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(K)ein Fall für Lieblos
(K)ein Fall für Lieblos
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eBook301 Seiten4 Stunden

(K)ein Fall für Lieblos

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Über dieses E-Book

Drei Morde geschehen. Jeder Tote sieht aus wie eine Figur aus einem alten Gruselfilm: Dracula, Frankensteins Geschöpf, Werwolf. Alles deutet auf einen Ritualmörder hin. Der pensionierte Kommissar Lieblos soll helfen, er kann mit Toten reden, wenn sie noch nicht zu lange tot sind. Doch er und die Polizei tappen noch eine ganze Weile im Dunkeln, bis der Mörder endlich gefunden ist.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum13. Okt. 2017
ISBN9783742735249
(K)ein Fall für Lieblos

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    Buchvorschau

    (K)ein Fall für Lieblos - Hans-Georg Schumann

    1 Ein Toter im Wald

    Viktor Tepes brauchte eine Zeitlang, um sich zu orientieren. Es war kalt und ziemlich dunkel. Er lag auf dem Boden im Wald, über ihm ein sternenklarer Himmel und ein gelber Halbmond, die er wie durch einen dichten Nebel sah. Wo war er? Was war los?

    Er war gestolpert und gestürzt, und hatte dabei seine Brille verloren, Sie musste hier irgendwo liegen. Dann hatte ihn irgendetwas gestochen, ihm war schwindlig und übel.

    Jemand beugte sich über ihn, seine Gesichtszüge konnte er nicht erkennen. Oder bildete er sich das nur ein? Er spürte, dass er gleich das Bewusstsein verlieren würde. In einer plötzlichen Vorahnung lallte er noch ein Nein, dann spürte er einen furchtbar stechenden Schmerz in der Herzgegend, ehe es für ihn völlig und für immer dunkel wurde.

    *

    Leopold Lieblos fuhr mit dem Bus. In der Nähe seiner Wohnung in Hellern war er eingestiegen. Er besaß zwar ein Auto, doch meistens ließ er es stehen und nutzte lieber den Bus. Erst letzte Woche hatte er sich eine Netzkarte gekauft.

    Als er am Neumarkt ankam, stieg er aus. Hier war er jetzt schon einige Male gewesen, seit er in Osnabrück wohnte. War durch die Große Straße gebummelt, hatte schon eine ganze Reihe von Cafés und Imbissstuben ausprobiert und dabei nicht wenige Cappuccini genossen.

    Diesmal hatte er auf einmal Lust weiterzufahren, vielleicht ein bisschen die Gegend zu erkunden. Er nahm irgendeinen anderen Bus und ließ sich dort auf einem freien Platz nieder. An der nächsten Station stiegen drei Jungs ein, sie fielen ihm auf, weil sie unüberhörbar lärmten. Aber Lieblos beschloss sie zu ignorieren.

    Das klappte nicht lange, denn er musste mit ansehen, wie die drei ein Mädchen belästigten. Die Jungs mochten um die 14 bis 15 Jahre alt sein, das Mädchen etwas jünger. Sie wehrte sich tapfer. Zuerst ging das Ganze nur mit Worten. Lieblos wollte nicht einschreiten.

    Dann hörte er plötzlich das Mädchen rufen: »Finger weg!« Lieblos stand auf, ging zu den Jungen und sagte laut deutlich: »Ihr habt es gehört: Finger weg. Lasst sie in Ruhe!«

    Was dann passierte, überraschte ihn doch. Er kannte so was, aber eher von älteren Jugendlichen. Diese drei Grünschnäbel waren keineswegs eingeschüchtert, obwohl Lieblos groß war und glaubte, dass er imposant aussah.

    »Was willst du, Opa?«, fragte der eine, trat nach ihm und traf ihn am Schienbein. Das gefiel Lieblos gar nicht. »Das tat weh«, sagte er und schnappte nach dem Kerl. Er erwischte sein Bein und verdrehte es. Dann schob er es über das andere Bein, damit der Junge nicht damit nachtreten konnte.

    »Scheiße! Au!«, meckerte der Kerl. Die anderen hielten inne und drehten sich zu ihm, taten aber nichts. »Fahrer, halten Sie an!«, rief Lieblos durch den Bus. Er wiederholte das solange, bis der Bus stoppte.

