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Blackfield: Die Erdlinge
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eBook593 Seiten8 Stunden

Blackfield: Die Erdlinge

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Über dieses E-Book

In Blackfield soll ein Wärmekraftwerk gebaut werden. Tief unter der Erde wohnen die Erdlinge, menschenähnliche Wesen, die sich davon bedroht fühlen.
Beim Bau des Kraftwerks wird der Squalator frei, ein Dämon, der zum Weiterleben Menschen aussaugen und "besetzen" muss. Die Sorgen der Erdlinge können entkräftet werden, der Squalator aber lässt sich nicht mehr einfangen.
Die 16-jährige Emma verliebt sich in den gleichaltrigen Philipp. Doch diese Liebe wird zerstört, als der Squalator ihn als Opfer wählt. Philipp stirbt, aber mit Rücksicht auf Emma verschwindet auch der Squalator.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum13. Okt. 2017
ISBN9783742734686
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    Buchvorschau

    Blackfield - Hans-Georg Schumann

    1. Wo ist der Ball?

    Diese Jungs kannten wohl nichts anderes, schon als Kinder wollten sie gegen einen Ball treten und ihn in ein Tor schießen. Als Mädchen verstand Emma das nicht, und inzwischen spielte sie nur noch mit ihrem Bruder Robert, wenn sie sich davon finanzielle oder andere Vorteile versprach. Notfalls eben auch Fußball. Nach den Regeln, die natürlich Robert aufgestellt hatte, gab es nur ein Tor auf dem Spielfeld, nämlich den Zwischenraum zwischen zwei Tannen im Garten. Und jeder von beiden musste abwechselnd Torwart oder Torschütze sein.

    An das kleine Haus, in dem früher die ganze Familie lebte, grenzte ein großflächiger Garten, der den Namen eigentlich nicht verdiente. Emmas Vater hatte ihn immer als »kleinen Urwald« bezeichnet. Emma fand, dass auch die Bezeichnung »wild« passte, im Sinne von Wildnis.

    Ihre Eltern hatten sich nie viel um die Pflege dieser Ansammlung von durcheinander wuchernden Pflanzen gekümmert. Sie ließen sie einfach wachsen. In der Mitte war eine größere Grasfläche, die nichts mit einem Rasen zu tun hatte, so wie ihn die Nachbarn in ihren Gärten jeden Samstag so gründlich pflegten.

    In diesem »Garten« wuchsen neben Gräsern auch wilde Blumen und eine Menge von dem, was die Nachbarn naserümpfend als Unkraut bezeichneten. Hier wurde nur selten gemäht. Wenn es mal wieder soweit war, dass der Wildwuchs die Terrasse erreicht hatte, lieh sich Emmas Vater eine Maschine von einer Firma, die auch Mähdrescher vermietete. Damit bekam man auch kniehohes Gras klein. Ein normaler Rasenmäher war da machtlos.

    Um diese Fläche herum gediehen allerlei Pflanzen, zahlreiche Sträucher und kleinere Bäume, aber auch immer wieder Blumen, inmitten von Disteln und Brennnesseln. Ein wahrer Dschungel, der aber Emma und Robert gefiel.

    Wie oft hatten andere Kinder neidische Bemerkungen gemacht, und waren gern zum Spielen gekommen. Man konnte dort richtige Abenteuer erleben. Als Emma noch ein Kind war, erfanden sie und andere Kinder immer wieder Geschichten mit den gefährlichsten Abenteuern.

    Damals war Emma noch zehn Jahre alt oder jünger. Da spielte sie noch gern mit dem Ball, ab und zu sogar Fußball. Später, als Emma dann älter wurde, befand sie, dass man als Mädchen nicht mehr spielt, vor allem keine Abenteuer, das war von da an mehr was für Jungs. Auch Fußball oder andere Arten von Sport, das alles war nun nichts mehr für sie.

    Spätestens mit Zwölf, so erinnerte sie sich, wurden ihr die Freundinnen immer wichtiger und ihr Bruder immer lästiger. Im Laufe der Zeit war er für Emma zu einem echten Quälgeist geworden. Die Jungs und die Mädchen, die vorher noch zusammen gespielt hatten, zogen sich jeweils in eigene Welten zurück, und auch Robert, ihr Bruder, fand eine Gruppe von Gleichgesinnten. Konflikte gab es nur, wenn andere Interessengruppen, zu denen auch die Erwachsenen zählten, Emmas Weg kreuzten, was manchmal unvermeidlich war.

    So setzten die Eltern ihr Grenzen, beschränkten ihren wachsenden Bedarf an Telefonnutzung und Geld, erlaubten ihr vieles nicht, was andere eigentlich durften. Doch alles in allem kam sie damit zurecht, nicht immer, ab und zu gab es deftige Krisen, oft auch mit ihrer Mutter. Aber meistens ließ es sich mit dieser zweigeteilten Familie irgendwie ganz gut leben.

    Als ihre Mutter auszog und Emma dann allein bei ihrem Vater zurückblieb, änderte sich einiges. Zuerst schien alles besser, denn es gab weniger Kontrollen, weil ihr Vater oft nicht zu Hause war. Doch mit der Zeit begann Emmas Mutter ihr zu fehlen, wie oft sehnte sie sich nach einem richtigen Streit mit Mama. Es war einfach anders, seit ihre Eltern sich wohl endgültig auseinandergelebt hatten.

    Und nun stand Emma im Garten, auf einer Fläche, die vor wenigen Tagen mal wieder gemäht worden war, und versuchte eher lustlos zu verhindern, dass Roberts Ball zwischen den beiden Tannen landete, die rechts und links hinter ihr aus dem Boden ragten.

    Glücklicherweise regte Robert sich nicht darüber auf, dass Emma eine so miserable Torhüterin war. Im Gegenteil: Er freute sich über jedes Tor, das er schoss, die Anzahl der Treffer musste inzwischen längst im zweistelligen Bereich sein. In dieser Höhe würde eine echte Fußballmannschaft nie gewinnen, so viel wusste Emma noch.

    Als Robert erneut zum Schuss ansetzte, hatte Emma sich vorgenommen, endlich einmal wieder den Ball zu halten. Die knallrote Kugel flog auf sie zu – sie griff danach und erwischte sie. »Hab ihn«, lachte Emma, als sie Roberts enttäuschtes Gesicht sah, das sich kurz darauf aber wieder aufhellte: »Aber nächstes Mal«, lachte er ihr zu, »wird das wieder ein Tor.«

    Diesmal wollte Robert offenbar einen besonders harten Schuss landen. Er nahm einen weiten Anlauf und trat zu, doch der Ball flog weit am Tor vorbei und landete irgendwo im Gestrüpp.

