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Bonfire Heart: Mein Traum ist nicht genug
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eBook351 Seiten4 Stunden

Bonfire Heart: Mein Traum ist nicht genug

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Über dieses E-Book

Die Autorin dieses Buches kam mit einem angeborenen Herzfehler zur Welt. Mangels geeigneter Operationsverfahren gaben ihr die Kinderkardiologen nur wenige Monate Zeit. Doch der Überlebenswille der jungen Österreicherin ist immens. Zahllose Klinikaufenthalte und 17 Jahre später scheint so etwas wie Normalität in den Alltag des Teenagers eingekehrt zu sein, da bringt ein unerwarteter Zwischenfall sie dem Tode näher als jemals zuvor. Als sie nach Wochen aus einem künstlichen Tiefschlaf erwacht, kann sie weder sprechen noch sich bewegen – ihr Körper funktioniert nur noch mithilfe von Maschinen. In ihrer bislang ausweglosesten Situation entscheidet sich die junge Frau, erneut um ihr Leben zu kämpfen und erobert sich ihre Unabhängigkeit und Selbstbestimmung Stück für Stück zurück.
Ein beeindruckend authentischer Erfahrungsbericht, der tiefes Verständnis weckt für das Erleben von Menschen mit einer Erkrankung, die für die Umwelt nicht offensichtlich ist.
SpracheDeutsch
HerausgeberLaudatio Verlag
Erscheinungsdatum4. Juli 2016
ISBN9783941275782
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    Buchvorschau

    Bonfire Heart - Eva-Maria Sammer-Smetana

    Inhaltsverzeichnis

    Zuvor ein Blick zurück

    Die Zeit heilt nicht alle Wunden

    Warte nicht auf morgen, lebe!

    Wenn die Zeit dich verändert

    In der Hitze des Gefechts

    Verdrängen heißt nicht vergessen

    Mit offenen Karten

    Wie alles begann

    Was, wenn es kein Morgen mehr gibt?

    Man lebt nur zweimal

    Vanessa

    Im Karussell der Fantasie

    Be happy, be healthy

    Eine Frage der Motivation

    Kein Fortschritt ohne Rückschritte

    Achterbahn der Gefühle

    Neues altes Leben

    Alles auf Anfang

    Geteiltes Leid ist doppeltes Leid

    Alles wird gut

    Drei Tage Regen

    Carpe diem!

    Der schönste Tag in meinem Leben

    Eva-Maria Sammer-Smetana

    Bonfire Heart

    Mein Traum ist nicht genug

    Alle Rechte vorbehalten

    © 2014 Laudatio Verlag, Frankfurt am Main

    Lektorat: Andreas Grunau, Franziska Jentsch

    Umschlagzeichnungen: Stefanie Hödlmoser

    Foto Umschlagrückseite: Andre Kratzer

    ISBN 9783941275782

    www.laudatio-verlag.de

    Besuchen Sie auch die Facebookseite zum Buch:

    https://www.facebook.com/Bonfire.Heart.Mein.Traum

    Kontakt zur Autorin:

    bonfire.heart@chello.at

    Für Tom

    Zuvor ein Blick zurück

    Erst kürzlich las ich in einem Artikel von einer deutschen Studie über Menschen mit Herzfehlern. Sie besagt, dass statistisch gesehen mittlerweile fast jedes hundertste Baby mit einer angeborenen Herzerkrankung zur Welt kommt. Dabei handelt es sich oft um sogenannte Mischformen. Jede dieser Formen unterscheidet sich in ihrer Ausprägung und in ihrem Verlauf von den anderen. Dies bedeutet auch, dass es keine einheitliche Operationstechnik oder Behandlung gibt. Eines haben wir jedoch alle gemeinsam: Die Krankheit begleitet uns meist ein ganzes Leben lang.

