Denk' nach, Harry: Mein Weg aus dem Sumpf der Alkoholsucht
Von Harald Uhl
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Über dieses E-Book
Harald Uhl
Da hatte ich wohl meine Finger Ich hätte niemals mit all dem gerechnet, was folgte, als 2007 mein Buch „Out of Sonnenschein – Was im Altenheim geschieht und was geschehen könnte“ auf den Markt kam. Es schien damals, als hätte ich mit meinen geäußerten Gedanken und Überlegungen in zahlreiche und nicht nur in ein Wespennest gestochen. Die sehr heftigen Reaktionen auf das Buch verstehe ich bis heute noch nicht. Soviel gibt das kleine Büchlein mit gerade einmal 142 Seiten gar nicht her – so dachte ich jedenfalls! zu tief in so manche Wunde gelegt. „Getroffene Hund bellen“, heißt es im Volksmund. Vielleicht lag es ja daran. Mein Ziel aber, die Menschen in der Pflege, besser gesagt alle Interessierten und diejenigen, die in irgendeiner Art und Weise mit der Pflege zu tun haben, vorwiegend also Pflegekräfte, Therapeuten aller Art usw., anzuregen, über die Gesamtsituation und deren Auswirkungen auf alle Betroffenen nachzudenken, habe ich verfehlt. Das muss ich zu meinem Bedauern leider zugeben. Blauäugig wie ich war, hatte ich mit Offenheit und Kritikfähigkeit gerechnet, wo nie eine war (und wohl auch nie eine sein wird). Anstatt sich mit den aufgezeigten Problemen konstruktiv auseinanderzusetzen, wurde eine Verteidigungshaltung eingenommen und zum Gegenangriff auf den Nestbeschmutzer – nämlich mich – aufgerufen. Ich habe jetzt – nachdem mehr als 15 Jahre seit dem Erscheinen von „Out of Sonnenschein“ vergangen sind - das Buch überarbeitet, weil mich die Entwicklung in der Altenpflege von damals bis zu meinem Eintritt in das Rentnerdasein interessierte. - Ich weigere mich zu gendern! D.h. ich benutze immer nur eine Geschlechtsform. Alles Andere würde den Lesefluss stören. Trotzdem drücke ich in aller Deutlichkeit meine Achtung vor jeglicher geschlechtlicher Orientierung aus und diskriminiere niemanden deswegen. Diejenigen, die meinen, sie müssten sich unbedingt diskriminiert fühlen … meinetwegen. Sie diskriminieren damit nur sich selbst und scheinen es gar nicht einmal zu merken.
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Buchvorschau
Denk' nach, Harry - Harald Uhl
Danksagung
Vielen Dank an alle Menschen, die mich mit herzlichen Gedanken, Worten und Werken auf meinem Weg begleitet haben und immer noch mit mir gehen.
Besonderen Dank an Silvia, der Liebe meines Lebens, weil sie mir ein Nest gegeben hat und mich trotz all meiner „Spinnereien" versteht und mir den Rücken freihält.
Danke Euch allen!
Ein paar Worte vorweg
Solange ich mich zurückerinnern kann, war es mir immer leichter gefallen, meine Gedanken niederzuschreiben und mich so damit auseinander zu setzen, als mich in direktem Gespräch mit einem anderen Menschen zu unterhalten.
Aus diesem Grunde hatte das Schreiben für mich als Freizeitbeschäftigung, die ich auch schon während meiner „nassen" Zeit gepflegt hatte, eine große Bedeutung.
Ob Gedichte, Erzählungen, Kurzgeschichten…, vieles, was mir durch den Kopf ging, musste ich niederschreiben und war dann immer wieder fasziniert, wenn ich später einmal las, was ich zu Papier gebracht hatte.
In meiner Jugendzeit hatte ich mehrere Tagebücher geschrieben, was seither aber nie mehr konsequent genug gewesen, dies trotz so mancher guter Vorsätze bis zum heutigen Tage fortzusetzen.
Vielleicht hätte ich so die Gelegenheit gehabt, meine Entwicklung zum Alkoholiker zurück zu verfolgen; ein interessanter Gedanke: gemeinsam mit einem Therapeuten die eigenen Tagebücher durchzukauen!
