Lebensweisheiten eines ordentlichen Trinkers: oder immer wieder Ärger mit der MPU
Von Helge Hanerth
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Buchvorschau
Lebensweisheiten eines ordentlichen Trinkers - Helge Hanerth
Zwei Anmerkungen vorweg
Der Mensch ist kein Gefangener seines Schicksals, sondern nur ein Gefangener seines eigenen Geistes
Franklin D. Roosevelt
---
Prüfe dein Leben/ wie schon Sokrates es tat/ Nutze Kopf und Bauch die Erfahrungen deines Lebens zu sehen für verlässliche Schlussfolgerungen/ Baue aus geprüfter Erkenntnis das Gerüst deiner Überzeugungen/ Da wo dein Handeln zur Maxime deiner Überzeugungen wird/ erlebst du Schönheit im Tun/ Dann wird dich die kleinste Kleinigkeit anstoßen/ und jede Wahrheit stiftende Erkenntnis/ deine innere Einheit mit den Dingen der Natur vertiefen./ Mehre ihren Nutzen so/ dass selbst aus notwendiger, unumgänglicher Arbeit/ eine lebensspendende Kraft dich nährt.
frei nach Sokrates, Immanuel Kant u.a.
Vorwort
Nüchtern ist mir mein Leben am liebsten. Nie würde ich auf die Idee kommen eine Aktivität mit Alkohol zu verbessern oder zu
Schon in der Schule mied ich jeden Alkohol. Das war mir viel zu pubertär. Durch Nichttrinken grenzte ich mich zusätzlich von den Mitschülern ab. Für die war ich sowieso ein komischer Einzelgänger. Ich wollte nie ihr cooles Leben und träumte von einem Forscherleben in der Wildnis. Je tiefer ich den Graben zu meiner Umwelt zog, desto effektiver konnte ich meine innig geliebte Kindheit verteidigen. Als Außenseiter und Eigenbrötler gewann ich damit auch die Freiheit für ein eigenes, transzendales Leben. Das war und ist bestimmt durch Leistungssport, Musikmachen, eine ehrgeizige Karriere, die auf Selbstverwirklichung in zukunftsweisenden Herausforderungen baut, sowie philosophische Rucksackreisen durch atemberaubende Einöden unserer Erde.
Alkohol kam mir erst spät in den Sinn, wenn der Tag gelaufen war. Wenn nichts mehr ging und das Bett schon rief. Nur so konnte Alkohol ein akzeptabler Tagesabschluss sein. Zum Feierabendausklang eingeführt, ordnete Alkohol den Tag. Aber selbst diese Erfahrung habe ich erst nach Jahrzehnten gemacht. Und sie war auch nicht von Dauer. Dem Alkohol fehlten einfach ein paar Eigenschaften, um sich gegen tiefergreifende Leidenschaften dauerhaft durchsetzen zu können.
Die neuen Feierabende mit Alkohol waren angenehm. Sie wurden schnell zur Gewohnheit. Fernsehen und Alkohol schafften eine neue Bequemlichkeit, die ich bis dahin nicht gekannt hatte. Besondere Erinnerungen hinterließen diese Abende nicht. Wichtiger war die ganze Zeit die Aussicht auf mehr aktives Erleben, wenn es denn wieder passt. Ich war vorübergehend sehr zufrieden auf meiner wohligen Fernsehcoutsch, ruhiggestellt mit Träumen von einer nicht fernen und spannenderen Wirklichkeit.
