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Erfrorene Seelen: Bremen-Krimi
Erfrorene Seelen: Bremen-Krimi
Erfrorene Seelen: Bremen-Krimi
eBook229 Seiten3 Stunden

Erfrorene Seelen: Bremen-Krimi

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Über dieses E-Book

Wer hat Hannah Schwenker getötet, die man erschossen in einem Waldkindergarten findet? Der Bremer Polizeireporter Clemens Kaltenbach recherchiert unter Einheimischen, die ihn in ein Geflecht aus Egoismus, Intrigen und Drohungen verstricken. Als Kaltenbach schließlich glaubt, den Fall abschließen zu können, beginnt für ihn ein Wettlauf um Leben oder Tod. Denn sein Gegner hat ihn in der Hand und verlangt von ihm eine schwerwiegende Entscheidung. Zu allem Überfluss muss sich Kaltenbach mit einem Nebenschauplatz beschäftigen, auf dem ein Stalker seine Lebensgefährtin bedrängt.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum16. Aug. 2012
ISBN9783844896251
Erfrorene Seelen: Bremen-Krimi
Autor

Jürgen Warmbold

Der in Braunschweig geborene Autor Jürgen Warmbold hat viele Jahre als Werbe- und Marketingleiter verantwortliche Positionen in der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Werbung und Verkaufsförderung bekleidet. Seit 1992 ist Warmbold als freiberuflicher Fachjournalist tätig. Mit »Kalte Schreie«, »Erfrorene Seelen«, »Falsche Schatten«, »Dumpfe Angst« und »Der verschenkte Albtraum« hat der Autor, der heute im Bremer Umland lebt, fünf Kriminalromane und darüber hinaus Kurzgeschichten in Anthologien und als E-Books veröffentlicht.

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    Buchvorschau

    Erfrorene Seelen - Jürgen Warmbold

    Dezember

    Montag, 18. Oktober

    Er muss hier weg. Gleich dürfte das ganze Dorf auf den Beinen sein und sich fragen, wo der Schuss gefallen ist. Geifernd nach einer Sensation werden sie in alle Richtungen ausströmen und schließlich auch die Tür des alten Bauwagens aufreißen, der den Mittelpunkt des Waldkindergartens bildet und mit seinen aufgemalten Sonnenblumen Frieden vorgaukelt. Es werden absurde Verdächtigungen und Vermutungen folgen, die jeden treffen, der nicht zur eigenen Familie gehört.

    Er schiebt seinen linken Handschuh hoch und schaut auf seine Armbanduhr. Null Uhr fünfzehn. Hektisch wirft er einen letzten Blick auf Hannah, die von dem Kinderstuhl gerutscht ist und an der Wand lehnt. Ihre Hirnmasse und ihr Blut kleben an den Möbeln und bemalten Holzpaneelen, die mit bunten Kinderzeichnungen dekoriert sind. Ihm wird schlecht. Nur nicht übergeben, dann hätten sie seine DNA. Er reißt die Tür des Bauwagens auf und stolpert auf die Lichtung hinaus, stützt sich am Bauwagen ab, bis sich sein Magen beruhigt.

    Ein Grollen rollt über die Landschaft und kündigt ein Gewitter an. Begleitet von einem stark böigen Wind, der ihn aber nicht von dem Entsetzen befreien kann, das ihn angesichts des Geschehens befallen hat. Er blickt noch einmal zum Bauwagen zurück. Dann huscht er in den Wald und verschmilzt mit den Schatten der Bäume, deren Äste sich im fahlen Mondschein in wechselnde Richtungen bewegen, als wollten sie ihn in die Irre führen.

    Ein heftiger Schlag reißt Clemens Kaltenbach aus dem Schlaf. Blut schießt ihm aus der Nase und färbt sein Kopfkissen rot. Maren Petersen wälzt sich neben ihm im Bett hin und her, schlägt um sich und wiederholt immer wieder »Nein, nein, bitte nicht.«

    Kaltenbach stoppt den Blutfluss notdürftig mit einem Papiertaschentuch und nimmt Maren in den Arm. Sie ist derart nass geschwitzt, dass er fürchtet, sie könne ihm entgleiten und noch tiefer in ihre Alpträume rutschen.