    »Ich war abgelenkt, daran war der schuld!«, rief Robert und zeigte in eine Richtung hinter Emma. Die drehte sich um, konnte aber niemanden sehen. »Eben war er noch da. Der sah so komisch aus, wie ein Alien.« »Klar«, meinte Emma, »und deshalb hast du danebengeschossen?« »Ja«, meinte Robert. »Blöde Ausrede«, lachte Emma, »Tatsache ist: Das war daneben.«

    Gemeinsam hielten sie nach dem Ball Ausschau. Weil ihr Vater auch eine größere Fläche hinter dem »Tor« gemäht hatte, ließ sich die rote Kugel bisher immer schnell wiederfinden. Doch diesmal konnten beide den Ball nicht entdecken. Er musste irgendwo weiter hinten verschwunden sein, ausgerechnet dort, wo das Gestrüpp besonders hoch und dicht war.

    »Ich habe keine Lust mehr zu suchen«, meinte Emma nach einiger Zeit, »warten wir auf Papa, der ist größer und wird ihn schon finden.« Doch Robert war stur, er wollte den Ball unbedingt jetzt wiederhaben. Und Emma wusste, dass Ärger mit Robert auch Ärger mit Papa bedeuten konnte. Und ihr Plan wäre gefährdet, nächste Woche mit Clara shoppen zu gehen.

    Also schaute sie sich weiter nach dem roten Ball um. Er musste doch irgendwo zu sehen sein. Nachdem eine Stunde vergangen war, gab endlich auch Robert weinend auf.

    »Lass uns erst mal ausruhen und später weiter schauen, ob wir ihn finden«, versuchte Emma ihren Bruder zu trösten. Der nickte und beide gingen ins Haus.

    Drin nutzte Emma die Pause, um erst einmal ausgiebig mit ihrer Freundin Clara zu telefonieren. Doch schon nach kurzer Zeit verlangte Robert nach ihr, ihm ging sein Ball nicht aus dem Kopf.

    »Wenn wir ihn nicht mehr finden«, meinte Emma, noch immer den Telefonhörer am Ohr, »kauft Papa dir bestimmt einen neuen.« Das hätte sie besser nicht sagen sollen, denn nun heulte Robert erneut los und Emma gab schließlich entnervt das Telefonieren auf.

    »Also gut«, sagte sie dann laut und wütend, »dann suchen wir eben weiter. Irgendwo muss das Scheißding doch sein!« »Mein Ball ist kein Scheißding!« Emma hatte keine Lust, darauf zu antworten.

    Nun musste sie erneut in diesen Dschungel aus verwachsenen Pflanzen. Glücklicherweise hatte sie ihre dicken Jeans an, denn außer Gebüsch und hohem Gras gab es dort auch Brennnesseln, Disteln und allerlei dorniges Gestrüpp.

    Eigentlich ließ sich dieser Ball doch leicht erkennen, er war rot und das ganze Pflanzenzeug war vorwiegend grün. »Weißt du denn ungefähr, in welche Richtung der Ball geflogen sein könnte?«, fragte Emma, in der Hoffnung, wenigstens eine Orientierungshilfe zu bekommen. Weinend schüttelte Robert den Kopf.

    Inzwischen waren sie an einer Stelle angekommen, an der sie noch nie gesucht hatten. So schien es Emma. Vielleicht war ja der Ball irgendwo zwischen diesen ganzen Brennnesseln, die hier überall dicht an dicht wuchsen? Und tatsächlich konnte sie plötzlich etwas Rotes sehen. Das war bestimmt Roberts heiß geliebter Ball.

    »Komm mal hierher!«, rief sie ihrem Bruder zu. Der ließ sich nicht zweimal bitten. »Das ist er«, kreischte Robert, als auch er das rote Etwas im Brennnesselmeer erkannte.

    »Warte, den müssen wir mit einem Stock rausholen«, hielt Emma ihren Bruder zurück, »oder noch besser: Ich nehme Papas Lederhandschuhe.«

    So schnell sie konnte, bahnte sie sich einen Weg zurück zum Haus, lief hinein und suchte dort nach den besagten Handschuhen. »Wo sind diese Dinger nur?«

    Es dauerte eine Weile, bis Emma sie gefunden hatte. Rasch streifte sie beide über und lief dann zurück zu der Stelle, an der sie das rote Etwas entdeckt hatten.

    Doch wo war Robert auf einmal? Emma erschrak: »Robert!«, rief sie und schaute sich um. »Hier«, hörte sie die Stimme ihres Bruders, »ich bin hier. Hier unten. Ich habe den Ball.«

    Nun musste sie nur noch herausfinden, von woher genau Roberts Stimme kam. Emma ging in die Richtung, in der sie ihren Bruder vermutete, mit erhobenen Armen, denn das Gestrüpp wurde immer dichter und wuchs an dieser Stelle weitaus höher als sonst. Es reichte ihr bereits weit über die Taille.

    Als sie Robert noch einmal rufen hörte, blieb sie stehen und wendete sich einer neuen Richtung zu. Woher kam das? Aufgeregt wollte sie losrennen, verlor aber plötzlich das Gleichgewicht, stürzte und landete mit dem Gesicht mitten in den brennenden Nesseln.

    Schnell raffte sie sich auf, ihr kamen die Tränen. Das tat weh. Dieser verdammte Kerl! Wäre er doch nur stehen geblieben und hätte auf sie gewartet!

    Einen Moment achtete sie nicht auf die Stimme von Robert. Sie spürte nur den brennenden Schmerz in ihrem Gesicht. Damit dürfte der ganze Tag gelaufen sein. Mit so einer Fratze konnte sie sich nicht unter andere Menschen wagen.

    »Wo ist der Blödmann?«, wetterte Emma und schaute sich um. Und wieder hörte sie seine Stimme. Sie schien von dort zu kommen, wo mehrere Bäume wie eine hohe und breite pflanzliche Mauer eng zusammenstanden.

    Behutsam ging Emma weiter, nun glaubte sie sicher zu wissen, wo ihr Bruder war. Sie sah ihn zwar nicht, aber wahrscheinlich wollte er sie ein bisschen foppen, der Idiot. Seinetwegen hatte sie jetzt diese brennenden Quaddeln überall im Gesicht. Gleich würde er aufspringen und sie laut anlachen. Am liebsten würde sie ihm dann eine Ohrfeige verpassen, doch dazu müsste sie ihn erst einmal finden.

    Inzwischen hatte sie sich wieder ein paar Schritte weiter durch das hohe Gestrüpp an die Baumgruppe herangetastet. Ihre Wut auf den kleinen Bruder schlug in Sorge um. Ihm war offensichtlich nichts passiert, aber warum hatte er »hier unten« gesagt? Die Antwort erhielt sie prompt, denn sie begann zu rutschen, eine steile Schräge hinab, bis sie schließlich unsanft auf einer mit Moos bewachsenen aber dennoch harten Fläche landete.

    »Au!«, schrie Emma, dann bemerkte sie Robert, der sie halb ängstlich, halb erleichtert anblickte. Er saß dicht neben ihr und umklammerte seinen roten Ball.

    »Wo sind wir?«, fragte Emma und wieder spürte sie die Schmerzen im Gesicht. Als sie nach oben schaute, wurde ihr klar, dass sie beide in einer Grube gelandet waren.

