislast lag bei mir.

    Damit konnte ich mich nicht abfinden, weder als Betroffener noch als Wissenschaftler. Offizieller Unsinn muss öffentlich gemacht werden, wenn die Abweichung amtlicher Feststellungen von der Realität krass wird. Gutachterliche Qualität mit wissenschaftlichen Methoden muss eine größere und vor allem reproduzierbare Qualität haben. Sie muss unabhängig und frei von Gesinnung sein. Dafür ist die Tragweite solcher Entscheidungen zu weitreichend. Ich hoffe meine Erlebnisse können das deutlich machen.

    Wieder fiel mir nach einer geplanten Trinkphase während eines längeren Auslandsaufenthalts meiner Familie ein alkoholfreies Leben leicht. Alkohol war doch immer die zweite Wahl gewesen. Und es gab so viele Alternativen. Nur wenn nichts anderes ging, dann war das nur noch eine letzte Option, um zu peppen was andere Kicks eigentlich besser konnten. Alkohol bot mir doch nur Feierabendlaune und Bettschwere als vorübergehenden Strohwitwer. Alle meine Hobbys waren prickelnder. Aber nach Feierabend, wenn ich mich im Job durchgesetzt hatte, war es doch ein netter Ausklang zu verdientem Schlummer.

    Das auslösendes Ereignis zu diesem Verfahren war ein Sportunfall, der mir beide Beine brach. Nach der Rehabilitation hatte ich sowieso vor, mein altes Leben wieder zu führen. Alkohol füllte nur ein Zeitfenster. Alkohol zerstreute vorübergehend die Sehnsucht nach mehr. Alkohol blieb ein Mittel zum Zweck. Das alkoholische Craving war keine Gefahr für Prägungen, die tiefer gingen.

    Das war nach meinen Überlegungen überhaupt die zentrale Bedingung, um eine Trinkphase zuzulassen. Bei meinen Lebensprinzipien hatte sich doch nichts geändert. Weiterhin galt: Ich wollte meine Familie. Ich liebte meine Arbeit und meine Hobbys viel zu sehr und wollte sie pur genießen. Nur dann erlebe ich Details und Zwischentöne. In der Tiefe solcher Erlebnisse liegt die Ursache für Nachhaltigkeit und angenehme Erinnerungen. In solchen Situationen tötet Alkohol jedes Feingefühl. Das wusste ich doch so glasklar. Dieser Eindruck hatte sich durch die alkoholfreie Zeit nach meiner ersten Trinkphase noch verstärkt. Alkohol blieb das Substitut für die besseren Alternativen. Die Verachtung gegenüber Alkohol war sogar gewachsen. Konnte es überhaupt eine Droge geben, die mehr drauf hat als die Leidenschaft aktiver Kicks? Aus meiner Alkoholerfahrung heraus, gibt es auf diese Frage ein klares Nein! Wie bescheiden muss man werden oder gar verblöden, um dauerhaft mit Alkohol glücklich zu sein? Alkohol schafft nichts. Weiterkommen im Leben kann ich mit Alkohol nicht. Meine Gier nach Erfolg, da wo er meine Seele berührt, ist die stärkere Antriebsfeder. Erlebenstiefe bleibt den aktiven Kicks mit Mehrfachnutzen vorbehalten. Nur so läuft ein Leben, das mich beeindruckt und sich nicht in einer Endlosschleife beliebiger Räusche verflüchtigt, sondern auswächst zu einer lebensspendenden Kraft die immer wieder berührt.

    Mehrere Gründe mussten zusammen kommen, um mich vom Trinken zu überzeugen. Erst ein Sportunfall, der mich für Wochen arbeitsunfähig machte, war ein ausreichender Grund eine vorübergehende neue Trinkphase einzuleiten. Auch in dieser Periode kam mir Alkohol nur in den Sinn, wenn der Tag gelaufen war. Wenn nichts mehr ging oder das Bett schon rief, dann konnte Alkohol ein akzeptabler Tagesabschluss sein. Aber diese Erfahrung war nicht von Dauer. Dem Alkohol fehlten einfach ein paar Eigenschaften, um sich gegen tiefergreifende Leidenschaften durchsetzen zu können. So endete auch diese Trinkphase fast genau so, wie ich es von Anfang an vorhergesehen hatte.