    Maren wacht auf, befreit sich aus seinen Armen und trocknet sich nervös mit einem Handtuch ab, das wie jeden Abend vorsorglich auf ihrem Nachtschrank liegt. Mit zitternden Händen zündet sie sich eine Zigarette an. Die Feuerzeugflamme hebt ihr von langen, schwarzen Locken umrahmtes Gesicht kurz aus der Dunkelheit. Kaltenbach schaut auf das beleuchtete Ziffernblatt des Radioweckers, das auf Marens Nachtschrank gerade auf null Uhr fünfzehn springt. Neben dem Wecker stehen zwei Bilderrahmen, deren Anwesenheit nur zu erahnen ist. Aus einem lächelt er selbst, aus dem zweiten Gunnar Neuhaus, Kaltenbachs bester Freund und Marens ehemaliger Lebensgefährte, der vor gut einem Jahr ermordet worden ist. In Kaltenbach weckt Gunnars Porträt wie immer gemischte Gefühle. Seitdem Maren das Foto wieder aufgestellt hat, fragt er sich oft, ob er in ihrem Herzen nur noch die zweite Geige spielt. Seine Gedanken sind ihm peinlich. Er hat sich mit Gunnar sehr gut verstanden und jetzt ist er auf einen Toten eifersüchtig.

    Maren zieht sich ein Hemd über und öffnet das Fenster. In der Ferne grollt ein Gewitter. Kaltenbach beobachtet ihre vom Licht der Straßenlaternen umrahmte schlanke Silhouette, die schweigend eine Rauchwolke nach der anderen ausstößt. Bisher war Rauchen im gemeinsamen Schlafzimmer tabu. Am liebsten wäre es ihm, Maren würde ganz darauf verzichten. Sein Körper spannt sich an, als sie die Kippe aus dem Fenster schnippt. Maren muss völlig neben der Spur sein.

    Sie schließt das Fenster, zieht den Vorhang zu, setzt sich auf ihr Bett und knipst ihre Nachttischlampe an. »Clemens, es wäre nett, wenn du mich alleinlassen würdest.«

    »Wenn du es unbedingt willst, lege ich mich aufs Sofa.«

    »Du verstehst mich nicht. Ich möchte heute für mich sein. Du kannst doch nach Riethausen fahren.«

    »Was, nach Mitternacht?« Er sucht Augenkontakt, doch sie fixiert den Fußboden. »Warum?«

    »Mach es doch einfach«, fährt sie ihn an. »Oder muss ich alles begründen. Du hast doch gekriegt was du wolltest. Was willst du denn noch von mir?«

    »Es ist mir neu, dass ich nur deshalb hierher komme. Aber wenn du es wünschst, gehe ich natürlich. Es ist schließlich deine Wohnung.« Kaltenbachs Stimme bebt. Frust kocht in ihm hoch. Hastig rafft er seine Kleidung zusammen, die er über eine Stuhllehne gelegt hat, und geht zur Tür. Aus dem Augenwinkel sieht er, dass sie immer noch auf der Bettkante sitzt und auf den Boden starrt.

    »Versuch wieder einzuschlafen, Maren.«

    Sie antwortet nicht.

    Kaltenbach zieht die Schlafzimmertür etwas lauter hinter sich zu, als es nötig gewesen wäre. Er hört, wie ein Zug hinter dem Haus vorbeirattert und spürt eine leichte Vibration. Seine braunen Augen schauen in den Badezimmerspiegel. Ein müdes Gesicht blickt zurück. Es sieht älter aus als vierzig. Auf knapp fünfzig würde er tippen, wenn er es nicht besser wüsste. Seine fast schwarzen Haare, die ihm sonst halb über die Ohren hängen, stehen nach allen Seiten ab. Sie passen zu den Locken in seinem Nacken. Und die hohe Stirn nähert sich immer mehr seiner beginnenden Tonsur. Er richtet sich auf. Wenigstens ist sein Bauchansatz im letzten Jahr fast verschwunden. Maren hat ihm oft den Weinhahn zugedreht und ihn angehalten, Sport zu treiben und gesund zu essen. Er zieht eine Grimasse, die seine gegenwärtige Stimmung spiegelt, und löscht das Licht.

    Im Flur schlüpft er in eine Jeans, in ein blassblaues Hemd und einen leichten dunkelblauen Pullover. Er zögert, lauert darauf, dass Maren ihn zurückruft. Nichts passiert. Er nimmt sein Jackett vom Garderobenständer und schließt die Wohnungs- und die Haustür hinter sich ab. Der Donner klingt jetzt sehr nah. Bevor Kaltenbach sein Auto erreicht, das in der Parallelstraße steht, holt ihn das Gewitter ein. Klitschnass und übel gelaunt steigt er in den Wagen.