    »Nichts wie raus hier«, geriet sie in Panik und wunderte sich, dass Robert so ruhig geblieben war. Wo nur konnte man hier am besten herausklettern? Vor ihr die Wand war ebenso wie die hintere eine Schräge, rechts und links die Wände gingen senkrecht nach oben. Emma schätzte, dass diese Grube um die anderthalb Meter tief war.

    Immerhin gab es rundherum überall Vertiefungen, in die man greifen und einen Fuß hineinsetzen konnte. Dann entdeckte Emma an einer Wand ein breites gebogenes Stück Holz, ein Ast oder eine Wurzel, das wie ein Griff aussah. »Was ist hiermit?«, fragte sie mehr sich selbst als ihren Bruder. Der zuckte mit den Achseln.

    Auf jeden Fall schien das Stück stabil genug zu sein, um ein 16-jähriges Mädchen auszuhalten. Und einen kleinen 8-jährigen Jungen erst recht. »Wir steigen jetzt da rauf und ziehen uns dann raus«, meinte Emma, »Geh du vor!« »Und mein Ball?« »Den werfe ich dir zu, wenn du oben bist.«

    Robert nickte beruhigt und bemühte sich, mit Hilfe seiner Schwester auf das wurzelähnliche Gebilde zu klettern. Doch plötzlich gab das Holz wie ein Hebel nach, Robert verlor den Halt und riss Emma mit um. Schließlich saßen beide wieder am Boden der Grube.

    Kaum hatten sie sich von einem kleinen Schreck erholt, folgte ein weitaus größerer. Denn mit einem Mal wurde es dunkler, über ihnen schloss sich eine Art Deckel. Dazu bewegte sich der Boden unter ihnen abwärts. Es war, als würden sie mit einem Lift fahren, aber nicht senkrecht nach unten, sondern einen steilen Abhang hinunter.

    Ehe beide begriffen, was geschah, waren sie bereits zwanzig oder schon dreißig Meter tiefer unter der Erde. Nach oben schauend sah Emma direkt über sich eine Fläche, die komplett in einem schwachen gelblichen Licht schimmerte. So war es wenigstens nicht völlig dunkel.

    Zuerst fing Robert an zu kreischen. »Bleib auf dem Boden«, versuchte Emma ihn und sich zu beruhigen. Doch es gelang ihr nur kurz, dann stimmte sie in das Kreischen ein. Der Lift oder das Gefährt, in dem sich beide befanden, wurde ständig schneller. Sie hörten das zischende Fahrtgeräusch, hatten aber keine Orientierung, wohin genau sie fuhren.

    Noch einmal schnappte Emma nach Luft, dann verlor sie vor Angst das Bewusstsein. Ihr kleiner Bruder Robert saß dicht neben ihr und hielt sich wimmernd an ihrem Arm fest.

    Es dauerte nicht lange, da schien es auf einmal, als würde der Aufzug von außen abgebremst, schleifende Geräusche waren zu hören, die Emma nicht mitbekam und Robert nicht wirklich wahrnahm. Reglos kauerte er am Boden neben seiner bewusstlosen Schwester. Und auch als der Lift mit einem Ruck zum Stehen kam, verharrte Robert noch einen Moment, eher er sich ängstlich umschaute.

    Erst jetzt entdeckte er die breite Öffnung, die sich vor ihm aufgetan hatte. Auch draußen gab es Licht, es war merklich heller als hier drinnen.

    Robert rüttelte an seiner Schwester: »Emma, wach auf! Wach auf!« Nur langsam rappelte sie sich hoch und rieb sich die Augen. »Wo sind wir?« »Unten«, sagte Robert nur und begann dann zu weinen: »Ich hab Angst.«

    Was sollen wir tun?, schoss es Emma durch den Kopf, nachdem sie die Orientierung wiedergefunden hatte. Genau wusste sie eigentlich nichts, bloß, dass sie wohl weit unter der Erde gelandet waren. Und dass es dort seltsamerweise Licht gab.

    In dem eigenartigen Kasten einfach nur sitzen zu bleiben, machte wohl keinen Sinn. Also erst mal aussteigen? Bei Emma war plötzlich die Neugier größer als die Angst. Sie nahm Robert bei der Hand: »Komm, lass uns erst mal sehen, wo wir gelandet sind.«

    Behutsam stiegen beide aus und sahen sich vorsichtig um. Die Gegend, in der sie sich befanden, wirkte wie eine Höhle. Vor ihnen ein langer schmaler Gang, der irgendwohin führte. Wohin, wollte Emma gar nicht wissen.

    »Wo sind wir?«, fragte Robert und drückte seinen roten Ball fest an sich. Emma zuckte mit den Schultern. »Komm, wir kehren um«, sagte sie, »Das Ding muss doch auch wieder nach oben fahren können.«

    Aber Robert war schon ein Stück weitergegangen und Emma folgte ihm zögernd. In gut hundert Meter Entfernung sahen sie etwas, das eine Wand, aber auch ein Tor sein konnte. Emma sah keinen Sinn darin, bis dahin zu gehen, es schien ihr zu gefährlich. Sie bemerkte auf einmal ein leichtes Ziehen in dem Feuermal, das ihr linkes Auge umrahmte. Das bedeutete nichts Gutes. Vielleicht kam es auch von den wiederkehrenden Schmerzen, die vom Sturz in die Brennnesseln herrührten. Die aber zogen sich über das ganze Gesicht, und Emma spürte eindeutig auch ihr Feuermal.

    Sie blieb stehen. »Robert, komm, wir fahren zurück«, sagte sie erneut. Doch Robert war einfach weitergegangen. Emma beschleunigte ihre Schritte, um ihn einzuholen. Als sie nur noch wenige Meter von ihm entfernt war, sackte ihr Bruder plötzlich zusammen.

    »Robert!«, schrie Emma und stürzte nach vorn. Doch irgendetwas ließ sie zögern. Vorsichtig näherte sie sich ihrem Bruder, bückte sich und zog ihn langsam zu sich. »Hier stimmt was nicht. Was soll ich bloß tun? Robert, wach doch auf!«

    Als der keine Anstalten machte sich zu regen, packte Emma ihn unter beiden Armen. Sie hatte diesen Griff einmal in einem Erste-Hilfe-Kurs gelernt. So zog sie Robert den ganzen Weg bis zum Lift. Sie wollte schnell hier weg, ihr war das alles nicht geheuer und Robert brauchte vielleicht dringend Hilfe. Auch glaubte Emma Geräusche gehört zu haben. Vielleicht wurden sie gleich verfolgt? Oben waren sie in Sicherheit, Emma konnte sich um Robert kümmern und Hilfe holen.

    Sie schaute auf den Hebel, der sich an der Wand gegenüber der Öffnung befand und inzwischen wieder seine ursprüngliche Stellung einnahm. Wenn man so hinunterkam, musste es ja auch wieder aufwärts gehen.