    Bei meinem Ausstieg half es die Techniken und Lebensprinzipien anzuwenden, die ich bereits entwickelt hatte. Sie begleiten mich größtenteils bereits seit meiner Kindheit. Wie ich das tat und wie ich meine Werkzeuge weiter präzisierte, beschreibe ich im Detail.

    Seitdem haben sich weitere Gelegenheiten zum Trinken nicht ergeben. Ich bin in der Zwischenzeit auch anspruchsvoller geworden und erwarte mehr von Freizeitgestaltung als Alkohol und TV bieten können. Der Verlauf der zweiten Trinkphase war etwa nach der Hälfte der Zeit nur noch mäßig interessant. Alkohol war ausgereizt. Das war auch so meine Annahme vorher schon gewesen. Das hatte ich schon zuvor in den Protokollen zu der ersten Trinkphase so festgehalten. Dort stand bereits, dass ich mir sicher war, das mir Alkohol ein Auslaufmodell sein würde und die Fortsetzung des Trinkens unbefriedigend. Deswegen sehe ich auch keine Chancen für eine dritte Trinkphase. Ich würde ganz bestimmt auch nicht die Zustimmung meiner Familie bekommen. Und ich mache nichts ohne Frau und Kinder. Deswegen war diese Trinkphase schon von Anfang an terminiert auf die Rückkehr meiner Familie. Wie alles im Alltagsleben und im Beruf eines Kontrollfreaks, war das schriftlich geplant inklusive Dosisreduktionen. Ich wollte nichts dem Zufall überlassen. Der Übergang zur Rückkehr meiner Familie musste unbedingt reibungslos verlaufen.

    Ich habe mich auch gefragt, warum es mir so leicht fiel, vom Alkohol zu lassen. Die Gründe sind vielfältig und haben einen Schwerpunkt in meiner Pubertät und Adoleszenz. Für die Gutachter waren Verhaltensprägungen neben dem Craving durch Alkohol überhaupt nicht untersuchungswürdig. Sie kannten eine Art Standardalkoholiker und dieses Modell wurde universell eingesetzt. Differenzierende Zwischentöne waren unerwünscht. Beeindrucken konnte mich ihre kategorische Ablehnung bald nicht mehr, dafür hatten sie die Wahrheit zu sehr verdreht. Die Antworten die ich fand für meine Art mit Alkohol souverän umzugehen, breite ich im Buch weit aus.

    Ich will mich rechtfertigen gegen alkoholische Eindimensionalität auf beiden Seiten. Es geht bei den gutachterlichen Feststellungen ja nicht nur um Überzeugungen, sondern um amtliche Feststellungen mit dem Status von Beweiskraft. Solche Urteile sind rechtsverbindlich. Ich befürchte, dass Fundament für einen solchen Anspruch muss erst noch gebaut werden.

    Darüber hinaus glaube ich nicht, dass mein Umgang mit Alkohol außergewöhnlich ist. Andere können das auch. Wieder andere können das lernen. Ich hatte doch erst mit mitte vierzig mit dem Trinken angefangen, als ich auf eine sehr verbreitete Trinkkultur stieß. Ich kopierte doch nur das Verhalten von Arbeitskollegen, die das immer schon so machten. Diese Kollegen, die ihre Feierabende ganz unauffällig mit Alkohol vor dem Fernseher zelebrierten, gab es doch in tausenden anderen Firmen im ganzen Land. Mein Wissen über das schöne Leben mit Alkohol teile ich gern. Nachteile und Einschränkungen gab es keine. Das war ein rundum gelungener Lebensabschnitt, garantiert autofrei bei mir und den Kollegen. Auf Dauer interessanter blieben aber aktive Kicks.

    Das Buch ist der zweite Teil meiner Lebensweisheiten. Den dritten Teil habe ich bereits begonnen. Er handelt über mein alkoholfreies Leben in Asien und soll den Weg aus dem Kuckucksnest erzählen. Erscheinen wird er nach meiner Rückkehr nach Deutschland.