    »Lassen sie die Kerle aussteigen!«, rief Lieblos nach vorn. »Hier ist keine Haltestelle!«, erwiderte der Busfahrer. »Lassen Sie sie aussteigen!« Lieblos hörte sich brüllen. Endlich ging die Tür auf.

    »Besser, ihr lasst künftig andere in Ruhe«, meinte Lieblos und ließ das Bein des einen Jungen wieder los. »Kommt, wir hauen ab!«, sagte einer der anderen beiden.

    Lieblos schaute zu, wie die Jungen ausstiegen. Kurz bevor der dritte durch die Tür sprang, stieß er Lieblos die Faust gegen den Bauch, sodass der das Gleichgewicht verlor und auf seinem Hintern landete. Ehe Lieblos wieder auf den Beinen war, war auch der letzte der Jungen draußen.

    Nun hatte er sich zum zweiten Mal überrumpeln lassen, und beide Male von demselben Kerl. Ehe er sich darüber ärgern konnte, hörte er ein »Danke«.

    Das Mädchen, das die Jungs belästigt hatten, stand neben ihm und half ihm auf (obwohl er es allein geschafft hätte). »Danke für Ihre Hilfe!«, sagte sie noch einmal. »Schon gut«, meinte Lieblos und setzte sich wieder auf seinen Platz. Der Bus war wieder angefahren.

    »Ich bin Frieda«, sagte das Mädchen. Auf einmal saß sie ungefragt neben ihm und lächelte ihn an. »Ich bin Leo«, hörte er sich spontan antworten. Eigentlich hatte Lieblos keine Lust auf eine Unterhaltung. Aber das Mädchen hatte etwas Ansteckendes. Und er hatte sich auf das Gespräch bereits eingelassen.

    »Gibt es das öfter?«, fragte er. »Sie meinen den Ärger mit solchen Typen?« Lieblos nickte. »Eigentlich nicht. Aber wenn, dann tun die anderen Fahrgäste nichts. Sie schauen lieber weg.« »Hm«, machte Lieblos.

    »Das war toll, dass Sie so reagiert haben!« »Hm«, machte Lieblos nochmals. »Ist das alles?«, fragte Frieda. »Was?« »Sie sagen: Hm. Und ich frage: Ist das alles.« Fast hätte Lieblos ein drittes Mal »Hm« gemacht. »Sollte das nicht eigentlich normal sein?«, sagte er stattdessen, »Wenn alle nicht nur hinschauen, müsste es so was nicht geben. Die anderen sind doch in der Mehrheit.« Frieda nickte: »Da haben Sie recht.«

    »Was sind Sie von Beruf?«, fragte sie auf einmal. »Meiner lässt sich leicht erraten, ich bin Schülerin«, fügte sie hinzu. Für ihr Alter drückte sie sich sehr gut aus, fand Lieblos. »Ich bin pensioniert«, sagte er.

    »Und was waren Sie von Beruf?« »Ich war Polizist.« Er hörte sie laut lachen. »Was ist daran so lustig?« »Das hatte ich zuerst gedacht«, meinte das Mädchen lächelnd, »dass Sie Polizist sein könnten.«

    »Hoffentlich habe ich jetzt nicht meinem guten Ruf geschadet«, meinte Lieblos und versuchte zurückzulächeln, »wo doch Polizisten bei der Jugend eher als die bösen Bullen gelten.«

    »Böse sehen Sie aber nicht aus«, meinte Frieda. »Nein«, Lieblos musste jetzt lachen, »Und ich bin auch nicht böse.« Das Mädchen lächelte: »Sind Polizisten nicht immer die Guten? Ich kenne selber einen.«

    Ein Telefon klingelte, es war das von Frieda. »Entschuldigung«, sagte sie zu Lieblos und nahm dann den Anruf an. »Was? Wirklich?«, Frieda schien erstaunt und verwirrt.