    Als sie neben Robert saß, drückte Emma den Hebel nach unten. Und tatsächlich: Nachdem sich die Öffnung geschlossen hatte, setzte der Aufzug sich wieder in Bewegung, diesmal nach oben. Er brauchte etwas länger zum Beschleunigen als bei der Abwärtsfahrt, aber mit der Zeit hatte er wieder eine rasante Geschwindigkeit erreicht, auch wenn es aufwärts deutlich langsamer als abwärts ging.

    Auf dem Rückweg nahm Emma die ganze Fahrt bewusst wahr, obwohl sie eine Menge Angst hatte. Nach einer längeren Fahrt wurde ihr Gefährt endlich wieder langsamer und hielt dann mit einem Ruck an. Als sich schließlich die Dachluke langsam auftat und Sonnenlicht hereinließ, verdrängte die Erleichterung ihre Ängste. »Wir sind da«, flüsterte sie. Doch Robert reagierte noch immer nicht.

    Der Lift wird sich doch nicht einfach so wieder in Bewegung setzen?, schoss es ihr durch den Kopf. Sie versuchte Robert nach oben zu heben und zu drücken. »Es klappt nicht, er ist zu schwer!« Sie versuchte es erneut.

    Da fiel ihr ein, was Robert gesagt und was sie für einen Scherz gehalten hatte: Er habe einen Alien gesehen. Und wenn das stimmte? Und wenn der mit Robert in die Tiefe fahren würde, während sie Hilfe holte? Sie musste Robert irgendwie hier hinaus kriegen, koste es was es wolle. Ihr Smartphone hatte sie nicht dabei, das nächste Telefon war also im Haus.

    Zuerst jedoch musste sie versuchen, Robert nach oben zu kriegen. Schließlich gelang es ihr, ihn zu schultern und dann an den Grubenrand zu heben. Die Panik schien ihr vermehrt Kräfte zu verleihen. So schaffte sie es, Robert Stück für Stück aus der Liftgrube hinauszuschieben.

    Diesmal kletterte Emma vorsichtig über die Vertiefungen nach oben. Sie zog Robert noch ein bisschen weg vom Lift, doch dann hatte sie Angst, dass ihre Kräfte sie verließen. Sie gab es auf, ihn bis zum Haus zu transportieren, und zog ihn hinter einen Busch. So lag er außer Sichtweite vom Aufzug. Emma brauchte jetzt ihre Kräfte, um zum Haus zu gelangen.

    Als sie sich ihren Weg zurück durch Gestrüpp und Brennnesseln bahnte, war es ihr egal, dass ihr Gesicht inzwischen wieder brannte. Im Haus rannte Emma sofort zum Telefon und wählte den Notruf. »Mein Bruder ist«, rief sie in das Mikrofon, »wie tot!« In der Panik fiel ihr-das richtige Wort nicht ein. »Ist er bewusstlos?« »Ja, bewusstlos, kommen Sie schnell!« Die Stimme am anderen Ende konnte sie nicht wirklich beruhigen, aber Emma sah ein, dass sie erst ihren Namen und ihre Adresse nennen musste, ehe jemand kommen konnte. Das dauerte eine Weile, dann legte sie auf und rannte hinaus, um nach Robert zu sehen. Auf der Terrasse wäre sie fast über ihren Bruder gestolpert.

    »Robert!« Sie hockte sich neben ihn, ihr kamen die Tränen, weil er noch immer bewusstlos dalag. Es schien ihr eine Ewigkeit zu dauern, bis endlich der Arzt eintraf. Als es klingelte, rannte Emma zur Haustür und öffnete. Draußen stand eine Frau mit einem Koffer und stellte sich mit »Ich bin Dr. Adams« vor. Hinter ihr zwei Sanitäter, einer mit einer zusammengeklappten Bahre.

    »Emma Winter«, sagte sie und zeigte ihnen den Weg zur Terrasse. Dort angekommen, sah die Ärztin einen Jungen, der auf dem Terrassenboden saß und erst sie und dann Emma verblüfft ansah und fragte: »Was ist los? Was will die Frau hier?«

    Auch Adams war erstaunt, hatte sie doch nicht damit gerechnet, Robert wach und offenbar recht munter vorzufinden. »Dem jungen Mann scheint es gut zu gehen«, sagte sie zu Emma, nachdem sie ihren Bruder untersucht hatte, »ich kann nichts Auffälliges finden. Wir könnten sein Blut untersuchen, um ganz sicher zu gehen.«

    Die Ärztin schaute erst Robert, dann Emma mit scharfem Blick an. »Ihr habt euch keinen Spaß erlaubt?«, wollte sie fragen. Die Eltern schienen nicht da zu sein, da kam man schnell mal auf dumme Gedanken. »Was ist mit deinem Gesicht?«, fragte sie stattdessen Emma. »Mein Feuermal?« »Nein, die Blasen. Kommt das nicht von Brennnesseln?« »Ja«, sagte Emma, »ich bin gestürzt. Im Garten, als ich zu Robert wollte.«

    »Erzählt mir mal, wie das alles passiert ist.« Die Ärztin schaute auf Robert. »Was ist passiert?«, fragte der und sah Emma hilfesuchend an. »Gedächtnisschwund?« Es klang, als würde Adams sich laut diese Frage stellen. »Was ist passiert?«, fragte nun auch sie.

    »Er ist einfach umgekippt, ganz plötzlich«, begann Emma. Wenn sie jetzt von dem Lift erzählen würde, käme diese Ärztin womöglich wieder auf die Idee, alles für einen üblen Scherz halten. Außerdem wollte sie nicht, dass jemand anderer davon erfuhr. Das sollte ihr und Roberts Geheimnis bleiben.

    »Ich bin umgekippt? Auf der Terrasse?«, fragte Robert. Und Emma nickte. »Und du weißt nichts mehr davon?«, hakte die Ärztin nach. Robert schüttelte den Kopf. »Und du?«, fragte sie jetzt Emma, »was ist mit deinem Gesicht?« »Mein Feuermal?« »Nein. Kommt das nicht von Brennnesseln?« »Ja«, sagte Emma, »ich bin gestürzt. Im Garten, wir haben seinen Ball gesucht.« Sie biss sich auf die Lippen. »Mein Ball?«, rief Robert, »Wo ist mein Ball?« »Ja, wo ist er?«, fragte jetzt auch die Ärztin. »Wir haben ihn noch nicht wiedergefunden, Robert ist ja auf einmal umgekippt.«

    Das war nicht wirklich gelogen, dachte Emma, sie hatte nur einiges ausgelassen. Und der Ärztin schien das einzuleuchten, sie wandte sich wieder Robert zu. »Wir sollten ihn mit in die Klinik nehmen und dort nochmal genauer untersuchen.« Der eine Sanitäter klappte die Bahre auf.

    »Ich will nicht!«, schrie Robert und klammerte sich an Emma. »Ich komme auch mit«, beruhigte die ihren Bruder und sagte dann zur Ärztin: »Ich muss nur meinem Vater eine Nachricht schreiben.«

    »Emma, wo ist mein Ball?«, fragte Robert erneut.

