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L(i)eber Bruder: Geschichte einer Leberlebendtransplantation
L(i)eber Bruder: Geschichte einer Leberlebendtransplantation
L(i)eber Bruder: Geschichte einer Leberlebendtransplantation
eBook279 Seiten3 Stunden

L(i)eber Bruder: Geschichte einer Leberlebendtransplantation

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Über dieses E-Book

Dieses Buch schildert die insgesamt 15 Monate währende Kranken- und Leidensgeschichte meines an Leberzirrhose unbekannter Herkunft erkrankten Bruders. Da man auf Spenderorgane oft ein Jahr oder länger warten muss, entschloss ich mich, ihm mit einer sogenannten Leberlebendspende zu helfen. Eine unerwartete Dramatik kam auf, als nach erfolgreich bestandener Operation beider Beteiligter das verordnete Immunsuppressivum von meinem Bruder nicht vertragen wurde. Die dadurch hervorgerufenen Folgeprobleme hielten die gesamte Familie monatelang in Atem, bis endlich die Ursache erkannt und die Medikation geändert werden konnte.
Die Buchidee entstand aus unserem eigenen Bedürfnis, im Vorfeld mehr über diese Möglichkeit zu erfahren, denn bisher gibt es in dieser Form nichts auf dem Markt.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum25. Mai 2015
ISBN9783738028263
L(i)eber Bruder: Geschichte einer Leberlebendtransplantation

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    Buchvorschau

    L(i)eber Bruder - Katharina Georgi-Hellriegel

    VORWORT

    Reinhard Georgi

    Katharina Georgi-Hellriegel

    L(i)eber Bruder!

    Geschichte einer Leberlebendtransplantation

    Transplantation, das ist: Warten auf ein Transplantat, eine große Operation, Leben mit einem fremden Organ. Wenn es sich um ein lebensnotwendiges Organ wie die Leber handelt, befinden sich die Patienten in jeder Phase ihrer terminalen Erkrankung unter medizinischen, vor allem aber unter extremen psychischen Ausnahmebedingungen. Der Mangel an Spenderorganen hat in Deutschland dazu geführt, dass jeder 5. Patient auf der Warteliste stirbt.

    Lebendspende ist für die Leber – in anderen Ländern auch schon für die Lunge – ein Ausweg. Schwester und Bruder, die beiden Erzähler dieses Buches, haben diese Lösung einer Wartezeit mit ungewissem Ausgang vorgezogen. Sie schildern die Kette von tiefgreifenden Ereignissen auf unterschiedliche Weise: Locker und humoristisch er, der Patient, überlegt und reflektierend sie, die Spenderin. Die Probleme unseres Gesundheitswesens treten zutage, Abläufe im Krankenhaus lassen keinen Zweifel aufkommen, dass vieles verbesserungswürdig ist. Kritische Kommentare, auch Ärzten und Schwestern gegenüber, können wir allenfalls mit einem Hinweis auf die genannten Defizite im System ein bisschen zurechtrücken. Trotzdem kommt in dem Buch für mich klar zum Ausdruck: Die Transplantationsmedizin ist zwar verbesserungswürdig, trotzdem leistet sie Großartiges. Dieses Buch ist ein beredtes Zeugnis dafür. Der Transplantationsort Mainz kann dabei mit jedem beliebigen Zentrum ausgetauscht werden.

    Ich wünsche mir, dass viele Menschen dieses Buch lesen und dabei Details der Schilderung nicht außer Acht lassen. Jeder kann betroffen sein!

    Professor Dr. Gerd Otto

    Transplantationschirurgie Universitätsklinik Mainz

    Der Sturz

    Das Jahr 2001 war kein gutes Jahr für mich. Es war das Jahr, in dem sich eine tückische Leberkrankheit bei mir bemerkbar machte, zunächst nur allmählich, dann aber wurde ich durch diese Krankheit binnen Kurzem zum schwerkranken Mann, und schließlich hätte sie es fast geschafft, mich vollständig zu überwältigen. Noch heute kenne ich nicht die Ursache dieser Krankheit, ich weiß nur, dass sie meine Leber zerstört hat, die dann am Ende dieses entscheidenden Jahres durch eine erfolgreiche Transplantation ersetzt worden ist.