    Zum Schluss will ich noch anmerken, dass der Name des Autors natürlich ein Pseudonym ist. Alkoholismus ist eine Schande, damit gibt man nicht an. Außerdem will ich kein Gerede hinter meinem Rücken und schon gar nicht, wenn es berufsschädigend wird, weil sich Kollegen und Geschäftskunden daran beteiligen. Ich will nicht den Vorurteilen ausgesetzt sein, gegen die ich in diesem Buch angehe. Im Gegensatz zum Alkohol ist meine berufliche Karriere ein Angelpunkt, den ich pflegen will und mehren, weil er mein Leben schön macht so wie Frau und Kinder und vieles mehr, das nur ungetrübt von Drogen den Geist bis hin zum Anschlag kickt.

    Das neue Leben mit Führerschein

    So hatte ich endlich meinen Führerschein wieder. Das hatte lange genug gedauert und mich beinahe in eine wirtschaftliche Katastrophe gestürzt. Ich lebte wieder mein altes Leben. Alles war wieder so, wie es auch über Jahrzehnte war, nur eben nicht während der achte Monate, in denen ich täglich getrunken hatte. Die sogenannten eingeübten Verhaltensmuster bestimmten wieder mein Leben genauso wie sie es vor der Trinkphase immer getan hatten. Den Gutachtern war das Einüben von Verhaltensmustern gegen das Trinken sehr wichtig. Ich habe keine Zweifel daran, dass das Entwickeln und Einüben neuer Verhaltensmuster eine große Hilfe gegen Trinkdruck ist. Noch wichtiger finde ich aber, dass man Leidenschaft gewinnt für ein anderes Leben, denn Dinge, die permanent gefühlt werden, haben einen stringenteren Einfluss auf einen Änderungsprozess. Genügend Leidenschaften brachte ich mit. Da waren die beruflichen Herausforderungen in einer Position, die mich wichtig machten. Da war der Sport von Joggen bis Gleitschirmfliegen. Da war meine noch neue Familie und so vieles mehr. Ich war glücklich so, weil ich dieses Leben mochte, wie ich so lebte wie ich eigentlich immer gelebt hatte bis auf die Trinkphase. Von explizit neuen Verhaltensmustern konnte definitiv nicht die Rede sein. Ich lebte, wie ich fast immer gelebt hatte. Ich lebte meine Welt, die kaum Alkohol kannte, mit kleinen Änderungen wieder weiter, so wie es sich seit meiner Kindheit entwickelt hatte.

    Ich fand meine Lebensweise sehr deterministisch, weil in meinem Gehirn mein mich prägender präfrontaler Cortex mit entscheidenden Kindheits- und Jugenderinnerungen wesentlichen Anteil daran hatte. Ich setzte mein Leben fort, wie ich es schon früh in meinem Leben für gut befunden hatte. Dagegen hatte Alkohol nur Punktsiege feiern können. So musste meine Trinkphase ein Anachronismus bleiben. Ich lebte auch abstinent. Nicht das ich mich darum bemühte, aber es gab einfach keine Alternative. Alles was ich machte war interessanter. Wie konnte das auch anders sein, wenn es auch früher bei gleichem Leben keine Rolle für Alkohol gab. Es war doch erst zum Missbrauch gekommen, als es zu einer Störung in meinem Leben kam, die mir eine wesentliche Entfaltungsmöglichkeit raubte. Jetzt konnte ich wieder alle Energie rauslassen. Ich musste die Energie, die in mir kochte, verbrennen, sonst konnte ich nicht schlafen. War das denn nicht normal, wenn man voll von Lebensfreude und Leidenschaft ist Berge zu versetzen? Deswegen kniete ich mich doch so gerne in Arbeit. Wenn ich dann nicht wenigstens noch ein paar Kilometer joggen konnte, fehlte mir die körperliche Ergänzung, denn Sport war mehr als nur Ausgleich. Es war so einfach, glücklich zu sein, vor allem wenn man wusste was man braucht. Ich liebte dieses Gefühl nach dem Sport völlig ausgelaugt verdienten Schlaf zu finden. Fast acht Monate musste ich auf diesen befriedigenden Schlaf verzichten. Jetzt genoss ich es, ihn wieder zu haben.