    2. Unter der Erde

    Den ganzen Vormittag dieses Sonntags hatte es geregnet. Robert und sein Vater waren die meiste Zeit mit einem Kartenspiel beschäftigt. Emma war das ganz recht, sie saß am Fenster in ihrem Zimmer und schaute zu, wie die Tropfen ans Glas sprangen und daran hinunterliefen. Sie hatte ein Treffen mit Freundinnen abgesagt, und auch zum Telefonieren war Emma nicht zumute.

    Später – es war schon Nachmittag –, waren sie zu dritt Essen gefahren, dann hatte ihr Vater Robert bei seiner Mutter abgeliefert und war mit Emma nach Hause zurückgekehrt.

    Einigen Ärger hatte es dort schon gegeben – wegen Roberts Unfall. Immerhin war er nach einer Nacht in der Klinik am Sonntagmorgen wieder entlassen worden. Alle weiteren Untersuchungen hatten keinen Hinweis auf irgendein Problem oder eine Krankheit ergeben. Natürlich ließ sich das Ganze nicht verheimlichen, was Emma am liebsten gewesen wäre.

    Während ihr Vater sie dafür lobte, dass sie so umsichtig reagiert hatte, musste sie sich von ihrer Großmutter anhören, dass sie hätte besser aufpassen sollen, sonst wäre »so was« wohl nicht passiert. Aus Emmas Sicht hatte Oma immer etwas herumzumeckern, also ließ sie auch dieses Mal diese Zeremonie mit einem Schulterzucken über sich ergehen.

    Der Regen hatte inzwischen längst aufgehört. Emma stand an der Tür vom Wohnzimmer zum Garten und schaute hinaus auf die Gräser und das ganze pflanzliche Dickicht, auf dem die unzähligen Wassertropfen in verschiedenen Farben schimmerten.

    Ihr Vater hatte sich in sein Arbeitszimmer verzogen, er bereitete einen Vortrag für den nächsten Tag vor. Eigentlich müsste auch sie längst an einigen Schulaufgaben sitzen, die bis morgen noch zu erledigen waren.

    Aber Emma trieb die Neugier. Sie hatte sich die Kleidung vom Vortag aus der Schmutzwäsche im Keller herausgefischt und sie angezogen. Sie trug nun auch ein Paar Gummistiefel, um besser durch das tropfnasse Gestrüpp waten zu können.

    Sie ging in den Garten und steuerte auf die Stelle zu, von der aus sie und ihr Bruder gestern die seltsame Fahrt unternommen hatten. Als sie ankam, war sie sich plötzlich nicht mehr sicher, ob es wirklich genau hier war.

    Doch sie erinnerte sich an die Baumgruppe, in der Nähe war ein flacher Hügel mit Sträuchern, die Beeren trugen. Emma wusste nicht, was für Beeren das waren, sie erinnerte sich nur an ihre Farbe: Schwarz. Erst heute Morgen war ihr das eingefallen. Und sie sah auch die Sträucher mit den Beeren, es sah fast genauso aus wie gestern, nur diesmal war alles mit kleinen Wassertropfen übersät.

    Von einer Grube war weit und breit nichts zu sehen. Es schien, als sei sie inzwischen zugedeckt worden. Emma fiel ein, dass der seltsame Lift ja eine Dachluke hatte. Und darüber gab es sicher noch eine weitere Luke, um den Liftschacht zu verschließen. Die musste jemand zugemacht haben.

    Aber wer? Wahrscheinlich derjenige, der dieses Gefährt gebaut und genutzt hatte. Und gestern, als die Luken offenstanden, war jemand mit diesem Lift nach oben gefahren und hier ausgestiegen. Robert hatte die Grube dann zufällig entdeckt, ehe dieser Jemand wieder einsteigen und zurück nach unten, tief unter die Erde fahren konnte.

    Offenbar hatte derjenige hier oben einen längeren Ausflug unternommen und war erst davon zurückgekehrt, als Emma und Robert bereits wieder oben angekommen waren. Da musste jemand gewesen sein, denn wer sonst sollte Robert zur Terrasse getragen haben?

    Aber wer war er? Und was wollte er? Oder sie? War es ein Mann oder eine Frau? Oder ein anderes Wesen? Ein Außerirdischer? Aber was wollte er dann so tief unter der Erde? Emma musste lachen, als ihr dazu ein passendes Wort einfiel: »Ja«, sagte sie laut vor sich hin, »ein Unterirdischer«.

    Vielleicht lebten da unten Wesen, die ab und zu mal nach oben kamen. Aber das wäre doch irgendwann aufgefallen, dann hätte es darüber bestimmt etwas im Fernsehen gegeben. Doch vielleicht hatte sie es nur nicht mitbekommen? Emma musste sich eingestehen, dass sie Nachrichtensendungen nicht allzu oft schaute. Eigentlich nur, wenn es gerade für die Schule wichtig war.

    Sie beschloss, noch heute Abend im Internet nachzuforschen. Möglicherweise würden sich dort Hinweise finden, vielleicht hatte irgendjemand etwas bemerkt, so ein Wesen gesehen, oder war selbst mal in so einen seltsamen Aufzug geraten? Einen Versuch war es auf alle Fälle wert.

    Doch nun musste sie erst mal wieder heil zurückkommen, ohne wieder mit den Brennnesseln so enge Bekanntschaft zu machen wie gestern. Der Boden war ziemlich glitschig, das war ihr auf dem Hinweg gar nicht aufgefallen.

    Behutsam setzte sie einen Fuß vor den anderen. Sie war schon einige Schritte auf dem Rückweg, als sie plötzlich ein Geräusch hörte. Sie hielt inne und drehte sich langsam um. Kam das nicht von der Stelle, an der sie vorhin noch nach dem Lift gesucht hatte?

    Es klang wie das Verschieben eines Steins. Das hatte Emma noch aus der Zeit in Erinnerung, als ihr Vater die Terrasse mit Platten gepflastert hatte. Immer, wenn er eine Steinplatte zu sich hin zog, erklang ein schleifendes Geräusch. So ähnlich hatte sich das auch eben angehört.

    Ängstlich ging Emma in die Hocke, duckte sich hinter ein paar Sträucher, dicht vor ihrem Gesicht ragten ein paar Brennnesseln empor. Mit denen wollte sie nicht schon wieder Kontakt aufnehmen.

    Einen Moment lang war sie darauf konzentriert, eine stabile und sichere Position zu finden. Dann schaute sie in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Sie hielt den Atem an: Erst sah sie den Kopf, dann den Körper; jemand kletterte aus dem Lift. Wirklich gut konnte man ihn nicht sehen, denn er trug einen grünen Overall. Soweit Emma erkennen konnte, sah er oder sie aus wie ein Kind. Doch der rosarote haarlose Kopf war auffällig groß, womit das Wesen an ein Riesenbaby erinnerte.

    Inzwischen hatte Emma sich entschieden, dass es eher ein Junge als ein Mädchen war. Zumindest mehr männlich als weiblich. Dennoch stimmten die Proportionen irgendwie nicht. Er mochte nicht einmal die Größe ihres kleinen Bruders Robert haben.