    In meiner Kindheit gab es noch nicht wirklich viele Herzpatienten, die das Erwachsenenalter erreichten. Ich selbst hatte ursprünglich eine Lebenserwartung von weniger als zwei Jahren. Inzwischen bin ich fast dreißig und führe ein weitestgehend uneingeschränktes Leben. In der Vergangenheit hätte ich mir oft eine positive Prognose für meine Zukunft gewünscht. Doch leider endeten die meisten Kontrolluntersuchungen mit wenig Hoffnung auf eine Besserung meines Gesundheitszustandes. Aufgrund meiner problematischen Ausgangssituation waren mehrfache Eingriffe nötig. Ich gehöre allerdings nicht zu den Patienten, bei denen Operationen komplikationslos und einfach verliefen. Eigentlich könnte man sogar sagen, dass ich geradezu ein Paradebeispiel für einen schwierigen Verlauf darstelle. Im Rückblick auf die letzten Jahre kann ich es selbst kaum glauben. Wer hätte das vor mehr als einem Jahrzehnt erwartet?

    Niemand glaubte damals auch nur eine Sekunde daran, dass ich die kommenden Wochen oder Monate überleben würde.

    Wenn ich heute an meine Kindheit zurückdenke, erscheint mir manches irgendwie sehr unwirklich, obwohl ich ganz genau weiß, was passiert ist. Als ich elf Jahre alt war, gab es Ärzte, die meinen Eltern sogar dazu rieten, mich wieder mit nach Hause zu nehmen und sterben zu lassen. Sie meinten, die kommenden zwölf Monate würde ich keinesfalls überleben. Ich kann mich noch gut an diese Situation erinnern. Als ich nach einem Herzkatheter aus der Narkose erwachte, saß neben meinen Eltern auch einer der behandelnden Ärzte. Sie unterhielten sich über das Ergebnis der Untersuchung und darüber, dass manche Mediziner von der geplanten Operation mittlerweile eher abraten würden. Von einer Verbesserung meiner Lebensqualität war nun gar nicht mehr die Rede. Im Gegenteil. Der behandelnde Arzt prognostizierte mir sogar eine mehr als nur begrenzte Lebenserwartung. Von nicht einmal mehr einem Jahr, das mir noch bleiben würde, sprach er plötzlich. Mein Herz würde immer schwächer werden und irgendwann ganz aufhören zu schlagen. In mehreren Gesprächen hatten mir meine Eltern zuvor versichert, dass dieser Eingriff mein Leben wesentlich verbessern würde. Selbstverständlich glaubte ich ihnen. Nicht wissend, dass diese Aussage des Kinderkardiologen auch ihnen neu war und sie seine Worte genauso schockierten wie mich, wurde ich natürlich unglaublich wütend auf die beiden. Das Gefühl, übergangen zu werden, ist eines der schlimmsten, die ich kenne. Gerade wenn es dabei um das eigene Leben geht. Heute sehe ich einige Dinge anders als früher. Meine Eltern mussten sich zum einen voll und ganz auf die Kompetenz der Mediziner verlassen, zum anderen waren letztendlich sie diejenigen, welche eine Entscheidung treffen mussten. Im Alter von zwölf Jahren fand die geplante Operation doch noch statt und ich kann aus heutiger Sicht sagen, dass dies der richtige Entschluss war.

    Meiner Familie bin ich immer noch unglaublich dankbar dafür, dass sie mich bei der Wahl der gesundheitlichen Maßnahmen so gut es ging mit einbezogen hat. Inzwischen bin ich, was das Treffen von Entscheidungen angeht, auf mich alleine gestellt. Erst mit Ende zwanzig weiß ich, wie schwer es ist, das „Richtige zu tun. Woher soll man denn auch wissen, was das „Richtige ist? Oft wird einem erst im Nachhinein bewusst, wie falsch eine Handlung eigentlich war. Doch dann kann man sie meist nicht wieder ungeschehen machen. Der Entschluss, etwas zu tun oder doch besser zu lassen, kann einem von niemandem abgenommen werden. Mit den Konsequenzen, die unser Handeln nach sich zieht, muss jeder von uns leben. Ich kann mir heute kaum vorstellen, wie schlimm diese Situation für meine Eltern gewesen sein mag. Würde es mir nun wesentlich schlechter gehen, als es Gott sei Dank der Fall ist, oder hätte ich die Operationen erst gar nicht überlebt, müssten meine Mutter und mein Vater mit den Folgen ihrer Entscheidung genauso zurechtkommen. Glücklicherweise kann ich sagen, dass mein Leben, auch wenn es sehr lange nicht danach aussah, einen wirklich positiven Verlauf genommen hat. Trotz wenig hoffnungsvoller Diagnosen und vieler Anzeichen für ein vermeintlich kurzes Leben.