    War es nicht auch vernünftig jetzt Verzicht zu üben, wo meine Frau nach der Schwangerschaft wieder ganz die Alte war? Alleine waren wir auch nicht mehr. Partner und Kind hatten doch auch Rechte und ich mit ihnen an ihnen. Ich hatte mein Leben wieder und gratis dazu neue Herausforderungen. Da war mein Sohn, der gerade erst auf der Welt war und bereits lautstark seinen Platz einnahm. Gemüsebrei kochen mit Zutaten aus biologisch kontrolliertem Anbau, füttern und Windeln wechseln bestimmten zusätzlich den häuslichen Tagesrhythmus. Da hätte Alkohol mal wieder nur gestört.

    Mein Leben war wieder so alkoholfrei wie immer. Mit etwa einem Dutzend Flaschen Bier im Jahr fand ich das jedenfalls sehr alkoholfrei. Wenn ich auf neue Herausforderungen traf, dann habe ich gerade in der ersten Zeit nach der letzten MPU, mich innerlich immer wieder gefragt: ‚Und das soll ich für Alkohol eintauschen?‘, ‚Nie im Leben‘, war dann die Antwort meiner inneren Stimme. Dem Prinzip Aktivität statt Passivität, Sport statt Alkohol blieb ich treu. Es war leicht diesem Prinzip zu folgen. Meine Erfahrungen sprachen für sich, die im Gegensatz zu gutachterlichen Erfahrungen, vor allen Dingen vollständig waren für eine qualifizierte Annahme. Den Mut zur Diagnose einer lückenhaften Anamnese habe ich nicht.

    Auf einer Betriebsfeier wählte ich extra einmal gegen meine Gewohnheit den Sekt statt Orangensaft. Übrigens hatte ich während der Trinkphase peinlichst darauf geachtet gehabt bei Empfängen nie Sekt zu trinken, um Beruf und Feierabend klar zu trennen. Job war Job und Schnaps war Schnaps, wie bei den Kollegen. Bei der Betriebsfeier dachte ich: ‚Und das soll mich jetzt in den Alkoholismus treiben?‘ Es war leicht, danach wieder zum Saft zu wechseln. Ein Alkoholkonsum ohne berauschende Wirkung konnte mich doch nicht animieren weiterzutrinken. Nach diesem Beweis dachte ich nicht mehr weiter über meine Risiken nach und verweigerte zugünftig wieder jedes Glas Sekt, einfach nur aus dem simplen Grund, weil Saft weniger sauer schmeckt.

    Die Rückkehr in den Job aus Elternzeit wurde zur Punktlandung. Das musste auch so klappen. Ich hatte unterschrieben, dass ich meiner Kündigung zustimme, wenn ich es nicht in der vereinbarten Zeit schaffe. Die Angst vor einschneidenden wirtschaftlichen Konsequenzen war groß. Als Kind litt ich schon sehr, als meine Mutter vorübergehend arbeitslos war. Dabei wusste ich schon damals, dass die Folgen nicht sehr dramatisch sein konnten für unsere Familie, weil mein Vater ja als Polizist ein Landesbeamter war.

    Ich fand mich toll, mein Ziel hingekriegt zu haben, denn mir war klar, ohne meine sportlichen Stärken wie Zielstrebigkeit, Leidensfähigkeit, Sturheit etc. hätte ich das vielleicht nicht erreichen können.

    Es tat gut, sich wieder in richtiger Arbeit auszutoben, deren Ergebnisse sich für die Firma und für mich in barer Münze auszahlten. Ich hatte Umsatzverantwortung. Mein Erfolg war individuell in Euro messbar. Von Anfang an stürzte ich mich auf jede Aufgabe, die ich an mich reißen konnte. Ich wollte schnell wieder mit meinen Umsätzen in den Rankings nach oben, wollte vergessen machen, dass es da eine Auszeit gegeben hatte. Schluss war nun mit Gammelei. Den Gedanken, dass man ohne mich ausgekommen war, verdrängte ich schnell. Ich wollte überall präsent sein und am liebsten unersetzlich. Das war ich doch auch dem Chef schuldig. Er hatte gegenüber der Personalabteilung meine Interessen vertreten. Sein persönlicher Einfluss war ausschlaggebend gewesen. Auf meine Loyalität durfte er jetzt noch mehr bauen.

