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Festa mortale: Hellweg-Krimi
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eBook364 Seiten4 Stunden

Festa mortale: Hellweg-Krimi

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Über dieses E-Book

Das italienische Fest - in Unna freut man sich auf fünf Tage voller mediterranen Flairs mit Musik, Essen und fröhlichen Menschen in der kunstvoll beleuchteten Innenstadt. Der kleine Torben will sich zusammen mit seiner Mutter alles von oben ansehen. Als ihre Gondel hoch über dem Festplatz schwebt, glaubt er unten seinen Vater zu sehen, der von der Mutter getrennt lebt. Ungeduldig wartet er, bis er aussteigen kann, und rennt davon, um zu ihm zu eilen. Die Mutter verliert ihn aus den Augen und Torben bleibt verschwunden, trotz intensiver Suche, auch durch die Polizei. Dann findet das Team um Maike Graf und Max Teubner einen Toten. Es wird nicht der einzige bleiben. Nach und nach kristallisiert sich heraus, dass Torben das Verbindungsglied zwischen den Mordopfern ist. Was verschweigt seine Mutter?
SpracheDeutsch
HerausgeberProlibris Verlag
Erscheinungsdatum16. Nov. 2020
ISBN9783954752300
Festa mortale: Hellweg-Krimi

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    Buchvorschau

    Festa mortale - Astrid Plötner

    Info

    Astrid Plötner

    Festa mortale

    Hellweg-Krimi

    Prolibris Verlag

    Handlung und Figuren dieses Romans entspringen der Phantasie der Autorin. Darum sind eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden oder verstorbenen Personen zufällig und nicht beabsichtigt. Nicht erfunden sind das italienische Fest sowie Institutionen, Straßen und Schauplätze in Unna und den anderen Ruhrgebietsstädten, die in diesem Roman vorkommen.

    Alle Rechte vorbehalten,

    auch die des auszugsweisen Nachdrucks

    und der fotomechanischen Wiedergabe

    sowie der Einspeicherung und Verarbeitung

    in elektronischen Systemen.

    © Prolibris Verlag Rolf Wagner, Kassel, 2020

    Tel.: 0561/766 449 0, Fax: 0561/766 449 29

    Titelbild: © Bodo Küster, Holzwickede

    Schriften: Linux Libertine

    E-Book: Prolibris Verlag

    ISBN E-Book: 978-3-95475-230-0

    Dieses Buch ist auch als Printausgabe im Buchhandel erhältlich.

    ISBN: 978-3-95475-220-1

    www.prolibris-verlag.de

    Die Autorin

    Astrid Plötner wuchs am Rande des Ruhrpotts im westfälischen Unna auf, wo sie heute mit ihrer Familie lebt. Sie arbeitet seit einigen Jahren als freie Autorin, hat zahlreiche Kurzkrimis in Anthologien und einige Romane veröffentlicht. Zwei Mal, in den Jahren 2013 und 2014, wurde sie für den Agatha-Christie-Preis nominiert.

    „Festa mortale" ist der dritte Kriminalroman der Autorin mit dem Kommissaren-Team Maike Graf und Max Teubner, die im westfälischen Unna ermitteln. Astrid Plötner ist Mitglied der

    Autorenvereinigung „Syndikat e.V."

    Weitere Informationen unter: www.astrid-ploetner.de

    Für Jörg

    Prolog

    Der Regen klatschte gegen die Windschutzscheibe und ließ die Wischerblätter vergeblich gegen die Wassermassen kämpfen. Jens stierte durch die Scheibe, alles verschwamm vor seinem Auge. Durch die Wasserflut funkelten ihn die Rückleuchten eines LKW an wie die Augen des Teufels, der ihn in die Hölle locken wollte. Jens fummelte hektisch am Kragen seines Hemdes. Während er seine linke Hand ums Lenkrad krampfte, versuchten die klobigen Finger seiner Rechten, den winzigen Knopf durch das kleine Loch zu schieben. Schweiß trat auf seine Stirn, sein Herz raste. Die Bremslichter des LKW kamen näher. Jens nahm die zweite Hand wieder ans Lenkrad und donnerte seinen Fuß auf die Bremse, bis der Wagen endlich stand.

    Verdammt! Wollte diese Fahrt denn niemals enden?

    Seit der Auffahrt auf die A1 in Hagen fuhr er von einem Stau in den nächsten, folgte eine Baustelle der anderen. Er nahm beide Hände vom Lenkrad, riss am Kragen, obwohl der LKW vor ihm gerade wieder anfuhr. Endlich gab der Knopf nach und flog mit Schwung gegen das Seitenfenster. Der PKW hinter ihm hupte.

