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97% Himmel
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eBook292 Seiten4 Stunden

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Über dieses E-Book

Susann und Christian stehen vor einem Wendepunkt in ihrem Leben, ohne es zu wissen. Gescheitert an Alltag und Routine, hadern sie mit ihren Beziehungen und bemerken, wie ihre Träume und Sehnsüchte in immer weitere Ferne rücken. Zwischen Familie und Arbeit bleibt das Leben auf der Strecke. Sind beide dazu fähig, sich aus ihrer Starre zu lösen? Sind sie mutig genug, etwas Neues anzufangen?
Ein scharf konturiertes Porträt zweier Menschen, die in ihren Existenzen gefangen sind. In der norddeutschen Provinz, irgendwo im Nirgendwo, werden Hoffnungen geweckt, Veränderungen in Betracht gezogen. Vielleicht gibt es ja doch so etwas wie vollkommenes Glück - wenigstens 97 Prozent?
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum22. Nov. 2022
ISBN9783347770331
97% Himmel
Autor

Daniel Schaup

Daniel Schaup lebt an der schönen Elbe in Magdeburg. In seinen Romanen und Erzählungen gelingt es ihm, im Kopf des Lesers einen mitreißenden Film entstehen zu lassen - er ist mitten im Geschehen und doch Beobachter. Die Lektüre ist kurzweilig und gleichzeitig ein Bildungserlebnis. Wer seine Romane und Erzählungen liest, lernt etwas über die Welt und über sich selbst. Anfragen für Lesungen bitte unter: danielschaup(at)icloud.com

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    Buchvorschau

    97% Himmel - Daniel Schaup

    Kapitel 1

    Christian geht ins Bad. In seinem Kopf hämmern die zwei Flaschen Wein des gestrigen Abends. Auch diese Nacht hatte er nicht auf seiner Seite des Ehebettes verbracht. Frisch geduscht und rasiert betritt er das Schlafzimmer. Vor ihm das gewohnte Bild: Die Betten ordentlich gemacht, das Fenster angeklappt, die Gardinen wohl drapiert. Alles perfekt. Wie er Barbaras Wahn hasste, die Oberfläche immer in perfektem Zustand zu halten. Die Oberfläche der Wohnung und die ihrer Ehe. Er öffnet den Kleiderschrank und zieht sich an. Als sein Kopf durch den Kragen des schwarzen T-Shirts ploppt, sieht er die Reisetasche auf dem Schrank. Er zerrt sie herunter. Ohne nachzudenken stopft er ein paar Klamotten hinein.

    Wenige Minuten später sitzt er im Auto und fährt auf die Autobahn. Er tritt das Gaspedal ganz durch, wechselt auf die linke Spur. Gen Westen rast er auf dem Asphaltstreifen an strähnigen Äckern vorbei. Seine Finger liegen unordentlich über das Lenkrad verteilt. Die grauen Gesichter der anderen Autos starren ihn streng an. Marienborn! Ehemalige Grenze! Vom einen ins andere Deutschland. Oder gibt es die beiden nicht mehr? Doch, die gibt es noch! Er kennt nur das eine. Das andere kennt nur Bernd, sein alter Freund. Ein Freund, der ihn im Stich gelassen hatte!

    Genau vor drei Jahren, acht Monaten und vier Tagen verschwand Bernd Helling aus seinem Leben. Bernd war sein Mentor und Lehrer gewesen als er vor fast zwanzig Jahren bei Recon anfing. Bernd ist sechs Jahre älter als er. Zusammen fühlten sie sich als unschlagbares Team. Christian versteckte sich manchmal bei ihm, wenn Barbaras samstäglicher Putzkoller unerträglich wurde. Als Bernds damalige Freundin Martina mit einem anderen Mann nach Bochum zog, wunderte sich Christian, wie gelassen sein Freund blieb. Fast ein Jahr lief alles normal weiter. Aber eines Morgens blieb Bernd weg. Der Chef sagte, er hätte gekündigt und sei nach Schleswig-Holstein zum großen Konkurrenten gegangen. Für Christian kam die Nachricht ebenso überraschend wie für die Kollegen. Erst Wochen später meldete sich Bernd bei ihm. Bernd erzählte ihm etwas von Flucht. Dass er sich festgelebt habe und wieder in Gange kommen müsse. Damals verstand ihn Christian nicht. Und jetzt?