    Etwa ein Jahr blieb mir Zeit für Wiedergutmachung, dann würde der Betriebsübergang meines Betriebsbereichs uns trennen. Dann sollte unsere Abteilung verkauft werden. Im Rahmen einer strategischen Neuausrichtung wurden wir gerade in eine GmbH umgewandelt. Als externe Konzerntochter sollten wir dann als Ganzes verkauft werden. Mit dem Verkaufserlös wollte die Mutter einen anderen Zukauf finanzieren. Der Erwerber unserer Abteilung stand schon fest. Er wollte mit uns seine Marktposition in einem wichtigen Segment ausbauen. Wir passten gut in sein Portfolio, und sie hatten einiges in der Pipeline. Für eine Markteinführung wollten sie sich mit uns verstärken. Markttechnisch gesehen würden wir von den neuen Besitzverhältnissen profitieren. Rational klang das nach einem vernünftigen Deal mit einer klassischen Win-Win Situation. Emotional blieb Skepsis.

    Den anstehenden Betriebsübergang spürte ich persönlich daran, dass ich über Monate immer weniger zu tun hatte. Die alte Mutter stellte immer bescheidenere Ziele. Die meisten Projekte ließ man auslaufen. Die gesamte Belegschaft ging in Warteposition. Bloß nichts tun, was nicht honoriert wird, war die allgemeine Devise. Irgendwann hatte ich nur noch ein Projekt am laufen. Das war mir aber sehr wichtig, weil es einen großen Kongress in den USA betraf. Ansonsten hatte ich zunehmend das Gefühl, ich habe mein Gehalt nicht wirklich verdient. Ich arbeitete doch so wenig. Also begnügte ich mich damit, in Startposition zu gehen für den Neuanfang und testete nebenbei meinen Marktwert durch Bewerbungen querbeet durch die Branche. Sollte der Neustart mit dem neuen Eigentümer nicht in meinem Sinne verlaufen, läge dann ein vollzugsfähiger Plan-B vor.

    ---

    Ein besonderer Höhepunkt wurde die zweite Schwangerschaft meiner Frau. Natürlich verlief alles anders als beim ersten Mal. Es war doch alles besprochen. Meiner Frau war klargeworden, dass sie nicht an meiner Liebe zweifeln musste, wenn ich Sport trieb. Sport war eben zu erst in meinem Leben gewesen und immer ging es mir mit Sport besser. Das kann man auch nicht so leicht verstehen, wenn man diese Prägung nicht selbst erfahren hat. Was man aber nicht verstehen kann, kann man trotzdem respektieren. So begann die zweite Schwangerschaft viel entspannter als die erste.

    In der siebenundzwanzigsten Schwangerschaftswoche kam es zu einem einschneidenden Ereignis. Meine Tochter drängte es mit aller Macht in die Welt. Meine Frau und ich entschieden uns, als die Wehen unerwartet massiv einsetzten, nicht zum nächsten Krankenhaus zu fahren. Es gab eine Spezialeinrichtung mit eigenem RTW für Frühchen, die nicht viel weiter entfernt lag. So konnten wir sicherstellen, das alle Fachleute bereits vor Ort waren bis hin zum Kinderkardiologen für eine sehr frühe Frühgeburt. Meine Frau kam vom Auto direkt in den Kreissaal. Fünfzehn Minuten später war meine Tochter da. Sie atmete von Anfang an weitgehend selbstständig. Das war unter den Umständen ein guter Anfang. Die ersten zwei Monate verbrachte sie auf der angeschlossenen Intensivstation.