So trank ich für mehrere Monate. Es bereicherte die Abende während meine Frau schwanger war und sehr zeitig zu Bett ging. Dass Alkohol weit davon entfernt war, die bestimmende Komponente in meinem Leben zu werden, mochten mehrere Psychologen, nicht glauben. Es passte nicht zu ihren einschlägigen Erfahrungen. Die waren maßgeblich und ich damit unglaubwürdig. Was an mir und meinem Trinkverhalten so besorgniserregend war, wollten sie nicht genau sagen, aber sie vermuteten, ich wolle ein Alkoholproblem verharmlosen. Deswegen würde ich sie belügen. Meine Erfahrungen galten nichts. Auch nicht, wenn sie mich über Jahre geprägt hatten. So konnte ich nicht dort überzeugen, wo ihre Erfahrung endete. Die zu bedienen forderten sie. Das entsprach nur nicht meinem Leben. Meine Trinkdauer und die Trinkmengen korrespondierten mit Statistiken, die sie hochrechneten und veranlassten mir die Fahrtauglichkeit abzusprechen. Alkohol als Lebensabschnittspartner war in ihren Augen unmöglich. Das Craving (Alkoholprägung) nach monatelangen, allabendlichen Genuss, musste nach ihrer Meinung zu einem Trinkdruck geführt haben, dem zu widerstehen sie mir nicht zutrauten. Sie nahmen sogar an, dass ich immer schon getrunken haben musste, wahrscheinlich über Jahrzehnte. Das stimmte aber total nicht und war angesichts meiner beruflichen- und sportlichen Aktivitäten auch gar nicht möglich. Trotzdem war der Wunsch, dass das auf mich zutreffen möge plausibel und gewünscht. Das kennen wir noch von den Wahlen in der Deutschen Demokratischen Republik.
Ich war enttäuscht, dass man mich auf ein statistisches Niveau stutzte, das mit meiner Lebensrealität überhaupt nicht zusammen passte. Die relativen Aussagen von Statistiken wurden zum absoluten Maßstab erklärt. Man erwartete, dass ich ihre Annahmen bestätigte. Darüber hinaus interessierte man sich nur für Maßnahmen, die ich ergriffen hatte, um aus dem tiefen Loch des Alkoholismus herauszukommen, in dem ich mich auch nach etwa einem halben Jahr fortgesetzten Konsums noch nicht gesehen habe. Es war doch alles ganz lustig. Gefragt war aber nie die Wahrheit, sondern meine kompromisslose Kooperation bei der Bestätigung gutachterlicher Annahmen. Zustimmen und Gestehen war zielführend.
Ich war schockiert, wie man Fakten ignorierte, wenn sie nicht die Überzeugungen der Experten und ihre Statistiken stützten, auch wenn die nur ein begrenztes Spektrum der Realität abdeckten. So entstanden einige systematische Fehler in ihren Folgerungen, die durch und durch falsch waren und den Prinzipien einer empirischen Vorgehensweise krass widersprachen. Vorsichtige Kritik wurde mir schnell als Unschuldsfantasie oder Widerstandstendenz ausgelegt. So kreierten sie manchmal ein surreales Kuckucksnest in dem ihr Gespür und ihre Bauchgefühle regierten. Assoziationen ohne rationalen Bezug dienten der Bestätigung von Überzeugungen. Wenn dem etwas widersprach, dann war das nicht relevant. Ihre Rechtfertigungen blieben diffus, denn sie suchten nur die Plausibilität, die sie vorgaben. Sie wussten, die Beweislast lag bei mir.
Damit konnte ich mich nicht abfinden, weder als Betroffener noch als Wissenschaftler. Offizieller Unsinn muss öffentlich gemacht werden, wenn die Abweichung amtlicher Feststellungen von der Realität schwerwiegend wird. Gutachterliche Qualität mit wissenschaftlichen Methoden muss eine größere und vor allem reproduzierbare Qualität haben. Sie muss unabhängig und frei von Gesinnung sein. Dafür ist die Tragweite verbindlicher Entscheidungen zu weitreichend. Das Ziel eines Gutachtens muss eine evidenzbasierte Qualität haben. Ich hoffe meine Erlebnisse können das deutlich machen.