    Drei Stunden fährt er über die Autobahn. Hamburg kommt immer näher. Links tauchen die Kranungetüme des Hafens auf, rot und blau. Dann sieht er vor sich die scheunentorgroße Einfahrt des Elbtunnels. Ihm kommt seine Fahrt mit dem Hamburger Subunternehmer in den Sinn. „Achtung, wir passieren jetzt das Arschloch zur Welt", hatte dieser Kollege damals gesagt als sie in die Röhre fuhren. Er muss grinsen. Gleichzeitig fragt er sich, auf welcher Seite dieses kilometerlangen Arschloches die Welt liegt? Fährt er in die Welt oder verlässt er sie?

    Nach einer weiteren Dreiviertelstunde erreicht er Itzehoe. Er biegt auf die B5 ab: rechts und links Weiden mit einem Grün, irgendwie fetter, satter als in der Börde. Dithmarschen ist eine Insel, denkt er als er im fünften Gang den Scheitelpunkt der Brunsbüttler Hochbrücke erklimmt. Im Norden die Eider, im Osten der Nord-Ostsee-Kanal, im Süden die Elbe und im Westen: die Nordsee. Komplett von Wasser umgeben. Insellage! Bernd wohnt in Meldorf, fast mittendrin.

    Nach Bernds Anruf damals klickte er gleich auf die Karte im Internet. Er wusste bis zu diesem Zeitpunkt nicht, dass es einen Landstrich namens Dithmarschen in Deutschland gibt. Der ganze Westen ist ihm fremd, da kennt er sich nicht aus. Woher soll er es auch wissen? In seinem Geografieunterricht war dieser Teil der Karte weiß! Keinerlei Neugierde hatte ihn bis jetzt gen Westen getrieben. Wenn sie irgendwo in Hessen ein Windrad montierten, interessierte er sich nicht für das Land. Auch nicht für die Leute. Er machte den ganzen Tag seine Arbeit und fiel Abends erschöpft ins Bett in irgendeiner Pension oder Ferienwohnung. Auch den Familienurlaub verbrachten sie nicht in Deutschland, weder im Westen noch im Osten.

    Einmal aber war die ganze Familie Düring quer durch die Republik gefahren, um mit Sascha einige Tage im Disneyland Paris zu verbringen. Ansonsten hieß Urlaub für sie immer Ägypten oder Griechenland, auch auf Mallorca waren sie und letztes Jahr in der Türkei. Barbara will immer ans Meer - am Strand liegen, den ganzen Tag, ab und zu die Füße ins Wasser halten, dann nochmals liegen und dösen. Nach mehreren Kurven und drei Traktoren liest Christian auf dem gelben Ortseingangsschild Marne. Links ein Autohaus, langgezogene Kurve, Supermarkt, Tankstelle, ein zweiter Supermarkt. Wie heißt der? Frauen? Er entscheidet sich, an der Ampel links abzubiegen. Nach mehreren Runden durch die Köge fällt ihm das funkelnde Dach eines neu gedeckten großen Bauernhauses auf. Er fährt langsamer. Direkt an der Hofauffahrt steht ein Schild: Ferienwohnung/ frei. Er biegt ab und parkt neben einem weißen Mercedes mit Stuttgarter Kennzeichen.

    Er klingelt. Eine etwa gleichaltrige Frau öffnet. Ihr schmaler Körper steckt in einem roten T-Shirt und engen Jeans. Sie schaut ihn aus braunen Augen an. Auf ihrem Kopf kurze schwarze Haare. Das Gesicht, denkt er, passt auch zu einem Jungen. Damit steht es im Kontrast zu den sich unter dem T-Shirt abzeichnenden weiblichen Formen. Er sagt, dass er Christian Düring heiße und sich für eine Ferienwohnung interessiere. Sie stellt sich als Kathrin Claußen vor und bittet ihn herein. Er solle auf einem Stuhl am Küchentisch Platz nehmen. Sie hantiert am Herd mit zwei brodelnden Töpfen.