Für diese Aufzeichnungen spürte ich den Druck, meinen Kampf um die Abstinenz schriftlich festzuhalten, um mir immer wieder vor Augen führen zu können, wie schwer es war, aus dem Sumpf der Alkoholsucht auszusteigen.
Die Tagebücher sollten einer meiner Rückhalte werden und mir in Krisenzeiten Kraft geben, abstinent zu bleiben.
Immer dann, wenn der „Saufdruck" kommen sollte, wollte ich darin nachlesen, wie hart die sechs Monate der Therapie für mich waren. All die schmerzhaften Erfahrungen und die Erinnerungen daran sollten mich vor einem möglichen Rückfall bewahren.
Ein weiteres Motiv:
vielleicht kann ich dem einen oder anderen ein klein wenig helfen, wenn ich durch die Veröffentlichung meiner Aufzeichnungen auch anderen Betroffenen die Möglichkeit biete, sich von einer Langzeittherapie ein Bild zu machen.
In der Vergangenheit habe ich zahlreiche, zu viele, Alkoholiker kennen gelernt, die sich nicht für eine stationäre Entwöhnung entscheiden konnten, weil sie einfach zu wenig aufgeklärt waren über das, was sie erwartet.
Ich will mit diesem Buch nichts verharmlosen und nichts verniedlichen, sondern nur aufzeigen, was ich persönlich bei meiner Therapie erlebt habe und wie ich es empfunden habe.
Alle Namen, auch den der Einrichtung, habe ich im Interesse aller Betroffenen geändert.
Sie spielen für den Gesamtzusammenhang keine wesentliche Rolle.
Der Ausstieg
Ich war damals 36 Jahre alt und arbeitete als Altenpfleger in Dauernachtwache in einem Pflegeheim.
Die Nachtarbeit, so eine meiner zahlreichen Ausreden, ermöglichte mir, viel Freizeit mit meinen drei Söhnen und meiner Frau zu verbringen. Doch die hatten sich bereits nach und nach immer mehr von mir distanziert, so dass mein Leben immer langweiliger wurde, weil ich mit mir selbst nicht mehr zurechtkam.
So auch an jenem Abend im Dezember.
Wie es schien, bestand die einzige Gemeinsamkeit, die von unserem Eheleben übriggeblieben war, nur noch aus der gemeinsamen, parallelen Blickrichtung zum Fernsehgerät.
Bis dahin war ich immer der Meinung gewesen, es sei nur ein partnerschaftlicher „Durchhänger", wie er sich überall nach einigen Jahren Ehe einschleicht, besser gesagt, ich hatte es mir jedenfalls immer wieder selbst eingeredet. Trotzdem wurde mir die Barriere, die sich zwischen Jutta, meiner Frau, und mir immer mehr aufgebaut hatte, immer deutlicher.
Ich hatte nach allerlei Lösungen gesucht, wie wir unser Zusammenleben wieder ein wenig auffrischen konnten, übersah dabei aber stets, dass ich selbst in eine Scheinwelt aus Ausreden und Alibis hineingerutscht war.
„Lass´ uns zu Bett gehen!" forderte ich Jutta träge auf und erwartete darauf ihr gewohnt unbeteiligtes Nicken als Antwort.
Diesmal sah sie mich jedoch nur lange an; durchdringend, fragend.
Dieser Blick machte mir Angst!
„Einen Augenblick noch…", raunte sie und holte aus einem anderen Zimmer einen großen, dicken Briefumschlag herbei.
„Hier lies das!" bat sie mich und streckte ihn mir entgegen.
„Ich kann auch rausgehen, wenn du das willst. Lies bitte sorgfältig, und wenn dir danach ist, können wir darüber reden."
Gespannt fischte ich den Inhalt heraus.
„Sie wird sich doch nicht etwa von mir trennen wollen! Der Anwalt steckt vielleicht dahinter…!" schoss es mir durch den Kopf.
Aufgeregt entfaltete ich die Schriftstücke.
Anonyme Alkoholiker, Fragenkatalog nach Jellinek…
„Gottlob keine Scheidung!"