Ich habe mich auch gefragt, warum es mir so leicht fiel, vom Alkohol zu lassen. Zwei Gründe sind ausschlaggebend. Zum einen betrug die Zeitdauer täglichen Trinkens unter einem Jahr, und zum anderen besitze ich statt einer pubertären Alkoholprägung eine extreme Sportprägung, die auch ein mentales Training war. Für die Gutachter waren Verhaltensprägungen, vor allem durch Kadersport, neben dem Craving durch Alkohol überhaupt nicht untersuchungswürdig. Sie ließen sich leiten von einem statistischen Standardalkoholiker, dessen Modell universell eingesetzt wurde. Differenzierende Zwischentöne waren unerwünscht. Beeindrucken konnte mich ihre kategorische Ablehnung bald nicht mehr, dafür hatten sie die Wahrheit zu sehr verdreht. Ich wusste doch und alle meine Wegbegleiter, allen voran meine Eltern was über Jahre meinen Alltag bestimmte und dass das nicht passte zu den Bildern, die sie sich malten aus Erfahrungen, die andere Spektren wiedergaben.
Die Antworten, die ich fand für meine Art mit Alkohol umzugehen, breite ich in dem Buch weit aus. Ich will mich rechtfertigen gegen alkoholische Eindimensionalität auf beiden Seiten. Es geht bei den gutachterlichen Feststellungen ja nicht nur um Überzeugungen ohne wissenschaftliche Sicherheit, sondern das die erhoben werden zu Feststellungen mit amtlichen Status. Damit bekommen sie Beweiskraft. Solche Urteile sind rechtsverbindlich. Ich befürchte, dass Fundament für einen solchen Anspruch muss erst noch gebaut werden.
Darüber hinaus glaube ich nicht, dass mein Umgang mit Alkohol außergewöhnlich ist. Andere machen das auch. Sie sind nur im Allgemeinen weniger auffällig als andere Alkoholikertypen. Wieder andere können das lernen. Ich hatte doch erst mit Mitte vierzig mit dem Trinken angefangen, als ich auf eine sehr verbreitete Trinkkultur stieß. Ich kopierte doch nur das Verhalten von Arbeitskollegen, die das immer schon so machten. Diese Kollegen, die ihre Feierabende ganz unauffällig mit Alkohol vor dem Fernseher zelebrierten, gibt es doch in tausenden anderen Firmen im ganzen Land. Nicht jedem von ihnen droht zwangsläufig Jobverlust und sozialer Abstieg. Viele Feierabendalkoholiker richten es sich bis zur Rente und darüber hinaus ganz gemütlich ein, ohne dass Alkohol den ganzen Tag bestimmt.
Mein Wissen über das schöne Leben mit Alkohol teile ich gern. Nachteile und Einschränkungen gab es keine. Das war ein rundum gelungener Lebensabschnitt. Auf Dauer interessanter blieben aber aktive Kicks und meine Frau. Weil mein Alkoholismus so frisch war, funktionierte auch noch ein einfaches Gegenmittel. Wenn ich jeden Tag so viel weniger trank, dass es der Rausch nicht merkte, reduzierte sich die Trinkmenge nach zwei Wochen drastisch. Damit man sich dabei nichts vormacht, sollte man allerdings das Ausschleichen mit einem Messbecher durchführen und den Vorgang protokollieren. Um danach alkoholfrei zu bleiben braucht es nur die Lust auf intensivere Erlebnisse. Da hilft mir gerade im Job auch meine Projekt- und Umsatzverantwortung. Erfolgsdruck puscht. Diese Droge schmeckt mir. In dieser Liga stört Alkohol. Die totale gedankliche Klarheit und Ruhe für den Ein- und Überblick kickt nur nüchtern.
Echte Alkoholiker, das waren aus meiner und meiner Kollegen Sicht die, die bei jeder Gelegenheit trinken. Ein Dinner ohne Tischwein, ein Fest ohne Fassbier, das gibt es bei ihnen nicht. Sie trinken täglich, manchmal schon am Morgen. Einen besonderen Anlass zum Trinken braucht es nicht. Das machen sie schon seit Jahren so. Was sollen sie auch sonst machen. Nichts anderes macht ihnen Spaß. Viele haben damit früh begonnen, häufig schon als Jugendliche. Der Gebrauch ist chronisch geworden. Entspannung und Wohlgefühl ohne Alkohol, dass geht nicht mehr.