    Sein Blick schweift durch den Küchenraum, dessen Größe der seines Plattenbau-Wohnzimmers weit übertrifft. An der Wand gegenüber des Tisches steht ein ungefähr sechs Meter langer Küchenblock, Eiche rustikal. Während Kathrin Claußen einen Blick in den Backofen wirft, sagt sie, dass der Preis pro Nacht dreißig Euro betrage. Das findet er angemessen.

    „Wie lange wollen sie bleiben", fragt sie und setzt sich zu ihm.

    „Ich weiß noch nicht genau. Ein, zwei Wochen."

    „Die Wohnung ist zwei Woche frei. Das Pärchen nebenan reist übernächsten Samstag ab. Die Wohnung wäre dann drei Wochen frei. Sie können also so lange bleiben wie sie wollen. Sie müssten halt nur umziehen, wenn es mehr als zwei Wochen werden. „Gut. Kein Problem.

    „Machen sie Urlaub oder sind sie beruflich in der Gegend?"

    „Beides."

    „Na, das ist ja ideal, wenn man das Nützliche mit dem Schönen verbinden kann. Was machen sie beruflich?"

    „Ich bin Windkraftanlagenmechaniker."

    „Na, da haben sie bei uns ja viel zu tun!"

    „Vielleicht." Sie mustert ihn.

    „Nun aber genug geplauscht, sie wollen sicherlich die Wohnung sehen. Ich würde eine Woche als Vorkasse nehmen?"

    „So machen wir das."

    Kathrin Claußen fischt einen Schlüssel aus einer Glasschale. Durch einen Flur, vorbei an der Heizungsanlage, an Waschmaschine und Trockner gelangen sie zu einem Treppenhaus. „Das ist der Eingang für die Ferienwohnungen, sagt sie auf eine Tür links zeigend. Dann ersteigen sie mehrere Stufen. „Bei mir gibt es kein Frühstück, für Verpflegung müssen sie selbst sorgen, erklärt sie ihm während sie die Wohnungstür aufschließt.

    Es folgt ein Rundgang durch die Wohnung: Nach einem kleinen Flur sogleich das Wohnzimmer mit einer über die ganze Breite des Raumes gehenden Fensterzeile, zur Straße hinaus. Den Fenstern gegenüber steht ein Sofa. Die weiteren Räume liegen links, Bad, Küche und Schlafzimmer. Im Schlafzimmer bleibt sie stehen, dreht sich zu ihm um, fixiert ihn. „So, gefällt sie ihnen? Ihr Blick bündelt sich in seinen grünen Augen. „Ja, sehr hübsch. Ordentlich, sehr schön, stottert er. Sie greift sich seinen rechten, herunterhängenden Arm, legt seinen Handrücken in ihre Handfläche und lässt den Schlüssel hineinfallen. Sie lächelt. Er bleibt wie angewurzelt stehen bis die Wohnungstür ins Schloss fällt.

    Im Wohnzimmer setzt er sich auf die Couch. Vor dem Fenster wedeln die Äste einer Rotbuche ihm eine kleine Begrüßungsformel zu. Er fühlt sich komisch. Er sitzt tatsächlich hier und nicht zu Hause! Gestern Abend, erinnert er sich, hatte er sich zugeprostet und zu sich gesagt, dass er ab jetzt das Klischee seiner Generation erfüllen werde, in einer rekonstruierten Plattenbauwohnung sitzen und ein Jammerossi sein.

    Aber heute Morgen wusste er, dass er so nicht weiter machen konnte. Wie sie ihn angeschaut hatte, als er ihr das Kündigungsschreiben gab! Die Szene vom Donnerstag wird in ihm lebendig. Als in Barbaras Bauch die Wutschlange erwachte, langsam durch ihren Hals kroch, hinauf zu ihrem Mund. Dann der Ausbruch: Was er sich nur dabei gedacht habe, diesen Gewerkschaftswisch zu unterschreiben, er sei ja nicht einmal Mitglied! Was ihn überhaupt die Angestellten der Subunternehmen interessierten. Wie er nur so blöd sein könne, da er doch wisse, wie Recon zu so etwas steht!