    Mittlerweile kann ich aber immerhin die Vorgeschichte zu dieser Leberkrankheit rekonstruieren, deren erster Teil sicherlich viele Jahre zurückreicht, ohne dass es mir zunächst bewusst geworden ist. Aber zu Beginn des Jahres 1999 gab es bereits deutliche Anzeichen dafür, dass etwas nicht stimmte. Ernst genommen habe ich diese Anzeichen damals zwar noch nicht, ich erinnere mich aber an sie und kann deshalb davon berichten.

    Im Januar 1999 hatte ich, beraten von meiner Frau und nach mancher Diskussion mit gesundheitsbewussten Gleichaltrigen, den schönen Entschluss gefasst, mir zum ersten Mal in meinem Leben eine Vorsorgeuntersuchung zu gönnen. Einen konkreten Anlass dafür gab es nicht, und schon gar nicht hatte ich irgendwelche Beschwerden, die mich in die Sprechstunde des mir bisher nur flüchtig bekannten Familien-Hausarztes getrieben hätten. Es ging mir damals wohl hauptsächlich um die fachmännische Bestätigung, dass ich kerngesund sei, und wahrscheinlich habe ich sogar gehofft, für meine fast 50 Jahre einen überdurchschnittlich guten Gesundheitszustand bescheinigt zu bekommen; genau so fühlte ich mich nämlich in diesen Tagen.

    Einige Zeit später fühlte ich mich bei Weitem nicht mehr so gut, denn als ich ein paar Tage nach der gründlichen Untersuchung wieder im Sprechzimmer Platz genommen hatte, nahm der freundliche Doktor mit eher nachdenklicher Miene das Papier zur Hand, welches die ausgedruckten Ergebnisse meiner Blutuntersuchung enthielt.

    „Sie sind möglicherweise nicht ganz so gesund wie Sie aussehen, begann der Heilkundige vorsichtig, denn die Resultate hatten ihn selbst überrascht. „Zwar ist das meiste soweit in Ordnung, aber Ihre Leberwerte lassen ein wenig zu wünschen übrig!

    Einigermaßen verblüfft ließ ich mir die Sache näher erklären und musste schließlich einsehen, dass es sich wohl nicht um den von mir zunächst vermuteten Messfehler handelte. Nicht nur eine Kennzahl tanzte aus der Reihe, nein, gleich mehrere Werte waren eindeutig zu hoch. Eine Katastrophe sei das nicht, beruhigte mich der Mediziner, aber zur Sicherheit und um die Sache abzuklären, sollte ich doch in den nächsten Tagen einen Internisten aufsuchen, und er gab mir eine Adresse.

    Eine Woche später musste ich dort in aller Frühe antreten, eigentlich noch immer guten Mutes, weil ich mich ja nach wie vor alles andere als krank fühlte. Etwa eine Stunde später, als ich die Praxis dieses übrigens bemerkenswert unfreundlichen Mannes wieder verlassen hatte, war mein persönliches Gesundheitsgefühl um eine weitere Stufe nach unten gerutscht, denn es hatte sich Folgendes ereignet:

    Nach einiger Wartezeit war ich von einer Helferin in einen Raum eingewiesen worden, der außer dem obligatorischen Computer lediglich eine Liege enthielt, auf der ich schon mal Platz nehmen sollte. Ich hatte mich gerade ausgestreckt, als der Arzt, ein vergleichsweise junger Mensch, grußlos hereinstürmte und mich barsch aufforderte, den Oberkörper frei zu machen. Dann hatte er auch schon eine Ultraschallsonde in der Hand und fuhr tastend damit auf meinem Bauch hin und her.

    „Ihre Leber sieht aber schon ziemlich alt aus", brummte er schließlich geringschätzig vor sich hin, so dass ich mich sogleich in die Defensive gedrängt sah.

    „Das liegt wahrscheinlich daran, dass ich auch nicht mehr der Jüngste bin, entgegnete ich keck, aber er war nicht aufzuheitern. Stattdessen ließ er nach weiteren Suchbewegungen das hässliche Wort „Zirrhose fallen, und am Ende krönte er seine düsteren Ausführungen sogar noch damit, dass ich mich irgendwann einmal, ganz fern am Zukunftshorizont, mit dem Gedanken an eine neue Leber vertraut machen solle.

    Die wenigen Worte, die wir darüber hinaus noch wechselten, verbesserten die Situation nicht wesentlich, und als ich kurz darauf seine Praxis verließ, war ich erst einmal wie vor den Kopf gestoßen. Auf dem Nachhauseweg verglich ich das Unheil verkündende Urteil dieses Arztes mit den positiven und vitalen Signalen, die mir mein Körper nach wie vor zukommen ließ. Auf der Suche nach einem Ausweg besann ich mich dann auf die mit Sicherheit wahre Feststellung, dass auch Ärzte sich irren können, und ich nahm mir vor, so gut es ging, auf dieses Pferd zu setzen.