    John Bonham trommelt sich die Finger wund. ›Achilles Last Stand‹ fordert dem Drummer von Led Zeppelin alles ab. Kaltenbach dreht die Lautsprecher in seinem Toyota voll auf. Aggressiv schlägt er den Takt mit der flachen Hand auf das Lenkrad. Es geht ihm total gegen den Strich, zu dieser späten Stunde nach Riethausen fahren zu müssen. Schon über ein Jahr haust er dort in einem unheimlichen Gemäuer mitten in der Einöde, in einem Haus, das Miriam Francke, einer Freundin von Maren gehört. Miriam, die in Frankreich ihre große Liebe gefunden hat, weiß nichts davon. Sie bedankt sich hin und wieder mit einer Ansichtskarte dafür, dass Maren ihre Blumen gießt und nach dem Rechten sieht.

    Kaltenbachs Handy klingelt. Er bremst etwas, stoppt die CD von Led Zeppelin und fummelt sein Handy mühsam aus der rechten Seitentasche seiner Jeans, die sich seit dem Gewitterschauer unangenehm feucht an seine Beine schmiegt.

    »Hallo Maren, bist du noch sauer?«

    »Na, Clemens, muss deine Freundin um diese Zeit noch hinter dir her telefonieren? Das hätte ich dir nie durchgehen lassen. Und geärgert hast du sie auch. Schäm dich.«

    Kaltenbach verschlägt es für einen Moment die Sprache. Die tiefe, fast männliche Stimme seiner Exfreundin hat er schon lange nicht mehr gehört. »Hallo Brigitte, bin ich wieder der Traum deiner schlaflosen Nächte?«

    Brigitte Bunk lacht kurz auf. »Bilde dir bloß nichts ein. Es hat sich herumgesprochen, dass du finanziell aus dem letzten Loch pfeifst. Deshalb dachte ich mir, ich lasse dir mal einen Auftrag zukommen. Nicht dass du irgendwann mit einem Hut vor den Füßen in der Sögestraße sitzt. Nachher erinnert sich jemand daran, dass ich mal deine schönere Hälfte war.«

    »Da aus deiner Liebe Verachtung geworden ist, dürfte es sich um einen gefährlichen Auftrag handeln.«

    »Auf jeden Fall um einen unappetitlichen. Aber lass uns nicht lange reden, ich habe kommissarisch deine frühere Arbeit übernommen und heute Nacht noch einen zweiten Einsatz an der Backe. Wo bist du?«

    »Auf dem Weg nach Bruchhausen-Vilsen.« Kaltenbach fährt an den Straßenrand und lässt das Fenster der Fahrertür herunter. Es hat aufgehört zu regnen, der feuchte Boden riecht nach frischem Gras.

    »Sehr gut, kennst du Brackdorf?«

    »Klar, das liegt gleich neben Riethausen. Ob du es glaubst oder nicht, dort lebe ich.«

    »Okay, das passt ja bestens. Willst du den Job oder nicht?«

    »Mal ehrlich, Brigitte, vor einem Jahr hast du mich noch gemobbt, dazu beigetragen, dass ich nicht Redaktionsleiter Bremen geworden bin. Warum erinnerst du dich plötzlich an mich? Wäre eine Zusammenarbeit überhaupt offiziell abgesegnet?«

    »Ja, von Zadek persönlich. Wir sind der Meinung, wir sollten dir beim Tageskurier eine zweite Chance geben. Und jetzt kommt diese Chance sogar mitten in der Nacht. Über alles andere können wir später reden.«

    »Eins muss ich allerdings wissen. Bist du noch mit Dohrmann liiert, diesem an Selbstüberschätzung leidenden Lackaffen?«

    »Nein, der ist Schnee von gestern. Lackaffen verlieren schnell ihren Glanz.«

    Kaltenbach reibt mit den Handballen über seine Oberschenkel, die unter der klammen Jeans frieren. »Mir kam er schon immer wie ein Schneemann vor, der irgendwann schmelzen und verdunsten würde. Stand er nach seinem Gesichtsverlust deiner Karriere im Weg?«

    »Ich stehe gleich deiner Karriere im Weg. Das kannst du dir kaum leisten, Schätzchen. So, fahr nach Brackdorf. Dort steht auf einer kleinen Lichtung ein ehemaliger Bauwagen, den man umgebaut hat, um ihn als Waldkindergarten zu nutzen. In dem Wagen liegt eine weibliche Leiche. Die Blaulichter der Polizei werden dir den Weg weisen. Das ganze Dorf soll auf den Beinen sein. Sprich noch heute Nacht mit den Einheimischen. Vielleicht sagen sie ja unter Schock Dinge, die sie sich sonst lieber verkneifen. Den Bericht brauche ich spätestens morgen Nachmittag.«

    Etwas derart Ekelerregendes hat Kaltenbach noch nie gesehen. Er wendet seinen Blick vom Kopf des Opfers ab, das an der Wand lehnt, beziehungsweise von dem, was vom Kopf übrig geblieben ist. Auch die Spritzer aus Blut und Gehirnmasse, die an den Wänden und auf den Kindermöbeln kleben, machen ihm zu schaffen. Den Rest gibt ihm der metallene Geruch des Blutes, der im Bauwagen schwebt.