    Ich würde mir heute mehr denn je wünschen, dass sich Ärzte ihrer überaus großen Verantwortung öfter bewusst wären. Eine persönliche Meinung in ein ärztliches Gespräch mit einfließen zu lassen, finde ich mehr als unpassend. In meinem ganzen Leben habe ich einen einzigen Arzt gefragt, was er an meiner Stelle tun würde. Bei diesem Gespräch ging es darum, die Komplettierung (den noch ausstehenden Teil der letzten Operation) durchzuführen oder alles beim jetzigen Stand der Dinge zu belassen. Dieser Professor hat mich fast sechzehn Jahre lang begleitet und mir immer wieder gezeigt, dass ich mich auf ihn wirklich verlassen kann. Mein Vertrauen hat sich, nach meinem Befinden, ein einziger Arzt verdient. Nur einer von Hunderten Medizinern, welche mich in meinem gesamten Leben schon untersucht haben.

    Rückblickend betrachtet hatten die Ärzte damals glücklicherweise unrecht. Ich habe die Operation, welche zweifelsohne mehr als riskant war, überlebt. Genauso wie die acht darauffolgenden Eingriffe. Das war vor mehr als fünfzehn Jahren. Manche dieser Herren Doktoren, die mich im Laufe der Jahre untersuchten und behandelten, möchte ich gerne wieder einmal treffen. Heute würde ich ihnen sagen, dass, abgesehen davon, dass sie mit ihren Prognosen gänzlich falsch lagen, mir nichts Besseres in meinem Leben passieren konnte, als die Aussicht auf eine sehr begrenzte Lebenszeit.

    Wenn man gar nicht erst damit rechnet, alt zu werden, kann man jeden Tag, der einem bleibt, wesentlich bewusster nutzen. Dies klingt jetzt sehr theatralisch, aber was ich damit sagen will ist, wie achtlos wir oft Tage oder Wochen verschwenden, in dem Glauben, wir hätten noch ewig Zeit. Irgendwann wird uns dennoch bewusst, dass dies reiner Irrglaube war. Und dann? Wir beginnen uns zu fragen, was wir mit unserer noch verbleibenden Zeit anfangen wollen. Oder wie wir diese wenigen Wochen oder Monate noch voll auskosten könnten. Doch weshalb muss uns diese Tatsache erst deutlich gemacht werden, ehe wir beginnen zu leben? Warum leben wir nicht einfach jetzt? Denn dazu und zu nichts anderem ist das Leben doch da. Dessen muss auch ich mir immer wieder aufs Neue bewusst werden.

    Auch wenn wir die negativen Erfahrungen in unserem Leben niemals vergessen werden, so wird es uns irgendwann dennoch gelingen, einen Weg zu finden, damit umzugehen und all die schönen Seiten unseres Lebens wieder genießen zu können.

    Gib deinen Träumen die Chance,

    wahr zu werden

    New York, 26. Dezember

    Es ist eine klirrend kalte Dezembernacht. Der eisige Wind weht mir entgegen. Ich ziehe den Reißverschluss meiner Daunenjacke ganz nach oben und schmiege mich fest in meinen warmen, weichen Schal. Der Winter war zwar noch nie meine Jahreszeit, dennoch genieße ich diesen unglaublich schönen Augenblick und bin einfach nur glücklich. Vor mir erstreckt sich der Hudson River in seiner vollen Größe und strahlt in all seinen Facetten. Die glanzvolle Beleuchtung der Stadt, die niemals schläft, spiegelt sich im Wasser. Unzählige Lichter tanzen auf den kleinen, vom Wind aufgepeitschten Wellen. New Yorks Skyline wirkt wie ein riesiges, leuchtendes Billboard.