    Dabei war es durchaus eine Hilfe für mich, dass mir der ganze Kerl von Anfang an herzlich unsympathisch gewesen war, und von Antipathie zur Unglaubwürdigkeit, so fand ich, war es nur ein kleiner Schritt. Außerdem gelang es mir in den nächsten Tagen, medizinisch Gebildete in meinem weiteren Bekanntenkreis ausfindig zu machen, die die böse Zirrhose-Diagnose erfreulich relativierten und mich zudem in der Auffassung bestärkten, dass sich so etwas per Ultraschall nur mit großer Unsicherheit feststellen lasse.

    So gelang es mir, die nächste Zeit zwar nicht völlig sorglos, aber doch mit akzeptabler Lebensqualität zu verbringen. Als einziges Zugeständnis an den pessimistischen Internisten vereinbarte ich mit meinem Hausarzt, in Zukunft ein- bis zweimal pro Jahr meine Leberwerte bestimmen zu lassen, ganz nach dem Motto: „Wenn diese mit der Zeit deutlich ansteigen sollten, dann können wir uns ja immer noch Sorgen machen."

    Sie stiegen nicht oder nur wenig an, und so verschwand die ganze Sache allmählich aus meinem Blickfeld, bis im Januar 2001 eine unangenehme körperliche Veränderung bei mir auftrat, die von nun an zwar mein Gesundheitsgefühl beeinträchtigte, in Zusammenhang mit dem Zustand meiner Leber brachte ich sie aber vorerst nicht.

    Es begann recht harmlos und zeigte sich zunächst eher als kosmetisches Problem. Seit einiger Zeit störte mich trotz maßvoller Ernährung ein deutlich hervortretender Bauch, der zwar mein Gesamtgewicht nicht allzu sehr in die Höhe trieb, von mir aber vor allem seiner merkwürdigen Form wegen als lästig empfunden wurde. Obwohl er nicht besonders groß war, unterbrach er spitz und unnatürlich meine ansonsten eher schlanke Figur und wurde von mir deshalb als Fremdkörper empfunden. Wenn auch meine Frau immer wieder betonte, dass so etwas in meinem Alter ganz normal sei und ich auch als leicht Deformierter weiterhin mit ihrem liebevollen Wohlwollen rechnen könne, so war und blieb ich doch unzufrieden damit.

    Natürlich hielt ich mich schon seit einiger Zeit mit dem Essen zurück, musste aber feststellen, dass dies meine Figur nur unwesentlich verbesserte. Deshalb entschied ich mich nach einiger Zeit dafür, nun endlich Nägel mit Köpfen zu machen. Weil mir die ständigen kleinen Portionen auf die Nerven gingen, beschloss ich jetzt, für ein paar Tage mit dem Essen ganz aufzuhören, um während dieser Zeit in Ruhe meinen Bauch beobachten zu können. Dies gelang mir ohne große Schwierigkeiten drei Tage lang, und tatsächlich zeigten sich danach erste Erfolge. Allerdings merkte ich kurze Zeit später, dass ich mir dafür etwas eingehandelt hatte, was mir nun auch wieder nicht recht war: Meine Verdauung nämlich kam nach dieser Fastenzeit nicht mehr so richtig in Gang.

    Zunächst fehlte tagelang der Stuhlgang völlig, und als er endlich doch wieder einsetzte, tat er das in Form eines kräftigen Durchfalls, der von nun an in wechselnder Intensität zu meinem ständigen Begleiter wurde. Dies galt nicht nur für die nächsten Wochen, sondern schien überhaupt nicht mehr aufhören zu wollen. Mit meiner Figur hatte ich nun keine Probleme mehr, aber das ständige Klo-Gerenne ging mir dafür umso mehr auf die Nerven, und außerdem verlor ich in jener Zeit nicht nur an Gewicht, sondern zunehmend auch an Energie und Kraft.

    Ich fühlte mich zwar nicht richtig krank und blieb auch weiterhin arbeitsfähig, aber sogar mir als erfolgreichem Verdränger wurde nach mehr als einem Monat klar, dass irgendetwas absolut nicht in Ordnung war. Also suchte ich von Neuem meinen Hausarzt auf, und diesmal konnte ich ihm von echten Beschwerden berichten.