    Das war eine harte Prüfung. So sehr sich die Ärzte und Schwestern bemühten, eine entspannte Atmosphäre von Sicherheit zu schaffen, wich die Anspannung nie ganz. Einmal vermisste ich auch ein anderes Elternpaar mit ähnlichem Schicksal, das ich jeden Tag getroffen hatte. Kamen sie nicht mehr, weil ihr Kind es nicht geschafft hatte? Das machte mir wieder bewusst, dass nicht immer die Anstrengungen der Fachkräfte und der Einsatz toller Technik mit Erfolg belohnt werden. So war es schon eine Erleichterung, als meine Tochter nach endlosen Wochen mit Maximalversorgung, innerhalb der Station verlegt wurde. Nach und nach arbeitete sie sich weiter hoch und wurde in Zimmer verlegt mit abnehmender technischer Versorgung. Das machte Hoffnung, als ihre Organe allmählich selbst tun konnten, wobei sie zuvor Maschinen unterstützt hatten.

    In dieser Zeit trank ich nicht. Es wäre so sinnlos gewesen und hätte ein neues Motiv gebraucht. Trinken wegen eines Problems, das war mir zu billig. Probleme schafft man aus der Welt. Ich bin doch ein . Damit widersprach ich wieder Mal Gutachtern. trinken um Problemen wegzulaufen ist ein Trinkmotiv. Wieder Mal denke ich, wie wichtig ein vollständiges Bild für eine Prognose ist, das in jeder MPU gefehlt hat. Ich wusste, ich mag intensives Erleben nicht nur in guten Zeiten. Prüfungen in harten Zeiten empfinde ich als natürlich. Es ist nicht meine Art wegzulaufen, wenn es schwierig wird. Auch hier gilt mir . Es gibt Herausforderungen des Lebens, die immer aus heiterem Himmel über uns hereinbrechen können. Da darf man dann nicht erschrocken sein. Da frage ich nicht: ‚Warum trifft es gerade mich‘. Die Herausforderungen nehme ich an, weil dass das Leben ist. Sicher hilft es, wenn man sich solche Gedanken schon im Vorfeld gemacht hat. Wer Risiken verdrängt ist in jeder Situation schlecht vorbereitet.

    John Lennon hat mal dazu mit einem Achselzucken gesagt: „Life is, what happens to you, while you are busy making other plans." Einige Zeit später wurde er ermordet. Das Leben ist anzunehmen, weil wir keine Voraussagen machen können. Deswegen wurde Lennons Aussage bereits mein Leitspruch, als ich Student war und für die DLRG im Sommer Wachdienst in einem Nordseebad schob und statt mit Wasserrettung mit Reinfarkten von Herzpatienten in Kur konfrontiert wurde.

    Die Situation mit meiner Tochter war eben so wie sie war. So war sie anzunehmen in aller Offenheit und Intensität. Das durfte die Kleine so von mir verlangen. Das entsprach auch meinen Lebensgrundsätzen, die ich manchmal umständlich philosophisch ableite. Ich freute mich obendrein auch deshalb, weil meine theoretischen Grundsatzüberlegungen den Praxistest bestanden. Das war doch auch Ansporn. Dazu hatte ich hier und jetzt mit meiner Tochter die Gelegenheit. In diesem Zusammenhang überhaupt an Alkohol zu denken, verbot sich selbstredend. Trotzdem tue ich es hier. Gutachter hatten in Bezug auf mich von einem Entlastungstrinker gesprochen. Andere mochten nicht an die Praxistauglichkeit meiner philosophischen Lebensmaximen glauben oder an die Prägung von Eigenschaften durch Sport. Oft genug verstand man es nicht meine philosophischen Lebensprinzipien und meine manchmal extremen sportlichen Herausforderungen zu interpretieren. Man wollte nicht sehen, dass solche Erfahrungen mir auch über den Alltag hinaus, als Vorbereitung auf besondere und manchmal extreme Lebenssituationen dienten. Ich wollte allen Schicksalsschlägen gewachsen sein, selbst wenn sie aus dem Nichts über mich hereinbrachen. Aber die Gutachter sahen mich eher als Adrenalinjunkie, der kein Risiko verantwortlich einschätzen kann. das passte besser in ihr vorbereitetes Bild. Dabei gibt es schon seit langem professionelle Seminare für Manager, wo sie in halbwegs extremen Situationen lernen können, mit klarem Kopf Risikomanagement zu betreiben. An solchen Trainings musste ich für meinen Arbeitgeber teilnehmen. Deren Wirkung und Folgerungen habe ich verinnerlicht.