Dieses fortgeschrittene Stadium spiegelt das weit verbreitete Bild vom Alkoholiker. Von diesen armen Schluckern waren ich und die große Mehrheit von Alkoholikern doch weit entfernt. Wir tranken ordentlich in dem Rahmen, der dafür geeignet war. Erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Ich mag ja auch nicht einfach Urlaub machen, bevor ich mir Urlaubsreife erarbeitet habe. Aber vorsicht, so ein Statement kann in einer Begutachtung schon zu Missverständnissen führen, denn nicht wenige Menschen können sich sehr wohl Urlaub ohne Vorleistung durch Arbeit und sogar ein Leben ganz ohne Arbeit vorstellen. Wenn ein Gutachter auch diesen anderen Traum hat, dann kann ein fundamental anderes Lebensprinzip an dieser Stelle nicht mehr überzeugen.
Dass Alkoholismus auch ganz andere Seiten und Nuancen haben kann, dass seine Anfänge ganz unverfänglich und subtil sind mit unterschiedlichsten Verläufen, soll mein Beispiel zeigen. Bei mir gab es keinen massiven Drang zu trinken und alles war unter Kontrolle. Selbstverständlich nahm ich das Trinken nie zum Anlass ein Auto zu fahren. Das waren zwei gegensätzliche Welten, die sich ausschlossen. Alkohol war die Zugabe zu einem vielseitigen Leben. Diese Belohnung gab es erst nach vollbrachter Leistung. Leiste erst mal was. Ein Rausch muss verdient sein. Diese Einstellung schaffte mir strenge Trennung und Kontrolle. Das eine sollte das andere nicht verpfuschen. Ich wollte mich doch nicht verlieren.
Solche Überlegungen konnten nach Meinung erfahrener Experten aber nicht dauerhaft funktionieren, wenn sie vom Craving herausgefordert würden. Und ihre Meinung war mir wichtig, denn trotz aller Kontrolle hatte sich mir ein Fehler eingeschlichen, der mir den Führerschein kostete.
Die Experten kannten das alles schon. So brauchte ich mich nicht zu erklären. Ich musste nur dem vorgezeigten Weg folgen, dann würde alles gut (ein neuer Führerschein inklusive). Wie dieses Verfahren aussah, lernte ich in verschiedenen Therapien kennen. Ich wurde enttäuscht von Fachleuten, die das
Ich widersprach ihren Erfahrungen, wonach es mich so nicht geben durfte. Es störte mich sehr, dass ich mich eigentlich gar nicht individuell zu erklären brauchte. Es war doch eh alles klar. Ihr kurzer individueller Blick diente nur der Suche nach Rechtfertigungsmaterial für die Plausibilität von Modellen. Es fehlte nur noch meine kooperative Mitarbeit in einem anerkannten Prinzip.
Ich hoffe, dass mein Beispiel Anlass gibt für eine umfassendere und individuellere Sicht, die es erlaubt den Blick auf maßgeschneiderte Techniken für ein Leben mit oder ohne Alkohol zu lenken. Ich würde mich so mehr verstanden fühlen, und Gutachter könnten so die Qualität von Prognosen verbessern. Langfristige Vorhersagen ohne vollständige Datensätze sind unmöglich.