    Plötzlich kommt mir alles so unwirklich vor. Es erscheint mir fast so, als würde es sich hierbei um einen dieser Tagträume handeln, die ich früher oft hatte und welche ich mir in allen noch so kleinen Details ausmalte. Vor einigen Jahren war es hauptsächlich die Hoffnung auf ein eigenständiges und weitestgehend uneingeschränktes Leben, die mir über Monate hinweg in den schlimmsten Augenblicken Trost spendete. In Zeiten, in denen es mir besonders schlecht ging, half mir meine Fantasie, gerade diese ausweglos erscheinende Situation zu überstehen.

    In solchen Momenten versuchte ich, mir mein Leben nach dem Klinikaufenthalt vorzustellen. Zu dem damaligen Zeitpunkt glaubte allerdings so gut wie niemand daran, mich teilweise sogar mit eingeschlossen, dass ich eines Tages so besondere Ereignisse wie diese noch erleben würde. Oft versuchte ich mich in meiner Fantasie, sogar stundenlang aus meinem Krankenbett heraus, in weit entfernte Länder zu träumen. Mit jeder Faser meines Körpers konnte ich dann die Sonne, das Meer und den warmen Sommerwind spüren. In meiner Vorstellung habe ich viele fremde Länder bereist, Sprachen gelernt und auch wieder mit dem Reiten begonnen. Das Schöne an der eigenen Vorstellungskraft ist ihre Grenzenlosigkeit. Dafür benötigt man nichts weiter als ein wenig Kreativität. Jederzeit kann man sich an ferne Plätze begeben oder neuen Abenteuern und Herausforderungen stellen. Eine bessere Motivation als den innigen Wunsch, diese Dinge eines Tages auch in der Wirklichkeit erleben zu wollen, könnte ich mir gar nicht vorstellen. Wenn ich heute auf meine Vergangenheit zurückblicke, wird mir erstmals bewusst, wie unglaublich viel ich in meinem Leben schon erreicht habe, trotz oder vielleicht gerade wegen meiner Herzerkrankung.

    Ich nehme einen tiefen Atemzug, um auch ganz sicher zu gehen, dass alles, was jetzt gerade passiert, real ist. Tatsächlich! Eine tiefe Zufriedenheit macht sich in mir breit. Völlig in Gedanken versunken habe ich alles um mich herum vergessen. Erst jetzt bemerke ich, wie kalt mir geworden ist. Die Kombination aus einem langen Flug und erheblichem Schlafmangel macht sich langsam bemerkbar. Meine Zehen spüre ich schon fast nicht mehr und meine Finger sind eiskalt.

    Ich war so vertieft, dass mir die Fähre, welche vor mir am Hudson River vorbeizog, nicht auffiel.

    „Was ist denn los? Wir haben dich überall gesucht. Es ist bitterkalt und unser Wassertaxi ist jetzt weg. Ist dir eigentlich klar, dass wir jetzt zu Fuß gehen können? Heute kommt keine Fähre mehr, das war die letzte!"

    Völlig aufgelöst braust meine Freundin auf mich zu. Sie ist ganz zerzaust und ihre Laune befindet sich, so wie die New Yorker Temperaturen, unter dem Gefrierpunkt. Ihre schulterlangen braunen Haare flattern im Wind. Sie reibt sich hastig ihre Hände, um sich warm zu halten.

    „Es tut mir wirklich leid, versuche ich, mich bei ihr zu entschuldigen. „Ich dachte, ihr wolltet noch Fotos machen? Deshalb habe ich solange ..., fahre ich fort, doch Sophia unterbricht mich, um die Wartezeit in der eisigen Kälte nicht noch länger hinauszuzögern.

    „Nur dass du es weißt, der nächste Latte mit Bagel geht auf dich!"

    „Natürlich", willige ich unverzüglich ein.

    Sie formt ihre Lippen zu einem Schmollmund und zeigt auf das einzige Lokal in der Nähe.

    „Wir gehen dort hinein, um uns aufzuwärmen, und anschließend rufen wir uns ein Cab. Mir ist nämlich eiskalt."