    »Im Wald bei unserer Schule liegt ein Toter. Das ist die übernächste Station. Wo wollten Sie aussteigen?« »Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht, ich bin einfach so in diesen Bus eingestiegen.«

    »Zur Endstation ist es nicht mehr weit. Sie könnten auch mit mir aussteigen. Interessiert Sie der Tote nicht?« Lieblos wollte den Kopf schütteln. Warum tat er es nicht? Warum sagte er nicht »Nein«? Er versuchte es mit »Ich bin pensioniert.«

    »Einmal Polizist, immer Polizist, hat mal jemand gesagt«, entgegnete Frieda. Lieblos musste grinsen. Hatte dieses Mädchen zu allem etwas zu sagen?

    Nein, sie schaffte es tatsächlich schweigend zu warten, bis sie die Haltestelle erreicht hatten, die in der Nähe einer Schule lag. »Kommen Sie«, sagte sie dann und stand auf. Und Lieblos folgte ihr.

    An der Rosenkranzkirche stiegen sie aus und gingen ein Stück die Straße entlang. Dort sahen sie zwei Polizeifahrzeuge stehen. Ein Junge kam ihnen entgegen, er mochte so alt sein wie Frieda. Wahrscheinlich der, mit dem sie im Bus telefoniert hatte, vermutete Lieblos. Allerdings hatte er mit einem weiteren Mädchen gerechnet.

    »Das ist Ali«, meinte Frieda zu Leo, »er hat mich angerufen.« »Hallo, Ali«, sagte Lieblos. »Hallo«, gab Ali zurück. »Mein Onkel ist da vorn. Der Tote ist dahinter im Wald«. Er zeigte mit dem Finger in eine Richtung. Zu dritt gingen sie weiter, bis sie von einem Polizisten aufgehalten wurden: »Ihr könnt hier nicht durch.«

    Der Mann war hochgewachsen und kräftig, hatte schwarzes kurzgeschnittenes Haar und das, was man einen Dreitagebart nennt.

    »Das ist Kemal«, sagte Frieda zu Lieblos, »Alis Onkel.« »Und das ist Leo«, wandte sie sich dann an den Polizisten, »ein Kollege.« Lieblos schüttelte den Kopf. »Also kein Kollege?«, meinte der Mann, den Frieda Kemal genannt hatte. »Ich bin pensioniert.« »Also ein Ex-Kollege«, sagte Kemal und grinste.

    »Er möchte einen Blick auf die Leiche werfen«, grinste Frieda zurück. »Das geht nicht so einfach.« Ali sagte nichts, sondern schaute betreten zu Boden. »Du hast Frieda angerufen«, sagte Kemal vorwurfsvoll zu ihm, und zu Lieblos gewandt fuhr er fort: »Wie kommen Sie zu den Kids?«

    »Ich habe Frieda im Bus kennengelernt«, meinte Leo, »Sie hat mich gebeten mitzukommen.« Kemal schüttelte den Kopf. »Und Sie sind einfach mitgekommen?« »Wie Sie sehen, Ja.«

    »Und was wollen Sie?« »Nichts?« »Das ist ja auch nicht Ihr Fall.« »Stimmt.« Kemal schien verwirrt. Kopfschüttelnd wandte er sich ab. »Es wird Zeit, dass die Ferien bald aufhören. Dann wärt ihr jetzt in der Schule anstatt euch hier herumzutreiben.«

    »Das glaube ich nicht«, meinte Lieblos, »Dann hätten Sie Probleme mit Ihrem Toten.« Kemal sah ihn einen kurzen Moment feindselig an, dann lächelte er: »Stimmt. Gut, dass der Mord in den Schulferien passiert ist.« »Schlecht, dass er überhaupt passiert ist«, entgegnete Lieblos.

    »Da hast du ja einen Komiker angeschleppt«, meinte Kemal zu Frieda. Ein Mann tauchte aus dem Wald auf. Er war etwas kleiner als Kemal, aber breitschultriger, hatte einen leichten Bauchansatz und seine dunkelgrauen Haare lichteten sich bereits über der Stirn.

    »Was wollen die hier?«, fragte er unwirsch, »Hier gibt es nichts zu sehen. Verschwinden Sie. Oder sind Sie Zeuge?«

    Er wandte sich an Kemal. »Wie kommt deine Verwandtschaft hierher?«, sagte er halb verärgert, halb ironisch. Kemal wollte etwas sagen, da ergriff Lieblos das Wort: »Es ist meine Schuld.«

    Alle schauen ihn an. »Kann ich den Toten sehen und mit ihm reden?«, fragte Lieblos. Der Mann schaute ihn mit offenem Mund an. »Was will der? Wer ist das?«, fragte er dann Kemal. »Das ist – Leo«, stotterte der. »Ach, Sie kennen ihn?»