    »Ja! Ich fahr ja schon, du Vollidiot!«, brüllte er in den Rückspiegel. Als er zum Anfahren in den ersten Gang schaltete, kreischte das Getriebe. Der Wagen ruckelte, Jens drückte seinen Fuß aufs Gaspedal. Der Ford Fokus jaulte empört. Er kam sich vor wie ein Fahranfänger, zwang sich zur Ruhe, schaltete hoch und schloss mit seinem Wagen wieder zum LKW auf. Im Rückspiegel sah er, wie der BMW hinter ihm sich in die Blechlawine auf der Mittelspur zwängte. Er drehte das Radio lauter, die 17-Uhr-Nachrichten von Antenne Unna brachten gerade die Verkehrsmeldungen.

    »Es ist voll auf den Straßen«, hörte er den Moderator sagen. »495 Kilometer Stau in NRW. Hier nur die längsten: A1 Richtung Münster Osnabrück, zwischen Schwerte und Unna 15 Kilometer, hier braucht ihr eine halbe Stunde länger, 13 Kilometer am Kamener Kreuz, auch hier mindestens 30 Minuten mehr …«

    Jens schlug verzweifelt aufs Lenkrad. »So ein Mist! Verdammt!« Er hatte längst zu Hause sein wollen. Mittwochs unterrichtete er nur bis 14 Uhr. Heute hatte ihn allerdings noch ein Elterngespräch in dem Hagener Gymnasium zurückgehalten. Ein Ehepaar befürchtete, der Sohnemann könnte das Klassenziel nicht erreichen. Seine letzten Klassenarbeiten waren mangelhaft gewesen. Mündlich arbeitete der Junge genauso wenig mit, wie er seine Hausaufgaben erledigte. Das Gespräch mit den Eltern war ätzend gewesen und hatte sich über eine Stunde hingezogen. Der Vater kannte seine Grenzen nicht, hatte beim Verlassen des Klassenzimmers sogar gebrüllt: »Sie alter Fettsack sollten lieber Sport treiben, als Ihren Frust an der Benotung Ihrer Schüler auszulassen!«

    Noch jetzt musste Jens verärgert darüber den Kopf schütteln. Klar war es leichter, das Unvermögen des Kindes auf die Schuld des Lehrers abzuwälzen. Das rechtfertigte aber keine Beleidigung! Dass er dick war, wusste er selbst. Bei einer Größe von 1,95 Metern brachte er 159 Kilogramm auf die Waage. Er aß nun mal gerne und hatte eine Vorliebe für Burger, Pizza und Lasagne. Obwohl ihm sein Arzt empfohlen hatte, das Gewicht zu reduzieren. Mit 48 Jahren, dem massigen Übergewicht und dem oft besorgniserregenden Bluthochdruck sei er im Feld der Gefährdeten auf Herzinfarkt und Schlaganfall angelangt.

    Der LKW rollte wieder an. Der Regen hatte etwas nachgelassen. Jens gab Gas, schaute in den Außenspiegel und setzte den Blinker. Dann schob er sich frech vor den BMW, der es noch nicht geschafft hatte, an ihm vorbeizukommen, und nun wiederum hupte.

    »Leck mich!«, brummte Jens nur und überholte den LKW langsam. Auf der rechten Spur reihten sich die Lastwagen wie an einer Perlenkette. In der Mitte ging es jetzt etwas schneller voran. In einiger Entfernung konnte man bereits das Schild erkennen, das die Ausfahrt Unna anzeigte.

    Er schwitzte immer noch. Zudem machte sich vom Nacken her unangenehmer Kopfschmerz bemerkbar. Sein Arzt hatte ihm gesagt, das könne ein Anzeichen für den hohen Blutdruck sein. Zu Hause würde er den Wert also zunächst überprüfen müssen. Jens wischte sich mit dem Hemdsärmel durchs Gesicht. Nach Einnahme der blutdrucksenkenden Tabletten würde er sich besser fühlen. Dann stünde seinem Vorhaben, nach Dortmund zu fahren, nichts mehr im Wege. Die Gelegenheit, das Etablissement in der Linienstraße aufzusuchen, bot sich ihm nur am Mittwoch. Da besuchte seine Frau stets ihren gemeinsamen Sohn Manuel.

    »Eigentlich müsste ich ein schlechtes Gewissen haben!«, murmelte Jens und wischte sich abermals den Schweiß von der Stirn. Ein Jahr nach Manuels Geburt hatte er zum ersten Mal den Puff in Dortmund besucht. Er fand das weniger anstößig, als sich eine Geliebte zuzulegen. Schließlich ging es ihm ausschließlich um Sex und nicht um irgendwelche anderen Gefühle.