    Ich erkläre mich einverstanden und wir machen uns sogleich auf den Weg zu einem kleinen Restaurant direkt am River. Langsam spüre ich nicht einmal mehr meine Hände. Nun ist auch mir die Lust auf weitere Spaziergänge vergangen. Ich versuche, meine Finger zu bewegen, doch auch dies hilft nur bedingt gegen die Unterkühlung. Eine heiße Dusche wäre jetzt genau das Richtige, aber darauf werde ich wohl noch etwas warten müssen.

    Wir betreten das von uns angepeilte Lokal. Ebenso schnell verlassen wir es aber auch wieder, als uns die adrett gekleidete Dame, im dunkelgrauen Kostüm mit passendem Louis-Vuitton-Tuch und sehr eleganten Schuhen mit dezentem Absatz, freundlich mitteilt, dass es sich hier um eine geschlossene Gesellschaft handle und sie uns deshalb leider keinen Tisch anbieten könne.

    Neben dem Restaurant entdecke ich ein kleines Zelt. Es ist zwar keine wirkliche Alternative zu einem beheizten Raum, dennoch begeben wir uns in das leerstehende Plastikzelt, um uns zumindest vor dem Wind zu schützen. Soeben fällt mir auf, dass Wolfgang und Dominik schon längst hätten zurückkehren sollen.

    „Wo sind denn unsere Jungs?", erkundige ich mich bei meiner Freundin.

    „Die kommen sicher gleich. Nick meinte vorhin, er wolle noch einige Fotos von der Brooklyn Bridge schießen. Sie zuckt mit den Schultern, schüttelt den Kopf und fügt hinzu: „Das ist wieder typisch Dominik.

    Ich muss schmunzeln und kann mir einen Kommentar dazu nicht verkneifen: „Was sich liebt, das neckt sich!"

    „Nein, wirklich nicht!, entgegnet mir Sophia schockiert und fügt hinzu: „Und wenn er der letzte Mann auf dem Planeten wäre ... Nein! Nein!

    Die beiden sind einfach köstlich, besser als jedes Kabarett.

    „Warum bist du so wählerisch? Du hast an jedem Mann etwas auszusetzen. Existiert dein Traumprinz überhaupt?", versuche ich noch einmal nachzuhaken.

    „Ich weiß es nicht. Am liebsten hätte ich jemanden, der ein bisschen so ist wie dein Freund. Nur eben ...", sie zögert und blickt durch das durchsichtige Zelt hinaus auf den Hudson.

    Ich versuche erneut nachzufragen: „Nur eben ... was?"

    In diesem Moment betreten auch Wolfgang und Dominik das kleine Zelt und unterbrechen unser Gespräch. Ohne Umschweife versuchen mir die beiden ein schlechtes Gewissen wegen der verpassten Fähre einzureden, wobei sie es zumindest mit Humor nehmen. Sophia hat ihren Plan mit dem Taxi mittlerweile aufgegeben, da wir vier wenig motiviert sind, weiterhin draußen herumzulaufen, um eines der raren New Yorker Taxis zu erhaschen, die auf dieser Seite des Flusses unterwegs sind. Sie versucht indessen, eine befreundete New Yorkerin auf deren Handy zu erreichen, damit sie uns abholen kommt. Ihre Freundin Sherly erklärt sich bereit, uns bis zum Bahnhof zu bringen. Nach weiteren vierzig Minuten befinden wir uns wieder auf der „richtigen" Seite des Hudson Rivers.

    In der New Yorker Bahn, die uns nun endlich nach South Orange bringt, setze ich mich dicht neben Wolfgang. Er legt seinen Arm auf meine Schulter und zieht mich behutsam an sich. Ich spüre, wie er mir einen Kuss auf meine Stirn drückt. Nach und nach kehrt auch das Gefühl in meinen Zehen- und Fingerspitzen wieder zurück.

    Vor mir entdecke ich unsere Fahrkarte, welche in der dafür vorgesehenen Halterung klemmt. Darauf lese ich das heutige Datum. Wir haben heute den 26. Dezember. In genau einem Monat werde ich achtundzwanzig. Unglaublich, ich werde alt. Wenn man bedenkt, dass ich ursprünglich eine Lebenserwartung von nicht mal zwei Jahren hatte, bin ich, objektiv betrachtet, wirklich alt. Am 26.01. werde ich mein „Ablaufdatum" schon um ganze sechsundzwanzig Jahre überschritten haben.