    »Leo Lieblos«, stellte sich Lieblos vollständig vor. Aber das schien der Mann zu überhören, denn er drehte sich von ihm weg. »Er war mal Polizist«, ergänzte Kemal. »Dann hat er ja seinen letzten Fall schon gehabt«, meinte der andere Mann schon in einiger Entfernung.

    Lieblos war verstummt und wandte sich abrupt ab. Ja, er hatte seinen letzten Fall schon gehabt. Und genau dieser letzte Fall war es, weshalb er seinen Dienst als Polizist früher quittiert hatte. Sonst wäre er nicht hier, sondern in Bremen. Denn da kam er her.

    Was wollte er hier? Ein Mädchen hatte ihn überredet. Aber dieser Fall war nicht sein Fall, er hatte seinen letzten Fall schon gehabt.

    »Warten Sie«, hörte er den Mann sagen, der inzwischen wieder nähergekommen war, »Lieblos? Leopold Lieblos?« Leo nickte. »Aus Bremen?« Lieblos nickte erneut. »Dann weiß ich, wer Sie sind: Der Totenflüsterer.« Der Mann war auf einmal freundlich. »Ich bin Hauptkommissar Krüger und leite die Ermittlungen«, stellte er sich vor.

    »Sie kennen mich?«, Lieblos war überrascht. Der Mann nickte. »Sie wollen zur Leiche? Dann kommen Sie«, sagte er und zeigte in den Wald. Lieblos zögerte. Eben noch war er betroffen, als Krüger ihn an seinen letzten Fall erinnerte. Nie wieder wollte er mit Mord etwas zu tun haben. Und jetzt?

    Er sollte sich abwenden, von Frieda verabschieden und den nächsten Bus in die Innenstadt nehmen. Dann dort ein Café aufsuchen und mindestens einen Cappuccino trinken. Doch er ging einfach hinter dem Kommissar her und ließ die verblüfften Frieda, Ali und Kemal zurück.

    Am Tatort angekommen traf Lieblos einige weitere Polizisten an, die die Umgebung untersuchten, sowie einen Toten, in dem ein Holzpfahl steckte. Sein Gesicht war im Schmerz verzerrt und erstarrt, der Täter oder die Täterin hatte es geschminkt. Der tote Mann war schwarz gekleidet, seine Haare waren dunkelbraun, die Gesichtshaut fast weiß, seine Lippen blutrot.

    »Dracula«, meinte Lieblos. »Genau das habe ich auch gesagt«, pflichtete Krüger ihm bei. »Schauen Sie!« Er beugte sich hinunter zu dem Toten und öffnete mit seinen behandschuhten Fingern dessen Lippen. Zwei lange Reißzähne wurden sichtbar. »Angeklebt«, sagte Krüger und stand wieder auf. »Was will uns der Täter damit sagen?«, fragte er.

    »Was will uns der Tote sagen?«, entgegnete Lieblos. Dann trat er auf die Leiche zu und ging dicht bei ihr in die Hocke. »Hallo, ich bin Leo Lieblos«, sagte er leise, »Lassen Sie uns reden. Was ist passiert?«

    Die Polizisten um ihn schauten einen Moment verwundert in seine Richtung, doch auf ein Zeichen ihres Chefs wandten sie sich wieder ihrer Arbeit zu. Auch Krüger ging einige Schritte beiseite.

    Lieblos musste nicht lange warten, bis eine lautlose Stimme in seinem Kopf sagte: »Ich bin Viktor Tsepesch. Ich bin tot. Jemand hat mich umgebracht.«

    Und als Lieblos fragte: »Wie ist es passiert?«, da begann der Tote zu erzählen: »Ich war auf dem Weg zu meiner Nachtschicht, wie immer durch den Wald, ist eine gute Abkürzung.« »Hm«, machte Lieblos.