    Schnell war der kleine Mann oder das Wesen im Dickicht verschwunden. Jedenfalls konnte Emma nichts von ihm mehr entdecken. Was sollte sie tun? Einfach zurück ins Haus gehen? Emma hatte Angst, aber sie war auch neugierig, deshalb wollte sie wenigstens einmal nachschauen, ob nun der Lift von gestern wieder zu sehen war.

    Langsam und vorsichtig bewegte sie sich auf die Stelle zu, an der sie vorhin nach der Grube gesucht hatte und wo das seltsame Wesen aufgetaucht war. Und tatsächlich: Als sie näherkam, sah sie die Öffnung des Lifts. Dann war dieser kleine Kerl damit aus der Tiefe gekommen. Aber bestimmt nicht, um hier spazieren zu gehen.

    Was nun folgte, geschah ziemlich schnell. Emma wurde plötzlich schwindlig, sie glaubte etwas zu riechen, das anders war als die Luft hier, anders als die Pflanzen, wenn sie deren Geruch überhaupt wahrnahm. Mit einem Mal wurde ihr bunt vor den Augen, sie spürte nur noch, wie sie zusammensackte.

    *

    Als Emma wieder aufwachte, war sie dort, wo sie auch gestern mit ihrem Bruder gelandet war. Unten, an der Haltestelle dieses seltsamen Gefährts. Zuerst hatte sie kleine klare Orientierung und wusste nicht, wo sie war. Sie brauchte einige Momente, um alles wiederzuerkennen. Den langen schmalen gut beleuchteten Gang, der irgendwohin führte. Wohin, wollte sie auch jetzt nicht wissen.

    »Aber wie bin ich hierhergekommen?«, fragte sie sich. »Mit dem Elevator«, hörte sie eine schnarrende Stimme, die aus dem kleinen Mann kam, der eben noch hinter ihr stand. Ja, es war ein Mann, oder ein Männchen. Oder doch eine Frau. Sein oder ihr rosafarbenes Gesicht hatten die Züge eines erwachsenen Menschen, waren aber nicht eindeutig männlich oder weiblich. Auf jeden Fall hatte Emma niemals jemanden gesehen, der einen so großen Kopf hatte wie dieser Zwerg hier.

    »Wer«, stotterte sie, »wer sind Sie?« »Wer sind Sie?«, hörte sie die Gegenfrage. »Ich bin Emma und ich wohne...«, sie zögerte, ehe sie weitersprach, und zeigte dann über sich: »... da oben.«

    »Und ich bin Neunundneunzig-Drei. Und ich wohne hier unten.« »99-3?« Emma war verwirrt. Sein Alter meinte dieser kleine Mann sicher nicht. Wegen seiner Stimme hatte sie sich entschieden, dieses Wesen für männlich zu halten. »Ich heiße Neunundneunzig mit Familiennamen und Drei ist mein Vorname, bei uns sind alle Namen Zahlen«, folgte die Erklärung.

    »Wieso bin ich hier?«, fragte Emma, »Was haben Sie vor?« »Ich bin nicht gefährlich«, meinte der Zwerg, »aber es gibt ein Problem. Sie haben gestern den Elevator benutzt. Sie wissen etwas, das da oben niemand wissen sollte.«

    Emma witterte Gefahr, sie wich langsam zurück, weg von dem kleinen seltsamen Mann, der sich 99-3 nannte. Als er bemerkte, wie viel Angst sie hatte, wiederholte er noch einmal: »Ich bin nicht gefährlich«, fügte dann aber gleich hinzu: »Doch ich muss das Problem lösen!«

    »Wie?«, hörte Emma sich fragen. Gern hätte sie dem Zwerg geglaubt, dass er ungefährlich sei. »Ich werde nichts erzählen, ich schweige wie ein Grab«, sagte sie schnell und war dem Weinen nahe. 99-3 sah sie verwirrt an, dann nestelte er an einem dicken Band, das er um den Hals trug.

    Schließlich schüttelte er den Kopf: »Nein, nicht in ein Grab«, sagte er mit ruhiger Stimme und lächelte: »Doch Sie werden alles wieder vergessen.«

    Da war sie wieder, diese Angst. In Emmas Kopf rumorte es. Warum war sie hier unten? Wie war das zu verstehen, dass sie alles vergessen würde? Was sollte mit ihr hier unten geschehen?

    »Ich bin nicht gefährlich«, hörte Emma den Zwerg wieder sagen, »Ihnen wird nicht wehgetan. Ich will nur von Ihnen wissen, ob Sie etwas weitererzählt haben und was Sie erzählt haben.«

    »Nichts«, sagte Emma schnell. »Nichts?«, fragte 99-3. »Wir haben diese Grube zufällig entdeckt.« Wieder lächelte der Zwerg: »Sie und der Junge.« »Robert, mein Bruder.«

    Sie sah ihn an. Klar, dass er es wusste, denn er war es doch, der Robert zur Terrasse gebracht hatte. Obwohl er so klein war? Oder hatte er Hilfe von einem anderen Zwerg?

    »Das war ich allein«, hörte sie seine Stimme. »Woher wissen Sie, was ich denke?«, fragte Emma erschrocken, »Können Sie Gedanken lesen?« 99-3 nickte langsam. »Ja«, sagte er, »aber nicht immer. Nur, wenn wir uns anschauen.«

    ›Oh je‹, dachte Emma und vermied es jetzt, den kleinen Mann anzusehen. Plötzlich hatte sie wieder Angst. »Ich bin an den Hebel gekommen«, sprach sie hastig weiter und sah auf den Boden, »und das Ding ist losgefahren. Unten ist Robert einfach losgelaufen, ich wollte ihn aufhalten.« »Und da ist er in unsere Falle getappt.« »Und umgekippt.«

    »Das war Oblivium. Ein Gas, das vergessen macht. Man schläft ein und wenn man aufwacht, weiß man nichts mehr.« »Gibt es keine Nebenwirkungen?« »Nein, nach dem Aufwachen ist man vielleicht etwas müde, mehr nicht.« Das passte zu dem, wie es Robert ergangen war. Als er wieder aufwachte, konnte er sich an den Lift und die Fahrt nicht mehr erinnern, ansonsten ging es ihm gut. Und in der Klinik hatte man nichts Auffälliges entdecken können.

    »Das, was mit Ihrem Bruder passiert ist, war nur zu unserem Schutz. Wir wollen niemandem etwas tun«, hörte sie seine schnarrende Stimme, »Es ist für uns besser, wenn Menschen nicht wissen, dass es uns gibt und wo wir sind.«

    Auf einmal war Emma wieder neugierig geworden. »Wer seid Ihr und wo seid Ihr?«, fragte sie. »Und wieso können Sie unsere Sprache?«

    »Wir können Ihre Sprache nicht«, entgegnete der Zwerg, und zeigte auf das Halsband, das er trug, »ich habe einen Translator, der übersetzt das, was ich denke, in Ihre Sprache. Und das, was Sie sagen, in unsere.« Das erklärte auch den seltsamen Klang seiner Stimme, dachte Emma.