Je mehr ich aber in den Unterlagen blätterte und deren Inhalt überflog, desto stärker wurde meine Beklemmung. Immer wieder las ich nach.
Mein Herz begann zu hämmern, dass ich meinte, man könne meinen Pulsschlag an der Halsschlagader sehen; meine Hände wurden schweißnass, und ich begann unmäßig zu zittern.
„Willst du mit mir reden?" fragte Jutta ernst.
Ich konnte in diesem Moment keine Antwort geben, weil ich das Gelesene erst verdauen musste. Die Gedanken wirbelten mir wirr durcheinander, dass ich sie so schnell gar nicht ordnen konnte.
„So ernst hat sie unsere Ehekrise genommen, dass sie daraus sogar den Rückschluss zieht, ich sei Alkoholiker und trage deshalb alleine an unseren Problemen die Schuld…"
Sofort aber begann meine Abwehrmaschinerie auf Hochtouren zu arbeiten: „Die paar Bierchen…, zugegeben, ab und zu hab´ ich schon mal über die Stränge geschlagen, aber das macht doch jeder mal Außerdem habe ich so gut wie nie harte Sachen gekippt. Dieser Zirkus wegen Bier! Andere trinken noch viel mehr als ich, und bei denen käme niemand auf den Gedanken, dass sie alkoholkrank seien. Für andere hat Jutta sowieso immer mehr Verständnis…! Aber wie lange ist es eigentlich her, dass ich…, dass ich einen ganzen Tag ohne Alkohol ausgekommen bin?
In meiner Verwirrung ging ich noch mal den Fragenkatalog durch:
• Haben oder hatten Sie in der letzten Zeit häufig Gedächtnislücken?
• Trinken Sie heimlich?
• Denken Sie dauernd an Alkohol?
• Trinken Sie die ersten Gläser sehr hastig?
und so fort…
So ehrlich, wie ich konnte, versuchte ich in Gedanken jede zu beantworten.
Als ich am Ende angekommen war, stand dort der drohende Hinweis:
„SOLLTEN SIE FÜNF ODER MEHR FRAGEN MIT JA BEANTWORTET HABEN, BESTEHT DIE WAHRSCHEIN-LICHKEIT, DASS SIE ALKOHOLIKER SIND!"
Ich versuchte es noch mal, dann noch einmal, aber je öfter ich die Fragen durchging, desto öfter musste ich mit „ja" antworten, und es waren gewiss mehr als fünf!
Nun verlor ich meine Fassung, und es kamen mir die Tränen.
Ich sah alles, was mir bis zu diesem Zeitpunkt sehr wertvoll gewesen war, auf einmal verloren.
Völlig abwesend schlich ich mich ins Bett.
Jutta kam kurz darauf zu mir. Als sie sich neben mich gelegt hatte und sah, dass ich nur leer an die Decke stierte, fragte sie: „Willst du mit jemandem reden, der selbst trockener Alkoholiker ist?"
Ich nickte stumm.
„Weißt du, woher ich diese Unterlagen habe?"
Ich schwieg.
„Ich frage dich noch mal: willst du dir helfen lassen und mit einem Alkoholiker reden?"
Wieder sagte ich nichts und nickte nur stumm.
„Ganz ehrlich? Nicht nur, um mich zu besänftigen?" bohrte meine Frau weiter.
„Ja – bitte ja! Ich will da raus!"
Nun begann Jutta zu erzählen. Ich hörte ihr aufmerksam zu.
„Ich habe dir nun lange genug zugesehen. Ich kann jetzt nicht mehr. Du hast dich immer mehr von den Kindern und mir zurückgezogen und dich von uns entfremdet. In meiner Verzweiflung habe ich mit Jochen gesprochen. Dabei hat er mir gestanden, dass er selbst Betroffener ist und erklärte sich bereit, dir zu helfen. Er sagte mir aber auch, dass es wenig Sinn hätte, wenn du dir deine Alkoholkrankheit nicht selbst eingestehst und den ersten Schritt zu machen bereit bist! Willst du wirklich mit ihm reden?"
„Vielleicht hast du ja recht, und ich bin wirklich Alkoholiker…"
„Nicht vielleicht! Du bist!" konterte sie bestimmt.