    Kaltenbach dreht sich entsetzt zu Kriminalhauptkommissar Christian Mühlenfeld um, dem er sich als Polizeireporter des Bremer Tageskuriers vorstellt. Mühlenfeld ist Mitte fünfzig, vollschlank und etwa so groß wie Kaltenbach, der 183 Zentimeter misst. Der Hauptkommissar zwirbelt seinen graumelierten, farblich mit den Haaren korrespondierenden Schnauzbart und lässt seinen rechten Zeigefinger über die große Warze streifen, die links neben seiner Nase sitzt. Als hoffe er darauf, sie sei verschwunden.

    Kaltenbach blickt in Mühlenfelds müde Augen. »Ist die Tote schon identifiziert?«

    »Hannah Schwenker. Sie war verheiratet. Mehr wissen wir noch nicht über sie. Ihr Mann steht unter Schock und kann noch nicht befragt werden.«

    »Hm, ist das Gewehr, das an der Wand lehnt, die Tatwaffe?«

    »Vermutlich, auf jeden Fall ist daraus vor Kurzem geschossen worden.«

    Kaltenbach schaut noch einmal auf die Waffe. »Das Gewehr ist sehr kurz.«

    Mühlenfeld zögert, als wüsste er nicht, ob er schon weitere Informationen herausgeben sollte. »Es handelt sich um einen Stutzen, also um ein kürzeres, sehr handliches Jagdgewehr. Sie erkennen einen Stutzen auch daran, dass sein hölzerner Schaft bis zur Mündung reicht. In unserer Gegend findet man diese Waffe selten. Sie ist eher im Alpenraum anzutreffen.« Er lehnt sich mit seiner linken Schulter an die Wand des Bauwagens. »Wer weiß, vielleicht führt uns der Stutzen zum Täter? Ich werde Ihnen morgen ein Foto des Gewehres mailen. Es wäre nett, wenn Sie es veröffentlichen würden.«

    Kaltenbach kratzt sich im Nacken, wo ihn eine Mücke gestochen hat. »War es Selbstmord? Die kurze Waffe könnte doch darauf hinweisen. Falls sich die Frau den Lauf in den Mund geschoben hätte, wäre sie bestimmt noch mit einem Finger an den Abzug gekommen.«

    Mühlenfeld stöhnt auf. »Da ist sie wieder, die blühende Fantasie der Presse. Nein, erstens würde eine Frau eine andere Todesart wählen, zweitens wäre sie nach ihrem Tod wohl kaum noch in der Lage gewesen, das Gewehr an die Wand zu lehnen.«

    Kaltenbach bedankt sich für die Informationen und macht sich Notizen. Als er auf die von Polizeilampen ausgeleuchtete Lichtung tritt, um sich den Einheimischen zuzuwenden, klingelt sein Handy.

    Es ist Maren Petersen. »Gut, dass du noch auf bist, Clemens.«

    »Ja, geht es dir besser?«

    »Nein, aber ich möchte mich dafür entschuldigen, dass ich dich quasi rausgeworfen habe. Du weißt, das ist sonst nicht meine Art.«

    »Schon gut, Maren. Ich hab´s überlebt. Leg dich wieder hin und versuch zu schlafen.«

    »Clemens, ich kann ohne dich nicht schlafen. Komm bitte zurück. Bitte.«

    Kaltenbach tritt nervös von einem Bein auf das andere. »Tut mir leid, das geht nicht. Ich habe einen neuen Auftrag.«

    »Einen Auftrag?« Ihre Stimme klingt eine Oktave höher. »Du hast doch seit Wochen keinen Auftrag mehr gekriegt. Und jetzt kommt mitten in der Nacht jemand daher und gibt dir einen Auftrag? Für wie blöd hältst du mich eigentlich?«

    »Maren …« Sie hat aufgelegt.

    Kaltenbach flucht leise. Maren weiß, dass er als Polizeireporter nachts raus muss, wenn ein Verbrechen begangen worden ist, wenn es brennt oder ein schwerer Unfall passiert ist. Das muss er auch als freier Mitarbeiter, denn der Wettbewerb ist groß und die Aufträge kann er sich nicht aussuchen.