    »Und woher kommen Sie?«, fragte sie weiter. Wieder schien der Zwerg zu überlegen. Nach längerem Schweigen sagte er: »Ich zeige Ihnen etwas von unserer Welt. Dann können Sie sehen, warum es uns so wichtig ist, dass da oben möglichst niemand weiß, dass es uns hier unten gibt.«

    Er winkte Emma, ihm zu folgen. »Achtung«, sagte er, nachdem sie etwa fünfzig Meter gegangen waren. »Hier beginnen die Fallen.« Emma nickte, denn genau da war Robert hineingeraten.

    99-3 hob die Hand und streckte sie in kreisender Bewegung nach vorn. Emma sah nichts, hörte aber ein schnappendes Geräusch, dann winkte ihr der kleine Mann, weiter zu gehen. Nur eine kurze Strecke später blieben sie wieder stehen und 99-3 entschärfte die nächste Falle.

    »Wird man nie verletzt oder getötet, wenn man in eine Falle gerät?«, fragte Emma. »Wozu?« »Und wie kommt man zurück?« 99-3 lächelte. »Wir bringen sie alle zurück an die Oberfläche der Erde«, sagte er, »Aber es kommt nicht oft vor, dass sich jemand hierher verirrt. Das letzte Mal ist schon sehr viele Jahre her.«

    »Und was haben Sie mit mir vor?«, fragte Emma, obwohl sie die Antwort bereits wusste, »Ich kann mich an nichts mehr erinnern, wenn ich wieder da oben bin?« 99-3 nickte.

    ›Vielleicht denkt er noch darüber nach, ob er mich gleich wieder nach oben schicken soll‹, überlegte Emma, und wenn sie ehrlich war, wäre ihr genau das jetzt am liebsten. Sie schaute ihn an und hoffte, er würde ihre Gedanken lesen. Doch 99-3 hatte sich bereits wieder zum Weitergehen umgedreht. Was blieb ihr anderes übrig, als ihm zu folgen?

    Es war nicht mehr weit, bis sie vor einer Felswand standen. Wieder machte 99-3 ein paar Handbewegungen, worauf sich ein zuvor unsichtbares Tor langsam zur Seite schob und im Felsen verschwand. Keine zehn Meter weiter kamen sie an ein weiteres Tor, das 99-3 ebenfalls öffnete. Diesmal fiel Licht durch den immer größer werdenden Torspalt und es wurde heller. Als Emma durch die Öffnung trat, konnte sie nichts anderes als staunend die Luft anhalten.

    Sie stand in einer riesigen Höhle. Ihre Augen schweiften über eine Vielfalt von Pflanzen, die hier wuchsen. Überall ragten dicke Säulen bis nach ganz oben zur Höhlendecke. Mitten durch diese Farbenpracht und das Säulenheer führte ein gepflasterter Weg. Rechts und links davon sah Emma zwischen Bäumen, Büschen, Gras und Blumen verschiedene Gebilde, die unten wie ein Quader und oben wie eine Pyramide aussahen. Sie wollte gleich danach fragen, ob dort die anderen Wesen wohnten, aber im Moment war ihr nicht nach Reden.

    Es war wie ein Paradies. Eigentlich hatte Emma im Religionsunterricht nie richtig aufgepasst. Doch sie erinnerte sich, dass oft von einem Leben nach dem Tod gesprochen wurde. Das sollte in einem Paradies stattfinden und ewig dauern. Und so oder ähnlich könnte es aussehen, dieses Paradies, dachte sie. Nur war Emma nicht gestorben, sondern weiter in diesem Leben.

    Je mehr sie sich umschaute, desto mehr erfasste sie ein Gefühl der Ruhe, das sie schon lange nicht mehr erlebt hatte. Die letzten Jahre in Emmas Leben waren von viel Unrast geprägt, Schule, Hausaufgaben, Treffen mit Freunden, Telefonieren, im Internet chatten, am Computer spielen, Fernsehen, um dann erst spät am Abend müde ins Bett zu fallen.

    »Wie ich sehe, sind Sie beeindruckt«, hörte sie jetzt 99-3 sagen. Und sie nickte langsam. Sie verstand, dass diese Wesen hier unten nicht wollten, dass Menschen da oben von diesem Paradies erfuhren. Wie lange würde es dann noch eines sein?

    Plötzlich fiel ihr ein großes grasgrünes Gebäude auf, das links direkt neben ihr stand. Es sah aus wie eine Halbkugel. »Was ist das?«, fragte sie. »Das ist unser Holzhaus«, antwortete 99-3.

    »Holzhaus?« Emma war irritiert. Hatte sie richtig verstanden? »In diesem Haus werden unsere Kinder geboren, hier gehen sie zur Schule.« »Eine Schule habt ihr auch?« 99-3 nickte.

    Und schon fand Emma es hier unten nicht mehr so paradiesisch wie zu Anfang. Schule. Dabei wäre es doch schön gewesen, wenn man hier unten ohne Schule auskommen könnte. Aber vielleicht war diese Schule ja anders. Hier war offenbar vieles nicht so wie über der Erde, also warum nicht auch die Schule.

    »Aber weshalb heißt es Holz-Haus?«, fragte Emma. »Holz«, gab 99-3 zur Antwort, »ist bei uns das Symbol für Wachstum und Entwicklung. So, wie wir hier ein Holzhaus haben, gibt es noch vier weitere Häuser.« Er zeigte geradeaus. »Gehen wir da entlang, ich zeige Ihnen die anderen.«

    Emma versuchte sich zu orientieren. Sie bogen ab auf einen anderen gepflasterten Weg. Doch warum war von den Wesen, die hier unten lebten, nichts zu sehen?

    Als Emma nach vorn schaute, erhob sich in einiger Entfernung ein mächtiges Gebäude, das sie in einem warmen Gelb anstrahlte. Und kaum waren sie vielleicht hundert Meter weiter gegangen, da standen sie schon direkt davor. Das Gebäude war deutlich größer als das grüne, das hier unten »Holzhaus« genannt wurde, hatte aber ebenfalls die Form einer Halbkugel.