    „Da müssen wir wohl mal gründlich Ihren Verdauungsapparat untersuchen", war sein einleuchtender Kommentar, und sogleich entwarf er ein maßgeschneidertes und gründliches Untersuchungsszenario, welches nach einigem Vorgeplänkel in einer ausgewachsenen Darmspiegelung gipfeln sollte. Überrascht davon, dass meine Behandlungsbedürftigkeit nun gleich derart umfangreich geworden sein sollte, erbat ich mir einige Tage Bedenkzeit und beließ es vorläufig bei der obligatorischen Blutprobe.

    Als ich nach etwa einer Woche wieder auf dem Sprechzimmerstuhl saß, hatte ich Erfreuliches zu berichten: Mein Durchfall war nach mehr als zwei Monaten endlich zum Stillstand gekommen! Über die Ursache dieses verblüffenden Tatbestandes konnten wir beide nur rätseln, aber es war ja eigentlich auch egal. Bei positiven Überraschungen fragt man nicht lang nach Erklärungen, und so schieden wir in bestem Einvernehmen voneinander. Alle angekündigten Untersuchungen wurden abgeblasen, ich nahm lediglich noch die Ergebnisse der Blutentnahme mit nach Hause, deren Leberwerte im bisher bekannten Rahmen geblieben waren.

    Nun konnte ich endlich daran gehen, die Leistungsfähigkeit meines Körpers wieder auf den alten Stand zu bringen, und ich tat dies auf mancherlei Weise. Neben meiner Lieblingsdisziplin, dem Schwimmen, wurde nun auch wieder mit dem Fahrrad gefahren, und sogar zwei Hanteln kaufte ich mir in jener Zeit, um meinem etwas verfallenen Oberkörper etwas Gutes antun zu können.

    Die folgende Geschichte, die wenige Wochen später spielt und mit einem Schlag die eben geschilderte körperliche Aufbruchstimmung für lange Zeit zunichte machte, hat mit dem Fahrradfahren zu tun. Nachdem ich wieder damit angefangen hatte, betrieb ich es nicht nur tagsüber, sondern manchmal auch nachts, und deshalb geht es jetzt um die Nacht vom 25. auf den 26. Mai 2001.

    Diese besondere Nacht hatte zu Beginn des Wochenendes mit einem Freitagabend gut angefangen, und so wäre es wohl auch weitergegangen, wenn ich nicht gegen Mitternacht beschlossen hätte, eine kleine Radtour anzuberaumen. Ein derart später Zeitpunkt für ein solches Vorhaben mag dem einen oder anderen vielleicht etwas merkwürdig vorkommen, in meiner Familie wundert sich aber niemand darüber, vorausgesetzt ich bitte nicht um Begleitung.

    Nach kurzen Vorbereitungen verabschiedete ich mich also artig von meiner für heute bereits bettlägerigen Frau. Sie hat mit den Jahren gelernt, darauf zu vertrauen, dass ihr nachtaktiver Gatte solch späte Abwesenheiten nicht etwa dazu nutzt, das Schlafgemach einer heimlichen Geliebten zu betreten, sondern lediglich und ausschließlich in die Pedale seines Fahrrads zu steigen.

    Entschlossen trat ich in die Nacht hinaus, deren Neumond die Szene in beträchtliche Dunkelheit tauchte. Dennoch gelang mir ein reibungsloser Start, und bald rollte ich, nur ab und zu als heller Fleck im Scheinwerferlicht der mich passierenden Autos aufblitzend, zufrieden und entspannt über die Landstraße dahin. Mein zu diesem Zeitpunkt nur schwach arbeitendes Gehirn wird wahrscheinlich versucht haben, das kommende Wochenende gedanklich vorwegzunehmen, und dabei, soweit erinnere ich mich noch genau, war von einer sich nähernden Katastrophe nicht die Rede.

    Ganz im Gegenteil – absolut ereignislos kamen und gingen die Kilometer, und der emsige Dynamo war der Einzige, der sich hörbar dazu äußerte. Doch was war das? Hatte er nicht eben während der letzten Meter einen Tick tiefer, drohender als sonst gebrummt? War dieses kleine, scheinbar seelenlose Gerät am Ende in der Lage, großes Unheil vorauszuahnen, vielleicht sogar davor zu warnen?