„Gut, ich werde mit Jochen reden." Jetzt erfasste mich plötzlich ein eigenartiger Drang, die Flucht nach vorn anzutreten.
„Warum willst du mit ihm reden?" dämpfte mich meine Frau jedoch gleich wieder.
„Wegen euch natürlich! Ich will euch doch nicht verlieren, will alles, soweit es mir möglich ist, wieder gutmachen, damit wir wieder eine glückliche Familie sein können."
Ich war durcheinander. Was sollte diese Fragerei?
„Falsch! Du musst es nur für dich allein tun! Nur für dich!"
Nun verstand ich gar nichts mehr. Ich war bereit, für meine Frau und meine Söhne durch die Hölle des Entzugs zu gehen, und trotzdem sollte ich meinen ganzen Lebensinhalt außer Acht lassen?
„Ruf ihn an!" flüsterte Jutta, die meine Verwirrung bemerkte.
Es fiel mir schwer, mich auf die Tasten des Telefons zu konzentrieren, war ich doch voller wirrer Gedankenfetzen.
Schließlich erreichte ich Jochens Frau. Jochen selbst hatte gerade Nachtdienst. Also bat ich darum, er möge mich doch am nächsten Tag unbedingt zurückrufen.
Zu diesem Zeitpunkt war es drei Uhr nachts!
Etwas enttäuscht, dass ich nicht gleich mehr erreichen konnte, versuchte ich danach einzuschlafen.
Aber es wurde für mich eine schlaflose, von selbstzermürbenden Gedanken geprägte Nacht.
*
Irgendwie war ich froh, dass Jutta am nächsten Morgen zu ihrer Schwester fuhr und die Kinder mitnahm.
Als sie davonfuhren, winkte ich ihnen nicht hinterher, sondern verkroch mich gleich zurück in die Wohnung und suchte mir Arbeit.
Ich war hin- und hergerissen; einerseits wollte ich allein mit meiner Krankheit und meinem Selbstmitleid sein, andererseits hatte ich doch furchtbare Angst vor der Einsamkeit.
Fast zwanghaft beschäftigte ich mich, versorgte die Pflanzen, rannte mit dem Staubsauger über die Auslegewaren aller Zimmer, scheuerte Böden, putzte die Küche sauber, bis alle glatten Flächen spiegelten, mistete das Kaninchen von meinem ältesten Sohn Jörg… und weinte!
Immer wieder erschien ein Bild vor meinen Augen:
Jutta mit den Kindern an der Hand sehen mir traurig und ratlos hinterher, wie ich eine Entzugsanstalt betrete und mich nicht einmal mehr umdrehe, weil ich sie mit meinen Abschiedstränen nicht noch mehr bedrücken will.
Je öfter mir dieses Bild in Gedanken kam, umso quälender empfand ich meine augenblickliche Situation.
„Da musst du durch, willst du dein Leben wieder in den Griff bekommen", versuchte ich mir immer wieder selbst Mut zu machen.
Bei jedem Ringen des Telefons stürzte ich erwartungsvoll zum Apparat, wurde aber immer wieder enttäuscht.
Jochen rief nicht an!
Noch nicht!
Langsam wurde ich ungeduldig. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er mich vergessen hatte, weil ich Jochen als äußerst zuverlässigen Menschen kannte.
Aber warum rief er nicht an?
Die Stunden vergingen; es wurde Abend.
Allmählich glaubte ich nicht mehr an Hilfe von außen.
Außerdem war ich viel zu stolz, noch einmal bei Jochen anzurufen.
„Bin ich denn ein Bettler, ein Almosenempfänger? Alkoholiker vielleicht, aber so tief bin ich noch nicht gesunken, dass ich zweimal um etwas bitte", dachte ich verbittert und merkte, wie aus meiner Enttäuschung nach und nach Wut wurde.
Endlich kam der erwartete Anruf von Jochen!
Er fragte scheinheilig, warum ich denn so dringend um einen Rückruf gebeten habe.
„Du weißt doch, welches Problem ich habe. Hast dich ja schon mit Jutta darüber unterhalten. Ich will mit dir reden. Wann können wir uns treffen?"