    »Hier ist unser Zentrum, das Erdhaus«, hörte sie 99-3 sagen. Der Name passte schon eher. »Von hier kommt alle Energie, die wir zum Leben brauchen.«

    »Als nächstes«, er dreht sich nach rechts und ging ein Stück um das »Erdhaus« herum und bog dann erneut rechts ab, »kommen wir zum Wasserhaus.« Nachdem ihm Emma den neuen Weg entlang gefolgt war, erkannte sie auch schon ein blaues Gebäude, das in Form und Größe dem »Holzhaus« glich. »Ins Wasserhaus gehen wir, wenn wir auf dem Weg sind, unser Leben zu beenden.«

    ›Eine Art Seniorenheim‹, dachte Emma, sagte aber nichts. 99-3 hatte auch schon wieder kehrtgemacht und war zurück gegangen, weiter rechts um das »Erdhaus« herum auf einen anderen Weg. Es dauerte nicht lange, da waren sie an einem Gebäude angelangt, das in einem silbrigen Grau schimmerte. ›Das Steinhaus‹, vermutete Emma und sah 99-3 dabei an, doch der schüttelte den Kopf: »Das ist unser Metallhaus.«

    Hätte sie sich denken können, schalt sich Emma. Denn bei genauerem Hinschauen sah es wirklich metallisch aus. Aber warum war dann das Holzhaus nicht braun? »Hier erholen wir uns, wenn es uns schlecht geht, wenn wir krank sind«, erklärte 99-3 gerade. Und Emma dachte: ›Ist wohl so was wie ein Krankenhaus.‹

    Sie war neugierig, wie das letzte Haus aussah, das sie nach einigem Weiterwandern auch bald sahen. Es war rot. Genau die Farbe, die noch fehlte, musste Emma lächeln. Als 99-3 das bemerkte, schaute er sie fragend an. »Das ist die Farbe, die noch nicht dran war«, meinte Emma, und 99-3 nickte einfach. »Hier im Feuerhaus tragen wir unsere Konflikte aus und klären, was passiert, wenn jemand sich nicht an die Regeln hält.« Das musste so was wie Gericht und Gefängnis in einem sein, schätzte Emma.

    »Woher kommen denn die Farben?«, wollte sie dann wissen, »Warum ist das Holzhaus nicht braun? Und müsste nicht auch das Erdhaus braun sein? Holz ist doch dunkelbraun und Erde ist hellbraun.«

    99-3 bückte sich und schob einige Pflanzen beiseite. Einen Moment sah es aus, als würde er nach etwas graben. Dann stand er auf und hielt Emma seine Hände hin. Sie bildeten eine Schale, die mit ockergelber Erde gefüllt war. Und Emma verstand. Sie griff in die Erdmenge, die 99-3 ihr hinhielt und rieb sie zwischen ihren Händen.

    Auf dem Gesicht des kleinen Mannes machte sich ein Lächeln breit. »Warum lachen Sie?«, fragte Emma. »Das tun wir hier unten auch immer wieder«, erwiderte 99-3 und ließ die Erde zurück zum Boden rieseln, während er seine Hände aneinander rieb.

    »Was die Holzfarbe angeht«, meinte 99-3 und zeigte auf die Büsche und Bäume, »für uns sind alle Pflanzen aus Holz. Und wie Sie sehen können, überwiegt hier die Farbe Grün.«

    Emma nickte. Damit war die Farbenfrage wohl geklärt. Und 99-3 war bereits wieder auf dem Weg zum Holzhaus. Dort angekommen blieb er stehen, hob beide Hände und zeigte in die Richtung, aus der sie gekommen waren: »Die Haupthäuser sind in unserer Siedlung so angeordnet: In der Mitte steht das Erdhaus und in jede Himmelsrichtung führt ein Weg zu einem der übrigen Häuser am Rand der Höhle.«

    »Und die Leute, die hier leben, wohnen in den kleinen Häusern dazwischen?«, fragte Emma. »Wie viele sind das denn hier unten?« »Die Leute, das sind die Erdlinge«, antwortete 99-3, »Wir haben über 250 Einwohner in unserer Siedlung«.

    Erdlinge? Hatte Emma das richtig gehört. Der Name passte gut zu diesen Wesen, von denen sie bisher ja nur eines gesehen hatte: »Wo sind denn die anderen eigentlich?«, entfuhr es ihr, » Haben die sich versteckt?« »Sozusagen«, erwiderte der Erdling mit dem Namen 99-3, wollte sich aber weiter dazu nicht äußern.

    »Und wie lange wohnt ihr hier schon?« »Einige hundert Jahre.« »Und wie seid ihr hierhergekommen?« 99-3 sah sie an, offenbar kamen ihm die Fragen zu schnell. »Das ist alles nicht so einfach zu beantworten, dazu ist mehr Zeit nötig.«

    Emma sah ihn fragend an. »Wir werden jetzt zurückkehren«, sagte 99-3. Und er ging an ihr vorbei in die Richtung, aus der sie zuerst gekommen waren. Emma folgte ihm stumm. Sie spürte Trauer in sich aufsteigen. An die Rückkehr hatte sie die ganze Zeit nicht gedacht. Und wahrscheinlich würde sie schon bald alles das hier wieder vergessen haben.

    »Schade«, sagte sie vor sich hin. 99-3 schien es nicht gehört zu haben, oder er tat so. Jedenfalls blieb er erst stehen, als sie das letzte der beiden großen Tore erreicht hatten, durch das sie in diese Höhle eingetreten waren. Mit einigen Handbewegungen machte der kleine Mann den Weg nach draußen wieder frei.

    »Kommen Sie«, sagte er dann kurz, und Emma folgte ihm stumm. Am Lift angekommen ließ der Erdling sie einsteigen und folgte ihr. Nachdem er den Hebel gedrückt hatte, schloss sich die Öffnung und das Gefährt setzte sich in Bewegung.

    Es dauerte nicht lange, bis sie oben angekommen waren. Die Dachluke öffnete sich und Emma, die mehr gehockt als gestanden hatte, streckte sich. Oben empfing sie ein leichter Nieselregen in einem Rest von Tageslicht. Etwas benommen kletterte sie hinaus.

    99-3, der ihr gefolgt war, sah sie an: »Nun haben Sie einen Teil von dem gesehen, was wir schützen wollen. Wenn niemand hier oben davon weiß, dann können wir da unten weiter in Frieden leben. Ich verabschiede mich.«

    Und ehe Emma zu irgendeiner Gegenwehr fähig war, hatte 99-3 ihr etwas ins Gesicht gesprüht. Sie verspürte einen seltsamen Geruch und verlor dann das Bewusstsein.

    Als sie wieder aufwachte, saß sie auf der Terrasse und hielt Roberts roten Ball in der Hand. Sie stand auf und ging langsam in den Garten. Als sie durch Gestrüpp und Unkraut wieder an der Stelle angekommen war, an der sie ihre Erinnerung an den Erdling verloren hatte, blieb sie verdutzt stehen. »Was will ich eigentlich hier?«, fragte sie, machte kehrt und ging langsam und kopfschüttelnd wieder zurück ins Haus.

    3. Erscheinungen

    Cyril Heap war ein kleiner leicht übergewichtiger Mann. Früher war er einmal schlank und drahtig. Das hatte sein Beruf mit sich gebracht. Eigentlich war er Fotograf, aber für das, was er damals tat, hatten die Medien nur den Begriff Paparazzo übrig. Heap jagte Prominente, er verglich sich dabei gern mit einem Großwildjäger: So wie der mit einem großkalibrigen Gewehr auf die Pirsch ging, so tat es Heap auf seine Weise mit einer Kamera, die mit einem schweren Telezoom bestückt war.

    Diesen Traum vom Fotografieren hatte Cyril schon als kleiner Junge. Viele Jahre hatte er damals schon als Schüler gearbeitet und einiges angespart. Endlich war es soweit, dass er eine Nikon-Kamera

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