    Aber nein – es gab keinen Grund zur Beunruhigung und schon gar nicht zur Veranlassung; ich war nur eben, beim Befahren einer Steigung, etwas langsamer geworden. Schon konnte ich wieder, oben angekommen, die Kraft von den Pedalen nehmen, um mich im Leerlauf beschleunigt zu Tal rollen zu lassen, geradewegs auf zwei Unterführungen zu. Die unterqueren hier, im Randbereich der Stadt Rüsselsheim, zwei Äste einer Autobahnverzweigung.

    Die Katastrophe, deren Folgen meinem damals 52-jährigen Leben eine nachhaltige Richtungsänderung aufzwingen sollten, war nun bis auf wenige Sekunden an mich herangekommen, aber noch fuhr ich unbeschwert dahin.

    Vor der ersten Unterführung erschien jetzt eine Baustelle, ziemlich liederlich angerichtet mit einigen trüben Laternen und schief installierten rot-weißen Latten. Sie war im grellen Gegenlicht einer davor stehenden Ampel mehr zu erahnen als zu erkennen. Immerhin war dieses Gegenlicht grün – wie schön, freute ich mich und brauste daran vorbei, mit einem eleganten Schlenker nach links zur Straßenmitte, wohin mich das rot-weiße Baustellenholz abdrängte.

    Die nächsten Sekunden befand ich mich wieder fast im Dunkeln, allein mit einer bescheidenen Fahrradlampe, die dem eben noch geblendeten Auge nicht allzu viel erhellen konnte. Noch immer blieb die Lage stabil, ich zehrte von dem eben erworbenen Bergabschwung und näherte mich flott und in gerader Linie dem Ende der Unterführung. Weil die Baustelle nun offensichtlich vorbei war, lenkte ich jetzt sanft nach rechts, um meinen vorschriftsmäßigen Platz am Straßenrand wieder einzunehmen. Es gab aber jemanden, der das nicht wollte. Ein Bordstein, der hier in der Straßenmitte auf mein in einem sehr spitzen Winkel auf ihn zurollendes Vorderrad wartete, war etwa 12 Zentimeter hoch und überschritt damit nicht das handelsübliche Maß. Dennoch waren die Folgen der Begegnung verheerend!

    Der vordere Teil des Fahrrads wurde im nächsten Augenblick unsanft und schlagartig von der harten Barriere abgewiesen, und genauso schnell geriet der übrige Teil meines Fahrzeugs in heftiges Schleudern. Nur kurz noch wurde mir klar, dass ein Sturz unmittelbar bevorstand, und wenige Sekundenbruchteile später war es dann soweit. Leise klappernd flog mein Fahrrad ein kleines Stück durch die Luft, während ich die Gelegenheit nutzte, mich von meinem jetzt nutzlos gewordenen Transportmittel zu trennen.

    Das Urteil darüber, wem von uns beiden schließlich die bessere Landung gelang, hängt sehr von der Betrachtungsweise ab. Nimmt man die Geräuschentwicklung als Entscheidungskriterium, so bin ich als der Leisere im Vorteil. Während mein treues Rad scheppernd und krachend einige Meter vor mir niederfiel, rollte ich annähernd geräuschlos auf dem harten Boden aus. Nimmt man allerdings Beweglichkeit und Verletzungsgrad als Maßstab, so kehrt sich die Reihenfolge um. In diesem Fall belegte ich wegen schmerzhafter Prellungen und mehrerer blutender Schürfwunden eindeutig den zweiten Platz, während mein Fahrrad noch weitgehend intakt zu sein schien. Ein vergleichender Beweglichkeitstest, der allerdings erst nach einigen Minuten stattfinden konnte, bestätigte diese Einschätzung. Ich war kaum in der Lage, mich von der Stelle zu rühren, mein Fahrrad aber hätte es, mit frei in den Lagern laufenden Pedalen und Rädern, jederzeit mit Leichtigkeit gekonnt.

    Das war zwar schön, aber da es schlecht alleine nach Hause fahren konnte, musste ich mir nun doch Gedanken machen, wie es weitergehen sollte. Vorher aber bin ich wohl noch eine kurze Erklärung zum Thema „Bordstein in der Straßenmitte schuldig – sie erscheint mir notwendig, um die Glaubwürdigkeit dieses Berichts zu retten, denn mit Recht mag sich mancher fragen: „Gibt es denn so etwas überhaupt, und wenn ja, wo?