    Wie ein Junge, der ein miserables Zeugnis nach Hause gebracht hat, stand er da. Mit leiser Stimme hatte er versucht zu erklären, dass eine außerordentliche Kündigung ohne vorherige Abmahnung eigentlich nicht rechtens sei. Sie lachte laut auf, was eher an ein Kreischen erinnerte. Mit einer ausladenden Geste warf sie das Schreiben in seine Richtung und verschwand in der Küche. Dann saß er da wie jetzt und starrte vor sich hin.

    Er rafft sich auf und geht zum Auto, seine Reisetasche holen. An einem der oberen Fenster bewegt sich eine Gardine. Im Augenwinkel nimmt er die Bewegung wahr, schenkt ihr jedoch keine weitere Aufmerksamkeit. Die Tasche stellt er ins Schlafzimmer. Einen Moment verharrt sein Blick auf ihr. Er überlegt, ob seine Reise wirklich eine Mischung aus Urlaub und Arbeit ist. Weder noch, muss er sich eingestehen. Wenn er ehrlich ist, muss er seine Aktion eine Flucht nennen - vor Barbara und seinem Leben, das sie für ihn eingerichtet hat. Er packt seine Sachen aus. Legt sie ordentlich in den Kleiderschrank. Sein Magen meldet sich. Er entscheidet, einkaufen zu fahren. Und er weiß auch wo!

    Kapitel 2

    Sie liegt auf der Couch. Aus ihren Ohren zieht sie Kopfhörer. Das Klappen einer Autotür hallt durchs angelehnte Fenster. Sie steht auf und schaut hinaus: ein Mann mit einer Reisetasche geht vorbei. Für einen Moment hat er nach oben gesehen. Sie setzt sich, stützt ihre Ellenbogen auf die Knie und legt den Kopf in die Hände, fixiert das Muster einer der braunen Fliesen des Couchtisches. „Der Urlaub ist der totale Reinfall", wispert sie in den Raum. Aber was hatte sie erwartet? Sicherlich nicht, dass sie allein in einer heruntergekommenen Ferienwohnung hockt, vollgestellt mit Omamöbeln, auf einem Bauernhof mitten in der Pampa.

    Nebenan fällt die Wohnungstür ins Schloss. Sie geht abermals zum Fenster: Derselbe Mann geht zu seinem Auto, steigt ein und fährt davon. Ob er allein Urlaub macht, fragt sie sich und ist gleichzeitig davon überzeugt, dass jeder, der hier freiwillig seinen Urlaub verbringt, nicht ganz normal sein kann. Sie öffnet das Fenster. Draußen brütet ein wilder Sommer. Die vom Meer bewegte Sommerluft streichelt ihr Gesicht. Sie blickt zur Koppel, wo die Pferde unter den Pappeln Schatten suchen.

    Alles scheint still zu stehen, nur die Windräder hinter der Pappelreihe bewegen sich im Takt der Meeresbrise. Auch in ihr steht alles still, denkt sie. Eine kleine Weile lauscht sie in den Sommer hinein. Schwalben streichen vorbei und zeichnen mit zarten Strichen einen Tagtraum in ihren Geist. Es dauert nicht lange, da wird er von Zweifeln durchlöchert. Ruckartig schließt sie das Fenster. Sie streckt sich auf der Couch aus und stöpselt sich die Ohrstecker ein. Die Stimme von Nina Persson stellt sich in ihren Kopf: „My animal heart is telling me to flee, I‘m done with dance, baby bail with me".

    Auch in ihr schreit alles nach Flucht! Sind das die Reste des Tieres in ihr? Die Musik kanalisiert ihre Empfindungen. Auch ihr Herz schlägt im Fluchtmodus. Flucht vor den Leuten hier, der öden Landschaft, platt und langweilig, nichts los, überall nur Dorf und Bauern. Sie denkt an Hamburg. Arne hatte gesagt, als sie den Urlaub planten, dass sie ein zwei Mal nach Hamburg fahren würden - Shoppen und Party. Sie war noch nie in Hamburg! Wie hat sie sich gefreut. Im Moment sieht es nicht danach aus, dass sie in den kommenden Tagen Hamburger Boden betritt.