    Endlich näherte er sich der Ausfahrt. Jens lenkte den Wagen zwischen zwei LKW zurück auf die rechte Spur und konnte kurz darauf die Autobahn verlassen. Zehn Minuten später erreichte er sein Haus in Unna-Massen. Als er den Ford Fokus verließ, hörte er die Kirchturmglocke der Friedenskirche schlagen. Es musste halb fünf sein. Jens eilte ins Haus. Die Vorfreude auf sein Schäferstündchen in Dortmund trieb ihn voran.

    »Annabelle?«, rief er laut ins Haus. Es bestand ja immerhin die Möglichkeit, dass sie zu Hause war. Allerdings kehrte sie von den Besuchen bei Manuel selten vor acht zurück. Meist wurde es zehn. Jens hechtete die Treppe hoch.

    Zunächst würde er seinen Blutdruck messen. Das Gerät befand sich in der Nachttischschublade. Er band die Manschette straff um den Oberarm und startete das Gerät, so wie man es ihm nach Erkennen der Krankheit gezeigt hatte. Verdammt! 220 zu 117. So hoch war der Wert lange nicht gewesen. Er sollte dringend anfangen, etwas Sport zu treiben und die Ernährung umzustellen. Vorsichtshalber würde er heute zwei Tabletten nehmen. Er griff erneut in die Schublade, nahm das Tablettendöschen heraus und fischte zwei Kapseln hervor. Gott, was konnte er in der Nähe schlecht sehen! Auch das sei eine Folge des Bluthochdrucks hatte ihm sein Arzt gesagt. Jens nahm die Kapseln mit ins Bad, füllte den Zahnputzbecher und spülte das Medikament mit viel Wasser herunter. Danach wollte er duschen und die verschwitzten Sachen wechseln. Aber ein paar Minuten blieb er auf dem Badewannenrand sitzen.

    Kurz darauf ließ er heißes Wasser über seinen Körper rauschen und schloss einen Moment die Augen. Als er die Dusche verließ, rauschte es immer noch in seinem Kopf. Leichter Schwindel erfasste ihn. Er musste wirklich dringend etwas gegen den Bluthochdruck unternehmen.

    Mit unsicheren Schritten wankte er zum Waschbecken, hielt sich daran fest und starrte in den beschlagenen Spiegel. Nur langsam wich der Dunstschwaden und gab sein rundes, leicht gerötetes Gesicht preis. Ein Tropfen Blut rann aus seiner Nase. Verdammt! Allmählich müssten die Tabletten doch wirken. Ob er die Konturen seines Bartes noch trimmen sollte? Nein! Er war spät genug dran. Rasch trocknete er sich ab.

    Als er sich nach seiner Jeans bückte, die vom Toilettendeckel auf den Boden gerutscht war, wurde ihm einen Moment schwarz vor Augen. Schweiß brach aus all seinen Poren. Warum gab es in diesem Bad nur kein Fenster? Er öffnete die Tür zum Flur und zog sich an. Danach ging er die Treppe hinab und griff nach seiner Jacke. Als er in der Tasche den Autoschlüssel nicht fühlte, fiel ihm ein, dass er den auf dem Bett liegen gelassen hatte.

    Er musste noch einmal die Treppe hinauf. Jens keuchte, als er nach dem Schlüssel griff. Langsam ging er zur Treppe zurück. Ihm wurde speiübel. Alles drehte sich. Er hielt sich krampfhaft am Geländer fest und nahm die erste Stufe. Bei der dritten zuckte ein heftiger Schmerz durch seinen Brustkorb. Instinktiv ließ er das Geländer los und presste beide Hände auf sein Herz. Dabei übersah er die nächste Stufe und trat ins Leere. Er wollte sich noch ans Geländer klammern, doch er griff daneben. Sein massiger Körper fiel nach vorne. Er prallte mit der Schulter auf die Stufen, überschlug sich und donnerte die Treppe hinab ins Erdgeschoss, wo er reglos liegen blieb.

    Eine Woche später

    Die Zeitung in meiner Hand raschelt, als ich ein Blatt umschlage. Ich sehe die Todesanzeigen im Hellweger Anzeiger. Die Traueranzeige von ihm ist die größte. Da steht sein Name neben einem Kreuz. Gerade einmal 48 Jahre alt ist er geworden. Darunter ein Spruch, der nach Hohn und Lüge schreit.

    »Des Menschen Herz erdenkt sich seinen Weg, aber der Herr allein lenkt seinen Schritt. Sprüche Salomos 16,9.«

    Hohn und Lüge! Denn gestorben ist der Mann durch mich.

    Ich habe besorgt, womit sein Medikament manipuliert worden ist. Während er glaubte, seinen Blutdruck zu senken, hat der Inhalt der Kapseln ihn noch mehr in die Höhe gejagt, sodass er einen Herzinfarkt erlitten hat und die Treppe hinabgestürzt ist. Zum Glück hat der Notarzt keinen Verdacht geschöpft. Jens war ja ein Risikopatient.