Er nannte mir einen Termin und beschrieb mir den Weg zu unserem Treffpunkt.
„Und wie geht´s dir jetzt?" fragte er eindringlich.
„Ich weiß im Moment nicht, wo mir der Kopf steht. Ich kenn mich überhaupt nicht mehr aus, weiß gar nicht mehr, was Sache ist…", antwortete ich.
„Gut, mein Freund! Rattert´s anständig in deinem Kasten? Ich weiß Bescheid; hab alles schon hinter mir; hab dem Teufel auch schon zweimal die Hand gegeben – aber darüber reden wir morgen ausführlicher…"
Wie befreit von einer großen Last, hängte ich den Hörer ein. Da gab es doch tatsächlich jemanden, der mich mit all meinen Fehlern, mit all meinen Macken und Eigenheiten zu verstehen schien und mir helfen wollte, obwohl ich ihm nichts vormachen konnte und er mich durchschaute.
In diesem Augenblick fühlte ich mich besser und spürte eine unglaubliche Kraft, einen unbeschreiblichen Lebenswillen in mir wachsen und überstand so meinen ersten Tag ohne einen Schluck Alkohol!
*
Trotz der Erleichterung nach Jochens Anruf hatte ich sehr schlecht geschlafen.
Ständig war ich aufgewacht, weil ich fror, aber gleichzeitig schwitzte und meine Kehle völlig ausgetrocknet war.
Ich stand deshalb schon sehr früh auf, fühlte mich schlapp und zitterte am ganzen Körper. Meine Gliederschmerzen, der Schüttelfrost und das Fieber wurden so stark, dass ich mich schon bald wieder auf die Wohnzimmercouch niederlegen musste. Sogar die Haare schienen mir jetzt weh zu tun!
Ich deckte mich mit einer dicken Wolldecke zu, und immer, wenn ich gerade mal nicht vor Kälte bibberte, übermannte mich die Müdigkeit.
Sollten sich heute, an meinem zweiten Tag ohne Sprit, doch Entzugserscheinungen bemerkbar machen?
Wenn ja, wäre das der endgültige Beweis für meine Krankheit, an der ich immer noch meine geheimen Zweifel hatte.
Es war mir egal.
Trotz des erbärmlichen körperlichen Zustandes war ich geradezu euphorisch, weil ich scheinbar doch fähig gewesen war, mich mit dem Problem Alkoholismus wenigstens auseinander zu setzen.
Außerdem wartete das Gespräch mit Jochen an diesem Abend auf mich, und ich war schon sehr gespannt darauf.
Den ganzen Tag verbrachte ich auf dem Sofa vor dem Fernsehgerät und versuchte immer wieder vergeblich, ein wenig zu schlafen, bis Jutta am Spätnachmittag mit den Kindern zurückkam.
Meine Gliederschmerzen wurden immer stärker. Jetzt kamen auch noch fürchterliche Bauchkrämpfe hinzu. Schließlich musste ich mich mehrmals übergeben und bekam auch noch Durchfall zu meinen Beschwerden dazu.
Ich aß nichts mehr und konnte so meiner Übelkeit ein wenig Herr werden. Das einzige, was ich mir nicht nehmen ließ, war Kaffee; der tat mir paradoxer Weise gut und blieb in meinem Bauch.
Am Abend wollte ich auf den Beinen sein. Ich musste unter allen Umständen mit Jochen reden.
Die Müdigkeit ließ mich dann doch noch für einige Zeit einnicken. Ich fühlte mich danach ein bisschen erholter und machte mich etwas entspannter auf den Weg zu meinem Gespräch.
Jochen bot mir einen Stuhl in seinem Wachhäuschen (er arbeitete beim Werksschutz im Nachtdienst), legte ein paar Bücher vor mich auf den Tische und verschwand im Nebenraum, um Kaffee zu kochen.
„Die kannst du dir bei Gelegenheit zu Gemüte führen. Glaub´ mir, ich kenne das Gefühl, wenn man anscheinend von niemandem mehr mit seinen Problemen verstanden wird. Du steckst zwar noch nicht ganz so tief im Dreck, aber es ist für dich bestimmt ganz hilfreich, wenn du liest, wie sich der Alkohol auf einen Menschen auswirken kann und was er auch aus dir machen wird, wenn du nicht die Finger davon lässt", erklärte er mir.