    Arne macht sein eigenes Ding. Und sie fühlt sich gefangen in einem Kaff am Arsch der Welt. So gut wie nichts haben sie bislang gemeinsam unternommen. Arne trifft sich mit seinen alten Kumpels und den Bauern aus der Gegend. My animal heart is telling me to flee! Soll sie abreisen? Ihm einen Zettel auf den Tisch knallen und ab und weg? Die Vorstellung gefällt ihr. Wie würde Arne reagieren? Ihr nachfahren? Einen langen Moment taucht sie ab in diese Fantasie: Sie sieht sich mit dem Taxi zum Bahnhof fahren. In den Zug steigen. Vielleicht ein Zwischenstopp in Hamburg, überlegt sie. Musical? Warum nicht! Am Ende ihrer kleinen Fantasiereise steigt sie in Stuttgart aus dem Zug. Das Taxi hält vor ihrem Haus. Sie schließt die Wohnungstür auf. Dann liegt sie auf der Couch und hört: „My animal heart is telling me to flee"!

    Ihre Stirn meutert. Eine Spannung durchzuckt ihren ganzen Körper. Sie zerrt sich die Stöpsel aus den Ohren, springt hoch und tippelt barfuß ins Schlafzimmer. Sie zieht ihren Bikini an, greift nach dem bräunlichen Buch, auf dem eine Erdkugel zu glühen scheint - Das Ende der Natur steht in blauen Buchstaben darauf. Das Buch ist ein Geschenk von Claudia, die sie vor ein paar Monaten kennen gelernt hat. Claudia arbeitet bei einer Umweltschutzorganisation. Susann schiebt sich ihre Sonnenbrille ins Haar. Vorsichtig platscht sie mit ihren Flip-Flops die Treppe hinunter. Da öffnet sich die Haustür. Der Mann, den sie vorhin am Fenster beobachtet hatte, steht vor ihr.

    Sein hellbraunes Haar, in dem es hier und da weißgrau schimmert, versucht sich in die Form eines Scheitels zu zwängen, bricht aber störrisch in alle Richtungen aus. Seine Stirn ist feucht. Unter den Augenbrauen lachen sie zwei grüne Augen an, bevor die Mundwinkel darunter sich heben. Sein Gesicht erscheint ihr sehr angenehm, harmonisch. Seine Schultern sind breiter als sein Becken. Das fällt ihr sofort auf. Sein Körper steckt in einem schwarzen T-Shirt und einer ausgewaschenen schwarzen Jeans.

    Er grüßt freundlich. Mit seinem linken Ellenbogen hält er die Tür auf. Sie lacht und schiebt sich an den Tüten vorbei, die an seinen Händen baumeln. Sie dreht sich um, bedankt sich und wünscht ihm einen schönen Tag. Sie hört wie die Tür ihr Klack macht. Mit ihren Flip-Flops klappt sie über die Terrassenplatten. An der Kühlhalle lehnt die Liege. Die Sonne produziert eine mächtige Wärme. Sie stellt die Liege in eine günstige Position unterhalb der Rotbuche.

    Ihr Interesse an dem Buch tendiert gegen Null. Dennoch versucht sie, ein paar Zeilen zu lesen. Hinter der Sonnenbrille klappen ihre Augenlider nach unten. Ihre Haut saugt die Sonnenstrahlen auf. In ihrem Körper verbreitet sich eine wohlige Wärme. Im Zeitlupentempo bilden sich kleine Schweißperlen auf Stirn, Kinn und Nase. Sie schaut tief in grüne Augen, um die sich unscharf eine schwarze männliche Gestalt abzeichnet. Die Nase passt genau in das Gesicht - nicht zu groß, nicht zu klein, vielleicht etwas breit an den Nasenflügeln. Jetzt bewegt sich der Mund, aber sie kann nichts hören. Ganz langsam öffnen sich die Lippen, schließen sich wieder. Kein Laut! Nur ein schöner Mund!