Mein Beispiel soll zeigen, was die Konsequenzen sein können, wenn der Alkoholismus noch gar nicht weit fortgeschritten ist, wenn die Dinge sich nahezu unmerklich verändern und die einst so perfekte Kontrolle aufgeweicht wird, der Glaube an die gewohnt, perfekte Kontrolle aber bestehen bleibt. Der Fortschritt ist so schleichend, dass Alkoholismus als Krankheit nicht wahrgenommen wird. Jegliche Kritik zu häufig zu trinken, wird deshalb brüsk abgetan. So wird das Leugnen von Suchtverhalten zur Selbstverständlichkeit und damit Teil der Krankheit. Das bittere Erwachen soll nicht kommen, nachdem sich der Spaß zu trinken als Zwang enttarnt hat. Wer regelmäßig trinkt. Wer trinkt, um sich zu entspannen oder wer sich Mut antrinkt um beispielsweise eine attraktive Frau anzusprechen, der instrumentalisiert Alkohol. Genau hier beginnt der Missbrauch.
Wem es gelingt, früh das Ruder rumzureißen, weil man noch alkoholfreie Leidenschaften zu schätzen weiß, hat leichtes Spiel. Wenn Alkohol erst mal seine Spuren ins Gehirn gebrannt hat, wird es ein lebenslanger Kampf. Meine Erzählung soll ein Plädoyer sein für die frühe Intervention. Auch das ist ein Grund, der das Nichttrinken leicht macht.
Mit Alkoholismus verhält es sich so ähnlich wie mit der anderen großen Volkskrankheit Diabetes. Der tut auch nicht weh. Im Gegenteil, lecker essen tut gut. Problematisch werden erst die Folgeerkrankungen, wenn die langsam gewachsene Insulinresistenz durchschlägt. Amputationen, Blindheit und Tod sind dann das natürliche Ergebnis für den Typ-2 Diabetiker, so wie das Leberversagen für den Alkoholiker.
Kann man überhaupt krank sein, ohne sich krank zu fühlen? Mir ging es doch blendend und an Tagen ohne Alkohol sogar noch blendender. Deswegen bevorzugte ich doch ganz überwiegend die drogenfreien Kicks. Da kann man doch zwischendurch mal mit Alkohol ein wenig pausieren. Es war mir unvorstellbar, dass man aktive Erlebnisse, die einem vollkommene Wachheit in jedem Detail schenkten, mit Alkohol toppen kann. Wenn ich zum Fallschirmspringen ging, waren meine Sinne so ausgelastet, das es unmöglich gewesen wäre, das Ereignis mit zusätzlichem Alkohol zu steigern. Alkohol lässt jedes großartige Gefühl kollabieren. Eine große Versuchung konnte Alkohol so nicht werden. Das aktive Tun ist immer mitreißender als bloßes Träumen. Zählen tut letztlich nur die Tat und die Erinnerung danach, die bei großartigen Abenteuern ein Leben lang andauern kann.
Wenn ich auf einen Gipfel will, zählt nur der Fuß, den ich darauf setze. Das machte mir Alkoholtage zu abgezählten Tagen. Das machte jede Flasche Wein vor dem Fernseher zu einer hinhaltenden Maßnahme. Das Trinken fütterte nur den Traum vom Glück. Finden kann man den erst nach dem Rausch.
Echte Glückseligkeit ist mir immer das Glück in Freiheit von allem, inklusive psychogener Substanzen wie Alkohol. Das erst macht Freiheit unbeschwert und unabhängig. Das ist mir das wichtigste im Leben, diese wache Freiheit, die bis in die Fingerspitzen sensibilisiert – ganz pur. Erst im Bewusstsein dieser Freiheit aller meiner Sinne zeigen die Zwischentöne meiner Wahrnehmung ihre Farben.