Ich überflog die Inhaltsangaben und Kommentare einiger Bücher. Sie beschrieben Fallbeispiele einzelner Alkoholiker, zum Teil von Betroffenen selbst geschrieben; andere zeigten Hilfsprogramme verschiedener Selbsthilfegruppen auf.
Wir redeten dann über belanglose Themen, wobei mir mein Gegenüber aufmerksam zuhörte.
Ich hatte das schon lange nicht mehr erlebt, dass ich ohne Zwischenrede sprechen durfte; es verwirrte und verunsicherte mich ein wenig.
Plötzlich, als ich gerade an meiner Tasse nippte, bemerkte Jochen ruhig: „Versuch´s ein wenig einzuschränken; ich meine das Rauchen! Nur ein paar Zigaretten weniger."
Er hatte mich während unseres Gespräches genau beobachtet.
Mir selbst war dabei gar nicht bewusst geworden, dass ich mir einen Glimmstängel nach dem anderen angesteckt hatte.
Jochen erzählte nun von seiner „nassen" Zeit, seinen ersten Kontakten mit Alkohol, den ersten Räuschen, den ersten Filmrissen, vom Zerbrechen seiner Ehe…
„…als ich dann wieder heiratete, dachte ich, dass dies meine Rettung sei. Ich meinte, dass ich von da an wieder fähig sei, in einem vernünftigen Rahmen mit Alkohol wieder umgehen zu können. Doch das war der typische Irrtum, dem jeder Alki immer wieder unterliegen kann, weil er nicht imstande ist, sich selbst einzugestehen, dass Alkoholismus nicht heilbar ist! Einmal Alki – immer Alki! Die erste Ehe meiner Ex-Frau war wegen ihres damaligen ebenfalls alkoholkranken Mannes schon zu Bruch gegangen und sie wusste deshalb genau, wie sie mit mir umzugehen hatte. Allerdings nicht auf die hilfreiche Tour!"
Er machte eine kurze Pause, überlegte, trank einen Schluck und fuhr fort: „ … und dann hatte ich mich auch noch an den falschen Betreuer gewandt. Dieser Weiberheld hat die Gelegenheit sofort dazu benutzt, meine Frau anzubaggern und machte dann mit ihr gemeinsame Sache gegen mich.. Eines Tages kam ich früher als von ihnen erwartet nach Hause und konnte sie bei ihren Plänen belauschen. Die wollten mich so weit bringen, dass ich durchdrehe und irgendeinen Blödsinn mache, damit sie mich dann in eine Klappsmühle abschieben konnten. Wahrscheinlich haben sie gar nicht bemerkt, dass ich Zeuge ihres Gesprächs war. Egal! Jedenfalls marschierte ich darauf gleich in den nächsten Laden und kaufte mir eine Flasche Weinbrand und eine Flasche Whisky. Bis ich dann im Stadtpark angekommen war, hatte ich den Cognac schon ausgesoffen. Und je mehr der Rausch in mir hochstieg, desto deprimierter wurde ich. Ich habe dann achtzig Schlaftabletten in dem Whisky aufgelöst und die Pulle dann auch noch ausgetrunken. – Wie lange ich dort gelegen habe und wer mich gefunden hat, weiß ich bis heute nicht, nur noch, wie ich riesige Spinnen und anderes Ungeziefer über meine Bettdecke krabbeln sah, als ich im Krankenhaus nach dreitägiger Bewusstlosigkeit wieder aufwachte."
Er hob den Kopf und sah mir direkt in die Augen.
„Seit diesem Tag, mein Lieber, bin ich trocken. Doch zuvor musste ich eben durch die Hölle gehen!"
Er goss Kaffee nach und lehnte sich bequem zurück.