    Die wohlige Wärme verwandelt sich schlagartig in eine das Atmen erschwerende Hitze. Sie öffnet die Augen und steht auf. Mit jedem Klappen unter ihren Füßen zerstiebt das Bild des Mannes in alle Richtungen. An ihrer Hand klebt das Buch. Sie spürt wie ein Schweißtropfen an ihrem Innenschenkel herunterläuft. Als sie auf dem Treppenabsatz angekommen ist, verweilt ihr Blick einen Moment auf der Tür zur Nachbarwohnung. Sie schiebt die Sonnenbrille auf ihre feuchte Stirn - eine Strähne ihres hellblonden, fast rötlichen Haares fällt dabei in ihr Gesicht.

    Als sie sich gerade unter die Dusche stellt, kommt Arne zurück. Beim Abtrocknen hört sie den Fernseher. Sie hüllt ihren Körper in ein Handtuch. Arne fläzt im Sessel. Sie stellt sich hinter ihn und schaut auf seinen Kopf. Er lässt die Fernbedienung in den Sessel fallen, reckt seine Arme nach oben, so, dass er die Finger hinter ihrem Hals verhaken kann. Langsam zieht er ihr Gesicht zu sich herunter. „Ich geh auch schnell duschen", sagt er zwischen zwei Küssen. Arne verschwindet im Bad. Sie schaltet den Fernseher aus und huscht ins Schlafzimmer.

    Nach wenigen Minuten steht Arne vor dem Bett. Über seinen nackten Körper rinnen Wassertropfen. Er ist groß und kräftig, seine Schultern so breit wie sein Becken. Warum fiel ihr das gerade jetzt auf, wundert sie sich. Nach diesem langweiligen Tag hat sie große Lust mit ihm zu schlafen, seinen schweren Körper auf ihrem zu spüren. Wie ein Raubtier krabbelt Arne zu ihr ins Bett. Sein Körper kühlt ihre Hitze. Als er über ihr kniet streicht sie mit ihren Fingernägeln langsam über seine Schultertafeln.

    Sie erforscht seine dunkelgrauen Augen, die eng zusammenliegen, darüber das pechschwarze Haar, an den Seiten ausrasiert. Die spitz zulaufende Nase droht ihr, sich nicht in Gedanken zu verlieren, nicht jetzt. Sein schmaler Mund rast auf ihren zu und Arne treibt Brust auf Brust in ihren Teich. Sie verliert sich in seinen Berührungen, seinen Küsse, nimmt seinen Rhythmus auf, der ihr wohltut, sie durchpulst. My animal heart is telling me to flee, I‘m done with dance, baby bail with me. Nein! Nicht fliehen. Tanzen. Ja! Sie tanzt! Tanzt. Dreht sich. Ja! Tanzen. Sie! Er! Tanzt! Ja. Jetzt.

    Arne dreht sich auf die andere Seite des Bettes. Ihre Körper liegen parallel. Die Finger seiner linken und ihrer rechten Hand nesteln ineinander. Arne grinst zur Decke. „Das war schön, sagt sie mit geschlossenen Augen. „Heute Abend bleibe ich bei dir. „Kein Kumpelabend? „Morgen. Wenn es dir nichts ausmacht. Sie überlegt, ob sie ihm sagen sollte, dass es ihr etwas ausmacht. „Morgen bin ich den ganzen Tag mit Steffen in Itzehoe. Wir wollen uns einen neuen Hof anschauen, alles automatisiert bis ins Kleinste. Sie erwartet, dass einer seiner landwirtschaftlichen Referate beginnt. Aber er schweigt. „Und ich? Sie dreht ihren Kopf in seine Richtung. Er starrt weiter zur Decke. Sie sieht, wie seine behaarte Brust sich hebt und senkt. Sie löst ihre Finger aus seiner Hand. „Ich gehe unter die Dusche", sagt sie und rollt sich aus dem Bett.

    Arne steht in der Küche als sie mit nackten Füßen über den gefliesten Boden platscht. „Susann, du weißt, dass unser Ausflug nicht nur Urlaub ist? Sie nickt nur. „Langweilst du dich? Zum zweiten Mal nickt sie. „Morgen kannst du doch ins Watt gehen und im Pril baden. Was meinst du?" Baden hört sich gut an, denkt sie und sie geht ins Schlafzimmer, um sich etwas anzuziehen. Vor dem Fenster sieht sie die Pferde und am Himmel verteilt sich das Schaumkraut der Wolken. Schwimmen.