    »Irgendwie bin ich ausgerutscht, dann gestürzt. Beim Versuch aufzustehen habe ich einen kurzen Stich im Rücken gespürt. Wie von einer Wespe oder so was. Und auf einmal fühlte ich mich wie betäubt. Dann lag ich am Boden, jemand hat mich auf den Rücken gedreht. Ich habe ihn noch gesehen, denn ich war noch nicht tot. Aber sehr unscharf, ich hatte meine Brille verloren, und mir war völlig schwindlig.«

    »Wie könnte er ausgesehen haben?«, fragte Lieblos. »Mittelgroß vielleicht, dunkles Haar.« Es entstand eine längere Pause. Lieblos schwieg und wartete, ob der Tote weitersprach.

    Gerade wollte er nachfragen, da hörte er wieder die Stimme im Kopf: »Auf einmal habe ich es gespürt: Du musst jetzt sterben. Nein, wollte ich sagen. Vielleicht hab ich's gesagt. Er hat mich mit etwas Spitzem erstochen. Aber das war nicht alles, danach kam noch etwas Größeres, ein Pfahl oder so was. Dann hat er etwas mit meinem Gesicht gemacht.«

    Der Tote schwieg und Lieblos hatte den Eindruck, dass er jetzt nicht mehr sagen würde.

    Er hatte fast zehn Minuten regungslos bei dem Toten gehockt. Nun stand er langsam auf, räkelte sich einen Moment und bedankte sich für das Gespräch. Dann kam er auf Krüger zu.

    »Der Tote ist auf dem Weg zu seiner Nachschicht gestürzt, er spürte einen kurzen Stich im Rücken, wurde wohl betäubt. Als er am Boden lag, wurde er erst mit etwas Spitzem erstochen, danach kam der Pfahl. Er kannte seinen Mörder nicht, hat ihn nur unscharf gesehen. Ihm war schwindlig und er war wohl kurzsichtig. Lag hier irgendwo eine Brille?«

    Krüger schüttelte den Kopf. »Dann hat der Täter sie mitgenommen«, fuhr Lieblos fort, »Der Täter könnte ein mittelgroßer Mann sein und dunkles Haar haben. Mehr weiß ich nicht. Warum er den Tod von Dracula inszeniert hat, ist auch nicht klar.«

    »Nicht viele neue Erkenntnisse also?«, knurrte Krüger, der sich mehr erhofft hatte. Lieblos schüttelte langsam den Kopf. »Doch ich habe einen Namen: Viktor Tsepesch«, sagte er dann. »Danke«, erwiderte Krüger, »Wir haben zwar in der Nähe einen Rucksack gefunden, der wohl dem Toten gehört, aber noch nicht hineingeschaut. Jetzt wissen wir schon mal wie er heißt.«

    In diesem Moment kam Kemal hinzu. »Uwe«, sagte er zu Krüger, »ich habe mir den Rucksack mal von innen angeschaut und weiß jetzt, wie der Kerl heißt.« »Viktor Tsepesch«, grinste Krüger ihn an. »Tepes«, sagte Kemal verwirrt.

    *

    Lieblos saß zu Hause in seiner Zweizimmerwohnung und blätterte in der Tageszeitung von gestern. Sein Nachbar von gegenüber hatte angeboten, ihm die »Neue Osnabrücker Zeitung« zu überlassen, nachdem er selbst sie gelesen hatte. Und Lieblos machte es nichts aus, die Zeitung etwas später zu lesen. Nicht wie in Bremen noch gewohnt schon früh am Morgen. Er war jetzt Pensionär, er hatte Zeit.

    Diesmal blätterte er mehr aus Verlegenheit in der gestrigen Tageszeitung, er war gespannt, was in der heutigen Ausgabe über den Toten stehen würde.

    Es war gestern Nachmittag, als er genau das wieder tat, was er seit fast einem Jahr nicht mehr getan hatte und eigentlich nie mehr tun wollte: Sich in einen neuen Kriminalfall einmischen. Wäre er nicht in diesen Bus gestiegen, sondern wie sonst auch einfach durch die Große Straße gebummelt, hätte er dieses Mädchen nicht getroffen. Und wäre damit um den Fall herumgekommen, der ihn bereits seit gestern beschäftigte.

    Da war ein Mord kunstvoll wie Draculas Hinrichtung inszeniert worden, und Lieblos befürchtete, dass dies der Auftakt zu einer ganzen Mordserie sein könnte. Ebenso wie gestern Kommissar Krüger, der ihn als »Totenflüsterer« erkannt hatte.