„Auch du wirst an den Pforten zur Hölle stehen, aber danach wirst du es vielleicht geschafft haben. Es liegt nur an dir. Du musst dir eingestehen, dass du Alkoholiker bist, dass du ohne Hilfe nicht mehr von diesem Teufelszeug loskommst! Du wirst jede Hilfe, die du brauchst, bekommen. Es wäre allerdings alles vergebens, wenn du selbst nicht bereit bist, diese Hilfe anzunehmen. Verstehst du? Du – nur du musst es wollen!"
„Ja! Ich will es! Unbedingt! Egal, was auf mich zukommt. Mir bleibt doch nur die Flucht nach vorn!"
Jochen schüttelte den Kopf: „Dir stehen zwei Möglichkeiten offen. Entweder du entschließt dich zu einer Langzeittherapie und hast damit gute Chancen, dein Leben wieder in geordnete Bahnen zu lenken, oder du säufst weiter und wirst, nachdem du alles verloren hast, gnadenlos in der Gosse verrecken. Wenn du dir diese beiden Alternativen vor Augen hältst, wird dir die Entscheidung leichter fallen."
Ich stimmte zögernd zu.
Einerseits war ich scheinbar voller Elan, den Entzug zu verkraften, andrerseits schreckte mich die Vorstellung ab, ein halbes Jahr von meiner Familie getrennt zu sein.
Ein flüchtiger Blick durch das Fenster auf die Uhr im Hof verriet mir, dass es kurz vor Mitternacht war. Die Zeit war bis jetzt wie im Fluge vergangen.
Eigentlich hatte nur Jochen von sich erzählt, ohne dass die Sprache überhaupt direkt auf mein Problem gefallen war. Ich wusste nach vier Stunden Gespräch immer noch nicht, wie ich weiterleben sollte.
Aber es beunruhigte mich nicht mehr.
Allein die Tatsache, dass ich nicht einsam einer Schwierigkeit gegenüberstand, der ich nicht gewachsen war, gab mir Sicherheit und ließ mich meine Ängste vergessen.
„Wie geht´s jetzt mit mir weiter?" fragte ich neugierig, als Jochen mit frischem Kaffee wiederkam.
„Im Augenblick ist für dich das Wichtigste, trocken zu bleiben. Immer nur 24 Stunden lang. Für dich darf nur noch der heutige Tag zählen. Was gestern war, was morgen geschehen wird, darf dich nicht interessieren und damit unter Umständen deine Gedanken lähmen. Klar?"
Ich hatte Mühe, mich darauf einzustellen. Die Vorstellung, meine Vergangenheit und meine Zukunft nicht in meine Gedankenwelt einzubeziehen, fiel mir schwer.
Aber ich war bereit, es zu versuchen.
Jochen fuhr fort: „Jetzt ist es auch wichtig, dass du dich von deiner Familie löst. Sei dir bewusst, dass es keine Garantie dafür gibt, dass deine Familienverhältnisse wieder ins Lot kommen werden, selbst wenn du erfolgreich Therapie machst. Denke nur an dich! Du musst den Kopf frei haben für das, was dich erwartet!"
„Das wird mir verdammt schwerfallen. Meine Familie ist doch mein Lebensinhalt. Ich habe Angst, sie zu verlieren", stotterte ich.
„Du bist schon raus! Bist schon weg von deiner Frau und deinen Kindern. Deine Sauferei hat bereits einen Keil zwischen euch getrieben! konterte Jochen und sagte weiter: „Erst einmal der Reihe nach. Ich schlage dir eine baldige Entgiftung vor. Damit wärst du erst einmal deinen körperlichen Entzug los. Du musst außerdem deinen Arbeitgeber über deine Krankheit informieren, und rechne dabei mit dem Schlimmsten, auch wenn für Alkis ein gewisser Arbeitsschutz besteht. Nach der Entgiftung wirst du dich dann bei der Psycho-sozialen Beratungsstelle um einen Therapieplatz bewerben. Ich helfe dir gerne dabei…
Jochen öffnete seine Aktentasche und nahm einige Formulare heraus.
„Ich habe einen Fragebogen dabei, den wir ausfüllen werden und damit die Beratungsstelle schon vorab über deine Trinkerkarriere informieren können. Wenn du einverstanden bist, machen wir uns gleich ans Werk."
Er legte seine Schreibutensilien zurecht und begann das