    Kopfschüttelnd richte ich meinen Blick aus dem Fenster des Zuges. Große Bauwerke und alte Brückenpfeiler ziehen draußen vorbei. Ich kann es noch gar nicht richtig fassen. Wie schnell doch die Zeit vergeht. Als Sophia im Frühling beschloss, nach Amerika zu ziehen, dachte ich noch nicht daran, schon in ein paar Monaten selbst in die USA zu reisen. Sie bat uns zwar, ihr so bald wie möglich einen Besuch abzustatten, doch aufgrund meiner letzten Abiturprüfungen und Wolfgangs Arbeit schien das zu diesem Zeitpunkt so gut wie ausgeschlossen. Im Juli organisierten wir dann eine Abschiedsfeier für meine Freundin. Nachdem sie schon einige Wochen in ihrer neuen Heimat verbracht hatte, sprach ich mit Sophia erstmals darüber, dass Wolfgang und ich ihre Einladung gerne annehmen und für ein paar Tage zu ihr kommen wollen. Jetzt ist es Dezember und ich befinde mich tatsächlich hier in New York. Da Sophia die Feiertage alleine verbringen würde, entschieden wir uns letztendlich für diesen Zeitraum, um sie zu besuchen.

    Dabei fällt mir ein, dass meine Eltern und ich vor einigen Jahren beschlossen, einmal gemeinsam in die USA zu reisen. Die beiden waren damals auf der Suche nach einer Möglichkeit, mich trotz meiner krankheitsbedingten Situation zum Lernen zu motivieren. Allerdings konnte ich aus gesundheitlichen Gründen bei Weitem nicht so viel Zeit in der Schule verbringen wie meine Mitschüler. Deshalb verpasste ich auch einen Großteil des Unterrichts. Da der Stoff, den ich nachzuholen hatte, aber immer mehr wurde, verlor ich zunehmend das Interesse am Lernen. Aus eigener Erfahrung kann ich nur allen Eltern raten, ihre Kinder während eines längeren Aufenthaltes zu Hause oder in einer Klinik mit Privatunterricht auf dem Laufenden zu halten.

    Ich hatte damals leider nicht die Gelegenheit, den Unterrichtsstoff mithilfe eines Lehrers aufarbeiten zu können. Aus diesem Grund versuchten meine Eltern nahezu alles, damit ich mich selbst um die Bewältigung des versäumten Unterrichts bemühte. Ihre Strategie sah vor, dass ich am Ende des Schuljahres für meine harte Arbeit belohnt werden sollte. Ich hatte also einen Wunsch frei. Einen richtig großen. Als ich mir überlegte, was ich mir wünschen würde, fiel mir ein, wie zwei Schulkameraden in letzter Zeit vom Besuch im Disneyland erzählten und wie toll es dort gewesen sei. Meine Belohnung, so haben wir damals abgemacht, sollte also eine Reise nach Amerika sein. Genauer gesagt wollten wir eines Tages gemeinsam nach Florida fliegen. Natürlich nur unter der Bedingung, dass sich meine Noten wesentlich verbessern würden. Bei der darauffolgenden Zeugnisverteilung war ich wohl eine der glücklichsten Viertklässlerinnen überhaupt. Über Monate hinweg habe ich gelernt, geübt und mich mehr als jemals zuvor angestrengt. Ich freute mich so sehr auf den Amerika-Trip, dass mir der viele Stoff gar nicht mehr so unüberwindbar vorkam. Das Ergebnis meiner vielen zusätzlichen Lerneinheiten war schließlich das beste Zeugnis während meiner gesamten Pflichtschulzeit. Durch den Motivationsschub mauserte ich mich plötzlich zu einer Einser-Schülerin. Die Reise in die Vereinigten Staaten konnte also kommen.