    Unter solchen Umständen sich zu betrinken, verhindert mein philosophisches Wissen anzuwenden. Mir würden Detaildichte und Erlebenstiefe entgehen. Ich bin gerne ein Gewinner. Deswegen brauche ich Herausforderungen. Sie sind mir mentalistisch befriedigend, erst recht dann, wenn es kritisch wird.

    Alkohol trübt diese Erfahrungen. Alkohol macht schläfrig, wo mein leidenschaftliches Tun zum geistigen Fließen führen könnte. Alkohol war bei mir immer ein Spaßfaktor. Für die Bewältigung ernster Momente ist Alkohol völlig ungeeignet. Bei Schicksalsschlägen kann Alkohol nur trösten, wo eigentlich Aktion gefordert ist. Wenn ich in einer das Schicksal beeinflussenden Situation durch den Einsatz von Alkohol untätig geblieben wäre, hätte ich Angst vor dem Versagensgefühl nach dem Kater. Ich würde wahrscheinlich vor Scham im Boden versinken. In einer einmaligen Situation versagt zu haben, ist eine nicht wieder gut zumachende Schuld. Damit könnte ich nicht leben.

    Selbst der immer mögliche Tod meiner Tochter konnte kein Grund sein zu trinken, weil schon meine unendlichen Anstrengungen mir Trost sind und Betrunkenheit das Band meiner Verbundenheit mit meiner Tochter auslöschen würde. Diese Verbundenheit ist eine logische und geistige Verbundenheit, die unter Alkoholeinfluss nicht möglich ist. Die geistige Verbindung ginge selbstverständlich über ihren Tod hinaus. Erst mein eigenes Ende könnte diese Verbundenheit auf Erden löschen, wenn wir im Tode wieder vereint wären.

    Meine Tochter entwickelte sich aber gut. Ich war beeindruckt wie reibungslos das lief. Hut ab, dachte ich immer wieder, vor den Ärzten und Pflegern und der Technik. Nach etwa dreizehn Monaten erklärte ein Kinderarzt meine Tochter für praktisch geheilt. Es gab nur noch ein sehr kleines Loch im Herzen, das ganz normal zuwachsen würde und keine Einschränkungen bereitete. So wurde die kleine flugtauglich geschrieben für ihre erste große Reise.

    ---

    Meine Frau hatte von einer alten Freundin erfahren, dass sie einen neuen Job mit Lehrauftrag hatte. Die Sensation war, dass sich die Universität in der Heimatstadt meiner Frau befand. Der Kontakt wurde vertieft. So ergab sich bald die folgende Entscheidung. Meine Frau zog mit den Kindern für ein Jahr zu ihrer Mutter. Die ehemalige Kommilitonin besorgte ihr in der Zwischenzeit eine Teilzeitstelle in ihrem Fachbereich. So fand meine Frau wieder den Einstieg ins Berufsleben und die Oma kümmerte sich derweil um den Nachwuchs. Wir waren mit dieser Option sehr zufrieden. Sie war nützlich und machte meine Schwiegermutter glücklich.

    Längere Trennungszeiten kannten wir schon. Insgesamt dreimal waren vorübergehende räumliche Trennungen notwendig, damit unsere Karrieren nicht litten. Während meiner Promotion sahen wir uns zwei Jahre lang nur ein- bis zweimal monatlich. Das war einfach so notwendig. Der Unterschied diesmal, lag in der großen Entfernung zwischen Europa und Fernost. Heimfahrten zwischendurch planten wir nicht. Das Geld wollten wir uns sparen. Ein Jahr konnte so schnell vorbeigehen. Das sah man doch an unserer Tochter. Die bange Zeit um das kleine Leben auf der Intensivstation war fast vergessen. Wir sahen nur Grund zur Freude. Für meine Frau war es eine Chance. Ich war mächtig stolz, dass meine Frau ihre Karriere fortsetzen konnte. Es hatte sich gelohnt einen alten Kontakt zu pflegen. Vor allem die Kombination mit Kinderbetreuung machte es unmöglich, dieses Angebot abzulehnen. Ich glaubte sogar, dass dieses Jahr so ähnlich werden könnte wie damals, als ich in einer zwölf Quadratmeter großen Studentenbude meine Freiheit genoss und meine Frau in einer anderen Stadt bereits einen Job antrat.