    Dummerweise hatte er dem seine Telefonnummer gegeben, als der ihn darum bat. Dafür hatte er jetzt die Visitenkarte des Kommissars.

    Einen Festnetzanschluss hatte Lieblos hier noch nicht, aber sein Handy war tagsüber ständig auf Empfang geschaltet. Eine alte Gewohnheit, sagte er sich, denn eigentlich sollte er als pensionierter Polizist für niemanden mehr erreichbar sein.

    Mehr als ein Jahr hatte er doch nun mit all diesen Dingen nichts zu tun. Aber stimmte das wirklich?

    Gleich nach seiner Pensionierung hatte er zu sich gesagt: »Du bist raus, deinen letzten Fall hast du in Bremen abgelegt.« Und sich vorgenommen, künftig um Kriminalfälle einen weiten Bogen zu machen. Doch immer, wenn er irgendeine Meldung aufschnappte, in der es um Mord ging, kreisten seine Gedanken um die Nachricht. Und es kostete ihn jedes Mal einige Mühe, endlich wieder an etwas anderes oder an nichts zu denken.

    Dazu hatte er extra einen Kurs in Autogenem Training besucht. Immerhin konnte er sich jetzt besser entspannen, aber seine Gedanken waren immer noch »kriminell«. Und an überhaupt nichts denken konnte er ohnehin keine Minute lang.

    Es war jetzt mehr als ein Jahr her, seit seinem letzten Fall. Vor ihm lagen damals noch mehr als zwei Jahre bis zu seiner offiziellen Pensionierung. Und er hatte zuerst auch vor, die ganze Zeit bis dahin noch aktiver Polizist zu bleiben. Aber sein letzter Fall änderte vieles.

    Mehr als fünfzehn Jahre waren er und der deutlich jüngere Fritz Herzog ein Team. Aber Fritz war nicht nur Kollege und Partner, er war auch der beste (und vielleicht einzige wirkliche) Freund. Man konnte sagen: Leo und Fritz waren ein Herz und eine Seele. Sie ergänzten sich sehr gut, Leo hatte die Gabe, mit Toten reden zu können, und Fritz war Meister darin, auch kleinste Spuren aufzuspüren, die andere (also auch Leo) übersehen hatten. Für Lieblos gab es keinen Grund, jemals mit dem Polizeijob aufzuhören.

    Als die beiden Polizisten damals an einen Tatort kamen, lag dort eine tote Frau. Auf einer Wiese im Museumsgarten in der Nähe der Weser. Ein anderer Kollege schien auf sie zu warten. Als er Lieblos und Herzog sah, kam er auf die beiden zu.

    Lieblos kannte ihn, es war der junge Thorsten Müller, gerade mal ein Jahr im Polizeidienst. Er war ein netter Kerl, fand Lieblos, er war ihm ein paarmal begegnet. Aus dem würde bestimmt ein guter Polizist. Fand Lieblos.

    Sein Freund war da skeptischer. »Ich weiß nicht«, hatte Herzog irgendwann mal gesagt, »irgendwie kann ich mit diesem jungen Schnösel nichts anfangen.« »Der ist ja kaum älter als du«, zog Lieblos ihn auf und lachte, »Ich finde ihn ganz nett.« »Du kannst ihn ja übernehmen, wenn ich als Partner zu alt bin«, lachte Herzog zurück.

    Müller berichtete gerade, dass er in der Gegend war, er hatte eigentlich frei, ein aufgeregter Passant hätte ihn angesprochen, da läge eine Frau. Er wäre sofort zum Tatort gerannt, dann hätte er die beiden Kollegen angerufen.

    »Sie ist erschossen worden«, sagte Müller, während Lieblos sich dicht an die Frau hockte. »Ich bin Leo Lieblos. Lassen Sie uns reden«, sagte er leise, »Was ist passiert?«

    Nur kurze Zeit später tauchte in seinem Kopf ein Satz auf, der ihn sofort zu seiner Schusswaffe greifen ließ: »Er ist hier«.

    Fritz Herzog konnte es nicht sein, doch wirklich glauben, dass es Müller war, wollte Lieblos auch nicht. Deshalb zögerte er. Doch als er Müller ansah, wusste er, dass der es wusste.