    Bis heute haben wir es allerdings aufgrund meiner lange Zeit äußerst unstabilen gesundheitlichen Situation nicht geschafft, diese Reise tatsächlich gemeinsam anzutreten. Stattdessen hole ich jetzt endlich meine Traumreise, auf die ich mich seit Jahren freue, mit dem Menschen, den ich über alles liebe, nach. Es ist zwar nicht Florida oder das Disneyland, dennoch kann ich es kaum glauben, dass mein Wunsch nun endlich in Erfüllung gegangen ist. Ich habe vielleicht noch nicht allzu viel von New York sehen können außer einer atemberaubenden Kulisse, doch ich bin voller Vorfreude, was die nächsten Tage mit sich bringen werden und welche unglaublich tollen Dinge uns hier noch erwarten. Man spricht schließlich nicht umsonst vom Land der unbegrenzten Möglichkeiten.

    Die Gebäude, welche sich neben der Strecke befinden, werden zunehmend kleiner und die unzähligen Lichter der Stadt verblassen allmählich. Wir entfernen uns immer mehr von der Millionenmetropole. Bald wird der Zug in der Vorstadt eintreffen. Vor lauter Müdigkeit kann ich mich kaum noch wach halten. Mit geschlossenen Augen schmiege ich mich an die Schulter von Wolfgang. Die letzten Minuten unserer Fahrt verbringe ich schlafend.

    Die Zeit heilt nicht alle Wunden

    New Jersey, 27. Dezember

    Es ist 07:20 Uhr Ortszeit. Ich setze mich zu Sophia an den Frühstückstisch. Die dunklen Küchenmöbel passen perfekt zur ockergelben Wandfarbe. Auf dem großzügigen ovalen Tisch steht ein kleiner Plastikweihnachtsbaum. Er ist mit bunten Süßigkeiten und kleinen batteriegespeisten Lämpchen behangen. Das ganze Haus riecht nach frischem Kaffee und aufgebackenen Brötchen. Auf einem Loungesessel, der sich neben dem Esstisch befindet, stapeln sich weitere Überreste von Weihnachten. Die Spitze des Berges aus gebrauchtem Geschenkpapier und bunten Bändern besteht aus rotem und grünem Seidenpapier, in dem gestern noch unsere Mitbringsel für Sophia eingepackt waren.

    „Sorry", begrüßt mich meine Freundin, während sie an ihrem Orangensaft nippt.

    Sie scheint mich erst jetzt bemerkt zu haben und wendet sich von ihrer Zeitschrift ab und mir zu. „Ich wollte euch nicht wecken."

    „Du hast uns nicht geweckt. Wir sind schon einige Zeit wach. Meine Mama hatte schon ein paarmal versucht, uns zu erreichen. Wolfgang rief sie deshalb gleich heute Morgen um halb sechs zurück. Sie hat sich schon Sorgen gemacht, da wir uns gestern Abend nicht mehr gemeldet hatten, antworte ich und füge hinzu: „Was hast du denn für heute geplant?

    Sie grinst mich an. „Hm! Ich glaube, du lädst mich zu Starbucks ein und dann gehen wir shoppen. Was hältst du davon?"

    Vor mir steht ein Glas. Während ich mir etwas von dem Saft einschenke, der auf dem Tisch steht, antworte ich ihr: „Na klar. Ich gehe sehr gerne mit dir einkaufen, aber wir haben da ein kleines Problem. Besser gesagt, haben wir sogar zwei davon."

    „Du meinst Nick und Wolfgang? Das ist kein Problem, kontert sie rasch. „Ich habe gestern schon mit Dominik darüber gesprochen, dass wir zwei heute bummeln gehen wollen. Die beiden Jungs sollen sich am besten mit der Kamera auf den Weg durch die Stadt machen. Dann sind sie den ganzen Tag über beschäftigt.

    Anschließend steht sie auf und verlässt den Raum. Ihr zu Beginn lauter Schritt verblasst immer mehr.

    Aus größerer Entfernung höre ich sie rufen: „Nicki, steh auf, wir fahren gleich in die City!"

    „Ich heiße nicht Nicki, merk dir das endlich!", brüllt Dominik aus dem Gästezimmer.

    Ich nehme mir indessen einen Schluck von meinem kalten und unnatürlich grell gefärbten Orangensaft und muss dabei erneut über die beiden schmunzeln.