Wieder und wieder sollte ich erklären, wie ich mit typischen Alkoholiker-Situationen umging. Schon die Vorstellung solcher Situationen weckte Widerwillen. Besoffene berufliche Situationen gab es nicht. Fehltage waren so tabu wie jedes andere unentschuldigte Verhalten. Es konnte sie nicht geben, wenn ich mich dafür zuvor aufgeben musste. Und hätten sie angestanden, hätte es zuvor eine Krankmeldung gegeben. Ich kann doch nicht dem Arbeitgeber aufbürden, was nur ich zu verantworten habe. Da muss man doch registrieren, dass man selbst die Ursache für den herbeigeführten Zustand ist. Anders kann ich mich nicht verhalten, weil es an meinem Selbstverständnis rütteln würde. Es wäre ein Angriff auf meine psychische Homöostase, in der ich ruhe. Dies ist ein entscheidender Punkt in der Kommunikation mit mir selbst.
Mich machte diese Einstellung noch unglaubwürdiger. Deswegen wage ich als Laie gegenüber den Experten zu bedenken zu geben, dass Unglaubwürdigkeit immer auch eine Frage der Perspektive und der begrenzten Erfahrung ist. Wie sagt man landläufig dazu in Norddeutschland „Wat de Bur net kennt, dat fret hej net"
Also begegnete meine Wahrheit nicht nur ungläubigem Staunen, sondern vor allem konsequenter Ablehnung. So lief das hier aber nicht. Es gab nur zwei Möglichkeiten. Entweder ich stimmte zu, oder ich akzeptierte den Vorwurf einer Unschuldsfantasie. Wo konnte ich reklamieren, wo mir doch jegliche pubertäre Prägung durch Alkohol fehlte? Gerade mein Ehrgeiz im Sport, der mich damals wie heute begleitet und Erlebnisse schenkte, die für Alkohol unerreichbar waren, machte es mir mental unmöglich an ein sinnloses, weil dauerhaft passives, Leben im Rausch zu denken.
So überraschte mich meine Entscheidung natürlich nicht, als sich nach meiner ersten Trinkphase die Chance auf ein Sektfrühstück ergab und ich sie nicht nutzte. Nein, ich mochte nicht trinken. Dabei hatte ich es mir oft genau für diesen Moment ausgemalt und auch vorgenommen. Nie passte es. Aber diesmal hatte ich frei. Es war ein Sonntag. Die Arbeit ruhte. Ich war auf einer Geschäftsreise und während ich unentschlossen vor dem Fenster meines Hotelzimmers stand und die Aussicht über die Metropole genoss, wägte ich zwei Möglichkeiten ab. Entweder mache ich ein Sektfrühstück mit Rollmops, Klavier und Champagner und setzte das Frühstück zum Brunch an der Minibar meines Hotelzimmers fort, um später erholsamen Schlaf im bereitstehenden Bett zu finden. So wäre ich am Montag katerfrei und ausgeruht. Oder ich schaute mir diese von Reiseführern wärmstens empfohlene Stadt näher an.
Und genau letzteres habe ich gemacht. Dabei war der Gedanke einmal ein Sektfrühstück zu erleben, sehr alt. Schon das erste Mal, als ich für eine Firma auf einer Dienstreise war und in einem sogenannten Grand-Hotel wohnte, war mir beim morgendlichen Frühstück der Gedanke gekommen, so etwas mal zu machen, halt irgendwann, wenn es sich mal so ergibt. Es ergab sich aber nie, weil es auf beruflich veranlassten Reisen immer so viel zu tun gab. Geschäftsreisen sind teuer, gerade deswegen konzentrieren sich die Arbeiten auf ein möglichst kleines, intensiv genutztes Zeitfenster. Da bleibt nur Zeit für offizielles Vergnügen. Und das endet bei einem Vertragsabschluss mit einem abgezählten Glas Prosecco. Contenance war dann angesagt. Trotzdem war mir an diesem freien Sonntag die Chance, mich gehen zu lassen, keine Versuchung.
Warum ich keine Chance hatte, das Sektfrühstück zu wählen, erklärt nicht nur mein Verstand, sondern auch gewachsene Intuition, die jeder lernen kann. Dazu lade ich herzlich ein. Meine fast einjährige Trinkerfahrung, mehrere Therapien und drei MPU’s bieten reichlich Raum zum Lernen und für Kritik.
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