    Zu Hause wurde es ohne meine Familie sehr ruhig, eigentlich sogar totenstill. Aber so war das auch früher gewesen. Zu erst nutzte ich meine Freiheit und arbeitete fortan länger wenn es sich ergab. Schließlich hatte ich Spaß an meiner Arbeit und brauchte kein schlechtes Gewissen haben, zu spät zum Abendbrot zu kommen. Ich konnte mich ganz meinem Ehrgeiz hingeben. Wenn ich Feierabend machte, joggte ich nicht mehr. Stattdessen fuhr ich zum Schwimmtraining der Triathleten. Da konnte ich bis 22:30 Uhr trainieren. Zu Hause las ich dann noch eine halbe Stunde. Die Idee zur Nacht Alkohol zu trinken, kam mir nicht. Ich liebe viel zu sehr diese befriedigende, sportliche Mattheit nach einem Training. Die ließ mich schon als Kind wohlig einschlafen. An den Wochenenden war ich grundsätzlich auf dem Gelände meines Flugclubs. Da gab es auch bei schlechtem Wetter noch genug zu tun mit Wartungsarbeiten an Schleppwinden oder dem Packen der Rettungsschirme. Ich fühlte mich wirklich so frei wie einst als Student und genauso genügsam war ich auch. Ich hatte ein kräftezehrendes Tagesprogramm. Das war Auslastung genug. Mehr brauchte es nicht um glücklich zu sein.

    Nebenbei bewarb ich mich um einen neuen Job. Ich war mir noch nicht sicher, ob ich nach dem Betriebsübergang meine Position dauerhaft halten könnte. Ich sah die Gelegenheit gekommen, meinen Marktwert zu testen und neue Herausforderungen zu prüfen. Wechselfieber stieg in mir auf. Wohnt einem neuen Anfang nicht ein Zauber inne? Das hatte Hermann Hesse mal so gesagt. Dem wollte ich gerne zustimmen. Mir kam sogar die Idee, mich doch mal nach einem Job in China umzuschauen. Meine Branche war auch dort aktiv. Erste Kontakte waren schnell geknüpft. Der Rest war eine Frage von Beharrlichkeit und Ausdauer. Ich hatte Zeit, fast ein ganzes Jahr. Aus dieser Idee entwickelte ich einen kleinen Bewerbungstourismus. Meist ließen sich die Vorstellungsgespräche auf einen Freitag legen. Das war mit beruflichen Terminen leicht zu begründen, schließlich bewarb ich mich aus einer ungekündigten Position heraus. So konnte ich einige Bewerbungstermine für ein Wochenende in Berlin, Hamburg und München privat nutzen. Die Reisekosten übernahm die Firma, die mich sehen wollte, und ich trug die Hotelkosten.

    In Berlin entdeckte ich so die stalinistische Atmosphäre des sowjetischen Ehrenmahls im Treptower Park. Während ich über die Anlage schritt, lief in mir ein Film ab, den ich so mit Begleitung nicht erleben könnte. Abends hatte ich die seltene Gelegenheit in einem Konzert Gamelanmusik aus Sumatra zu hören. In Hamburg besuchte ich zum ersten Mal seit etwa zehn Jahren eine Theateraufführung. Nach der Aufführung in der Kulturfabrik auf Kampnagel genoss ich das Alleinsein so richtig. Ich konnte einfach ins Hotel zurückkehren. Ich musste nicht mit anderen noch in eine Künstlerkneipe gehen, um pseudointellektuelle Phrasen zu dreschen über die deutsche Theaterkunst und den Zeitgeist.

    In München zog es mich in die Alte Pinakothek. Dort wollte ich Albrecht Altdorfers

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