    „Hallo, Schatz!", begrüßt mich Wolfgang, der gerade aus der Dusche gekommen ist.

    Ich lächle ihn an und spitze meine Lippen. Langsam schreitet er zu mir herüber. Er beugt sich nach vorne und gibt mir einen Kuss. Dominik steht plötzlich neben uns und will wissen, ob wir fertig seien.

    „Guten Morgen, der Herr", begrüße ich ihn erst mal.

    Er grinst mich an und fragt: „Was ist jetzt? Können wir los?"

    Ich muss lachen, Nick sieht aus wie ein echter Paparazzo. Sein Cappy sitzt leicht schräg. Über seiner Winterjacke baumelt eine Spiegelreflexkamera. Das restliche Equipment hat er in seinem eigens dafür vorgesehenen Rucksack verstaut.

    Sophia kommt mit ihren Sneakers in der Hand zurück in die Küche und setzt sich erneut zu mir an den Tisch. Wir vier beschließen letztendlich, den nächsten Zug nach New York City zu nehmen. Am Bahnhof angekommen sehen wir, dass es bis zur Ankunft der Bahn noch gut zwanzig Minuten dauern wird. Genügend Zeit also, um noch rasch in Sophias „Lieblings-Starbucks zu gehen. Mit vier verschiedenen Sorten „Coffee to go und neun Bagels mit Frischkäse machen wir uns schließlich auf den Weg zum Bahnsteig. Dieser ist nur über eine steile Treppe zu erreichen. Zweiundzwanzig Stufen später bin ich völlig außer Atem. Von meinem Gefühl ausgehend würde ich sagen, dass es heute sogar noch kälter ist als gestern.

    Wolfgang sieht mich an und nimmt mir wortlos meine Tasche ab. In der oberen Wartehalle angekommen, setze ich mich zu Sophia und Dominik auf die Bank.

    „Geht‘s wieder, Schatz?", fragt mein Freund.

    Ich nicke und versuche mich auf meine Atmung zu konzentrieren.

    „Wolfgang? Ist das wegen ihrem Herzen?", will Nick von ihm wissen.

    Dieser wiederum versucht gekonnt, die ganze Sache so kurz wie möglich zu erklären: „Das ist nicht so schlimm. Es ist heute ziemlich kalt, dann fällt ihr das Atmen etwas schwerer, aber sonst geht‘s ihr super. Stimmt’s, Schatz?"

    Noch immer etwas keuchend gebe ich ihm kopfnickend recht. Nett, dass man mich nicht selbst fragt, wie es mir geht. Aber im Moment könnte ich sowieso nicht antworten. Noch immer versuche ich, meine Kurzatmigkeit unter Kontrolle zu bringen. Nach und nach wird es besser. Ich atme nur noch mit vorgehaltenem Schal ein und aus, damit die Luft, die durch meine Nase in die Bronchien und die Lunge dringt, nicht mehr so kalt ist. Dadurch spüre ich kein Ziehen mehr beim Atmen. Nach wenigen Schlucken vom Caramel-Latte erwärmt sich mein Körper auch langsam wieder von innen. Manchmal, wenn ich nicht rasch genug reagiere, dringt sehr kalte Luft in meine Atemwege ein und meine Gefäße ziehen sich zusammen. Dadurch bekomme ich weniger Sauerstoff in meine Lungenflügel als sonst. Dies führt dann schnell zu Kurzatmigkeit.

    Mittlerweile ist auch unser Zug eingetroffen. Insgeheim hoffe ich, dass unser Waggon beheizt ist. Ansonsten könnte die nächste halbe Stunde ganz schön lang und unangenehm werden. Um wieder zu Kräften zu kommen, benötige ich lediglich Wärme und kurzzeitige Ruhe. Doch leider ist das nicht immer und überall möglich. Nachdem wir in den Zug eingestiegen sind und uns schon mal nach freien Sitzplätzen umsehen, bemerke ich die wohltuende Wärme, die aus den Schlitzen von der Decke kommt. Gott sei Dank. Erleichtert atme ich auf. Dominik und Wolfgang entdecken zwei freie

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