    Ich gebe zu, und mein Unfall beweist es ja, dass auch mir diese seltene straßenbauliche Variante neu war, aber am östlichen Rand der Autostadt Rüsselsheim gibt es tatsächlich so etwas. Im Bereich der beiden Unterführungen, die ich eben zu durchfahren versucht hatte, nimmt ein Radweg, der danach wieder rechts von der Straße verschwindet, aus Platzmangel die rechte Hälfte der Fahrbahn ein. Das allein wäre ja nicht so schlimm, aber die Trennung zwischen Radweg und Autospur in der Straßenmitte wird nicht durch eine weiße Linie vorgenommen, sondern eben durch diesen Bordstein. Auf eine derart pfiffige Lösung, die damals gerade per Baustelle ins Werk gesetzt wurde, war ich leider nicht vorbereitet gewesen und fiel ihr wahrscheinlich als Erster zum Opfer.

    Nun aber wieder zurück zur Situation nach meinem Unfall. Ich saß also, nachdem ich eben so unsanft zu Boden gegangen war, am Straßenrand, leckte meine Wunden und machte Pläne für die Zukunft. Da mich die Nachtluft angenehm mild umwehte, war zunächst keine Eile geboten, vor allem auch deshalb nicht, weil es jetzt, etwa eine Stunde nach Mitternacht, bis zum Morgengrauen noch eine ganze Weile hin war.

    Andererseits machte sich doch ein gewisses Heimweh bemerkbar, gerade weil es mir im Moment nicht so gut ging, und so überprüfte ich schon mal, ob mich meine Füße noch trugen. Ächzend stand ich auf und versuchte, ein paar Schritte zu gehen – na gut, das schien ja noch zu funktionieren. Aber wohl fühlte ich mich nicht auf meinen Beinen, und der Gedanke, den Rest des Heimwegs zu Fuß zurücklegen zu müssen, war mir angesichts der Entfernung von etwa 10 Kilometern doch sehr unangenehm.

    Die Alternativen, die mir blieben, bestanden darin, entweder hier auf fremde Hilfe zu warten oder alles auf eine Karte und mich wieder auf mein Fahrrad zu setzen. So könnte ich vielleicht wenigstens langsam nach Hause rollen, immerhin waren nennenswerte Steigungen bis dorthin nicht zu überwinden.

    Nun galt es also, nicht den Aufstand, sondern das Aufsitzen zu proben, und ich nahm diese Aufgabe mit Bedacht in Angriff. Nach ersten Versuchen wurde mir klar, dass das nicht ohne Weiteres gehen würde, denn auf ebener Straße gelang mir nicht, was für jeden Hund eine leichte Übung ist: mein Bein so weit anzuheben, dass es über die Stange meines Herrenfahrrades geschoben werden konnte.

    Auf der Suche nach Hilfe, die die Umgebung mir anbieten könnte, fiel mein Blick auf eine Parkbank etwas abseits der Straße, die mir für mein Vorhaben geeignet erschien. Vorsichtig näherte ich mich ihr, lehnte mein Fahrrad an die Sitzfläche der Bank und bestieg auf allen Vieren dieselbe. Nun schob ich meinen lädierten Hintern vorsichtig auf den Sattel, mich dabei mit beiden Armen auf dem Lenker abstützend, und schließlich konnte ich mich behutsam von der rettenden Bank in Richtung Straße abstoßen.

    Es war noch nicht drei Uhr, als ich zu Hause ankam, wo ich sogleich Veranlassung hatte, die auf genetischer Basis wirkende Fortpflanzung zu preisen. Mein fast volljähriger Sohn, der vor etwa 18 Jahren ein paar Nachtaktiv-Gene aufgeschnappt haben muss, war noch wach und bereit, erste Hilfe für seinen beschädigten Vater zu leisten. Meinen Zustand registrierte er eher gelassen, obwohl es noch nie vorgekommen war, dass ich von einer nächtlichen Radtour derart ramponiert nach Hause gekommen war.

    Bald lag ich im Bett, und während ich einschlief, machte ich mir wahrscheinlich wenig Gedanken über meine Zukunft – zumindest können es kaum zutreffende gewesen sein. Wie hätte ich damals auch ahnen können, dass ich nicht nur den gerade begonnenen Sommer, sondern auch noch die darauf folgende Jahreszeit in verschiedenen Krankenhäusern würde zubringen müssen!

    Schon zwei Tage später war ich in dieser Hinsicht wesentlich klüger, als ich der Sturzfolgen wegen in der Ambulanz des Kreiskrankenhauses in G. untersucht wurde. Sehr rasch wurde

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