    Er zuckt die Schultern und blickt zum Kreis der Einheimischen hinüber. Wen soll er ansprechen? Er geht auf die Leute zu, denen er ansieht, dass sie zur nächstbesten Kleidung gegriffen haben, nachdem sie den Schuss gehört hatten.

    »Moin, moin, mein Name ist Clemens Kaltenbach, ich schreibe für den Bremer Tageskurier. Hat jemand von Ihnen die Tote näher gekannt?«

    Er erntet überhebliche Blicke aus dem Kreis der Einheimischen, der einer unwirklichen Kulisse gleicht. Kaltenbach lässt sich nicht einschüchtern und versucht es erneut. »Hatte die Tote Feinde?«

    Keine Antwort.

    »Haben Sie verstanden, was ich gefragt habe?« Kaltenbach tritt drei Schritte zurück. »Gibt es unter den Eingeborenen jemand, der meine Sprache versteht, einen Häuptling oder Medizinmann vielleicht?«

    Links von Kaltenbach löst sich ein Mann aus dem Kreis, dessen Alter er auf gut fünfzig Jahre schätzt. Seine Haare sind schwarz gefärbt, wie ein grauer Haaransatz erkennen lässt. Kaltenbach deutet fragend auf die lange blutbeschmierte Kunststoffschürze, die der Mann über seinem Baumwollhemd und seiner Jeans trägt. »Wollen Sie ein Geständnis ablegen?«

    »Mach dich vom Acker, wir brauchen hier keine Presse.« Der Mann ist etwas kleiner als Kaltenbach und muss zu ihm aufblicken.

    Rechts von Kaltenbach kommt es zu einem Handgemenge. Die Meute hat dem Fotografen des Syker Regionalanzeigers die Kamera entrissen.

    »Sie regeln alles selbst, wie man sieht«, kontert Kaltenbach.

    »Manche Dinge muss man selber regeln«, raunzt der Mann mit der blutigen Schürze. »Wo kommen wir hin, wenn wir uns fotografieren und in der Zeitung als Tatverdächtige präsentieren lassen?«

    »Schon mal was von Presse- und Informationsfreiheit gehört?«

    »So was brauchen wir hier nicht.«

    »Haben Sie wenigstens einen offiziellen Vertreter ihres Dorfes? Beispielsweise einen Bürgermeister?«

    »Brauchen wir auch nicht. Ich bin der Vorsitzende des Schützenvereins. Mein Wort gilt.«

    Kaltenbach deutet auf die blutige Kunststoffschürze. »Und was ist damit?«

    »Ich bin Schlachter, das ist ein ehrwürdiger Beruf. Und ich bin, ohne mich umzuziehen, direkt von der Spätschicht aus der Fabrik hierher geeilt, nachdem meine Frau mir am Telefon erzählte, was passiert ist. Sind sie nun zufrieden?«

    »Natürlich nicht. Es muss doch möglich sein, vernünftig und in Ruhe miteinander zu reden, oder?«

    Der Schlachter tritt nah an Kaltenbach heran, der nur hoffen kann, dass das Blut auf der Schürze schon getrocknet ist. »Ich sage Ihnen was und dann zwitschern Sie ab. Für den Mord an Hannah kommt nur Benno Bredekamp, unser Dorftrottel, in Frage. Der schleicht im Dunkeln um die Höfe und glotzt in die Fenster. Verstehen Sie, was ich damit meine? Hannah hat ihn erwischt und beschimpft und er ist durchgeknallt.«

    »In dem Fall müsste Hannah ihn hierher gelockt haben. Das glauben Sie doch selbst nicht.« Kaltenbach dreht sich um und geht.

    Dienstag, 19. Oktober

    Hat ihn ein Geräusch geweckt? Da ist es wieder. Eine Autotür schlägt zu. Er beruhigt sich, schließt seine Augen und lauscht dem Motorengeräusch, das sich ein kurzes Stück entfernt. Es muss das Postauto sein. Post für Miriam Francke, denn er selbst hat hier nie Post bekommen. Er ist nicht einmal in Riethausen gemeldet und kaum jemand weiß, dass er dort haust. Kein Wunder, am Briefkasten steht nur der Name seiner Gastgeberin. Das ist aus mir geworden, denkt Kaltenbach. Ein verarmter Polizeireporter, der sich im Haus einer ihm unbekannten Frau in der Einöde versteckt. Er ist froh, dass der Briefkasten vorn an der Straße steht. Andernfalls würde der Briefträger in

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