    Auf einmal hatten alle ihre Waffen gezogen. Herzog musste etwas gespürt haben, er bewegte sich mit einem lauten »Nein!« in die Schusslinie, sodass nicht Lieblos, sondern er tödlich getroffen wurde. Lieblos hörte einen zweiten Schuss, der aus seiner eigenen Waffe stammte, und sah Müller zusammenbrechen.

    In seinem Kopf tauchte der Name auf, den die Tote jetzt als ihren Mörder nannte: »Thorsten. Es war Thorsten Müller.« Lieblos sprang auf, und beugte sich zu Fritz, der schwer atmete. Er nahm sein Handy und rief den Notruf. »Nun brauchst du einen neuen Partner«, versuchte sein Freund zu lächeln. Als der Notarztwagen eintraf, war Fritz Herzog tot. Um Müller hatte sich Lieblos nicht kümmern wollen, er war sicher, dass er tot war, denn Lieblos war ein sehr guter Schütze.

    Zuerst schob er alles beiseite, als wäre es nicht passiert. Es gab drei Tote, würde er später sagen. Eine Frau wurde von einem Polizisten ermordet, ein Polizist wurde von einem Polizisten erschossen, ein Polizist wurde von einem Polizisten hingerichtet.

    Es gab keine Verhaftungen und keine Verurteilungen. Alle Kollegen waren der Meinung, dass Lieblos in Notwehr gehandelt hatte, so handeln musste, um sich selbst zu retten. Lieblos sah es anders: Er hatte seinen Freund gerächt. »Ich bin vom Polizisten zum Richter und zum Henker geworden«, meinte er.

    Er war 63 Jahre alt, Fritz Herzog starb mit 46 und hinterließ eine Frau und zwei Kinder. Leo Lieblos hatte keinen Partner mehr, einen Freund verloren. Eine Familie hatte er nicht, die Polizei war seine Familie. Sein Leben war nun inhaltsleer geworden. Weil er 63 war, konnte er früher in Pension gehen. Also stieg er aus und kehrte dem Polizeidienst den Rücken.

    Einige Monate trieb er sich ziellos in der Gegend von Bremen herum, dann machte eine 100-tägige Weltreise. Als er zurückkam, wohnte er zwar noch zwei Monate in Bremen, fasste dort aber keinen Fuß mehr. Er wollte alles aufgeben, um das Weite zu suchen, verkaufte und verschenkte die Möbel und vieles vom übrigen Hausrat.

    Den Rest brachte er bei einem Freund unter, der auch einen Kleintransporter hatte. Später wollte er das alles abholen, wenn er eine neue Bleibe hatte. Als er seine Wohnung verließ, hatte er nicht mehr als das, was auf den Rücksitz und in den Kofferraum seines silberfarbenen Porsche 911 passte.

    Er mochte das inzwischen fast 20 Jahre alte Fahrzeug. Auch wenn es ein Spritschlucker war. Doch Lieblos fuhr nicht oft Auto, aber wenn, dann wollte er sich auch etwas gönnen.

    Im Moment war es ihm egal, wie viele Liter Super der Motor brauchte. Eigentlich ohne Ziel war er von Bremen losgefahren. Unterwegs auf der Autobahn in den deutschen Süden hatte er in der Nähe der Ausfahrt Osnabrück-Hafen eine Panne. Er musste einen Abschleppdienst anrufen. Das brachte ihn nach Osnabrück und in eine Werkstatt. Dort eröffnete man ihm, dass es mindestens zwei Tage dauern würde, um seinen Wagen wieder »flottzukriegen«.

    Grundsätzlich war Lieblos in solchen Fällen misstrauisch, weil er wusste, dass nicht wenige Werkstätten eine solche Situation zur Abzocke nutzten. Doch der Automechaniker erklärte ihm die »Leiden« seines Wagens so glaubwürdig, dass Lieblos ihm vertraute.

    In einer nahegelegenen Pension mietete er sich ein Zimmer, um dort zu wohnen und zu warten, bis sein Porsche wieder fahrbereit war. Als er am Abend an dem im Vergleich zu Bremen sehr mickrigen Stadthafen entlang schlenderte, kam ihm das

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