    Kapitel 3

    Christian hievt die Einkaufstüten auf den Küchentisch - drei Plastikberge, spitz und kantig. Aus dem einen zieht er eine Pappplatte, darin ein feuchtkalter Diskus. Sein Kopf senkt sich Richtung Herd. Im Backofen geht das Licht an und ein leises Brummen beginnt. Er pellt die Plastikhaut von der Tiefkühlpizza und legt sie auf den glänzend sauberen Rost. Dann trägt er das Gebirge seines Einkaufes ab und deponiert die Teile im Kühlschrank. Die Tüten knüllt er zusammen und stopft sie zwischen Stuhl und Küchentisch. Aus seiner Hosentasche angelt er sich den Autoschlüssel und verlässt die Wohnung.

    Nach wenigen Minuten kommt er mit einem Karton zurück. Er zieht eine der sechs Weinflaschen heraus. Er unterdrückt den Impuls, direkt aus der Flasche zu trinken. Hinter der dritten Schranktür findet er ein Weinglas. Im Wohnzimmer schaltet er den Fernseher ein. Ein junger Mann in einer Art dunkelsilbernem Anzug und bis zur Unkenntlichkeit gegelten Haaren verkündet die neuesten Boulevardnachrichten. Bunte Bilder von bunten Menschen flimmern vor ihm.

    Als die Werbefilme beginnen schleicht er in die Küche. Die Pizza sieht unverändert aus. Er klappt die Tür auf. Nichts! Keine Hitze, nicht einmal Wärme schwappt ihm entgegen. Der Herd brummt aber, stellt er fest. Er entdeckt ein zweites Rädchen, an dem er die Temperatur einstellen kann. Mit einem tiefen Seufzer klappt er die Tür zu. Nicht einmal eine Pizza kann er ohne Barbara warm machen, denkt er. Die Nachrichten von den Stars und Sternchen nehmen kein Ende. Nach fünf Minuten überprüft er erneut den Ofen. Jetzt ist alles wie es muss. Also weiter im Alltag der Prominenten. In die Stimme aus dem Apparat schwingt sich ein Stöhnen, das klarer und deutlicher wird. Lag das Schlafzimmer der Nachbarn direkt nebenan, fragt er sich. Er drückt die Mute-Taste.

    Lauscht. Genüsslich schlürft er dazu einige Schlucke Wein. Die weibliche Stimme des Duetts klingt jung. Sofort denkt er an den orangen Bikini. Vor einer Stunde war er an ihm vorbei gewackelt. Schöne Proportionen, vorne und hinten. Gerade will er sich dem Film seines Kopfkinos widmen, als nach einem kurzen heftigen Anschwellen es nebenan schlagartig still wird. Er grinst. Für einen kurzen Moment denkt er an Barbara. An ihren bald fünfundvierzig Jahre alten Körper, mit den hängenden Brüsten, den zwei Hautwulsten über ihrem Becken und den Fettwellen, in denen ihr Bauchnabel schwimmt. Er versucht die Frage zu unterdrücken, wann er und Barbara das letzte Mal miteinander geschlafen hatten. Nicht das er sich nicht an den Sex mit Barbara erinnert, aber wann war das letzte Mal? Er drückt die Mute-Taste: Eine Wasserstoffblondine, übermäßig geschminkt, faselt darüber, wie sich ein Prominenter fühlt, dessen einziger Sohn sich gerade umgebracht hat.

    „Die muss es ja wissen", sagt er auf dem Weg in die Küche. Vor dem Herd geht er in die Knie und linst durch die Scheibe: Ja, das Unglück anderer und Sex, da schmelzen wir dahin wie Pizzakäse, fasst er die Fernsehbilder zusammen. Die Salamischeiben wellen sich. Der hintere Rand ist dunkelbraun. Fertig! Die Pizza schmeckt nach Vorabendprogramm und all den Meldungen von Verbrechen, Todesfällen, Krankheiten, Beziehungsproblemen, Scheidungen. Scheidungen? Das Wort war ihm bislang nicht in den Sinn gekommen. Ob Barbara daran denkt, fragt er sich. Sie müsste längst zu Hause sein!

    Vielleicht denkt sie bereits

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