    Was fühle ich beim Anblick seiner Todesanzeige? Mein Mund ist staubtrocken. Meine Hände zittern. Dennoch fühle ich mich nicht als Mörder. Auch nicht als Henker. Es war nicht meine Absicht. Ich konnte ja nicht wissen, dass …

    »Man wird dich dafür verantwortlich machen!« Kalte Worte. Leise gezischt und doch deutlich.

    Ich schüttele den Kopf. Das kann nicht sein. Das wird nicht sein.

    Außerdem ist niemand ohne Schuld, erst recht nicht Jens. Dennoch … wenn irgendjemand herauskriegt, dass dieses Zeug von mir ... Ich schließe verzweifelt die Augen.

    Es darf niemals jemand erfahren.

    Ich starre eine Weile auf die Todesanzeige. Irgendwann habe ich endlich die Kraft, die Zeitung zu schließen. Das Papier knistert laut.

    Dann ist es wieder ruhig um mich herum.

    Drei Monate später

    Mittwoch, Eröffnungstag der Festa Italiana

    1. Kapitel

    Ob die südländischen Klänge von den Bühnen des italienischen Festes bis zu ihr in die Lortzingstraße hallten, konnte Kriminalhauptkommissarin Maike Graf nicht hören. Aus der Nachbarwohnung drang das Kreischen der Flex, die Nick Nigge nun seit Stunden nur mit kurzen Unterbrechungen aufheulen ließ. Dabei störte es Nigge weder, dass es mittlerweile auf 22 Uhr zuging, noch, dass sein Hund ununterbrochen bellte. Nigge war Alleinunternehmer und arbeitete daher nur in seiner Freizeit an der Renovierung. Seit Monaten stand Baumaterial im Flur und Maike musste sich den Weg zu ihrer eigenen Wohnung über Fliesenkartons und Zementsäcke bahnen. Dazu kam, dass Nigge seinen Hund viel zu oft allein ließ.

    »Armer Bolt«, murmelte Maike und meinte damit den Labrador ihres Nachbarn. Sie trank das Glas Mineralwasser leer und griff nach ihrer Lederjacke. Den heutigen Abend würde sie sich nicht verderben lassen. Sollte der Typ ruhig weiterlärmen! Irgendwann würde die alte Döring aus dem Erdgeschoss für Ruhe sorgen.

    Bevor Maike die Wohnung verließ, warf sie einen letzten Blick in den Spiegel. Ihr welliges braunes Haar, das sie während der Arbeitszeit meist hochsteckte oder zu einem Pferdeschwanz zusammenband, umspielte sanft ihre Schultern. Zur Jeans trug sie eine weiße Leinenbluse und ebenfalls weiße Sneakers. Als Maike den Hausflur betrat und die Treppe hinabstieg, vermied sie es, den Handlauf zu berühren, über den sich eine weiße Schicht Zementstaub gelegt hatte. Als endlich die Haustür hinter ihr zufiel, atmete sie auf.

    Maike schlug den Fußweg Richtung Innenstadt ein. Sie war um zehn mit den Kollegen Teubner und Reinders am Rathausplatz verabredet. Überall sah sie Menschenmassen in die Innenstadt strömen. Heute am Eröffnungstag des italienischen Festes schien ganz Unna auf den Beinen zu sein. Allmählich sah sie die ersten Lichter leuchten und hörte laute Musik, die von der Bühne am Rathaus herüberschallte. Sie erkannte den Song Lasciatemi cantare von Toto Cotugno. Eine Gruppe Frauen mittleren Alters grölte den Text mit. Sie hatten sich eingehakt, hüpften wie kleine Schulmädchen und lachten albern.

    Endlich erreichte Maike die Fußgängerzone und blieb überwältigt stehen. Dicht gedrängt schob sich eine Lawine aus Menschen über die Bahnhofstraße, unter den hohen Lichterbögen aus filigranem, weiß lackiertem Holz hindurch, an denen Tausende bunter Glühlampen leuchteten. Laut eines Berichts im Hellweger Anzeiger waren an die 500.000 installiert worden. Links von Maike erhob sich zwischen Post und Rathaus eine prachtvolle Bühne, die wie ein bunt illuminierter Tempel wirkte. Davor eine Menschentraube, die gerade nach Zugabe schrie und applaudierte, als der Sänger der italienischen Band nach seiner Gitarre griff. Als der Italiener die ersten Klänge des Songs Se bastasse una canzone von seinem berühmten Kollegen Eros Ramazzotti anschlug, jubelten die Fans.

    Rechts neben der Bühne, auf dem Rathausplatz, erhob sich ein Riesenrad, das die dahinter gelegene Kirche Sankt Katharina an Größe übertraf. Darunter duckten sich Buden, die italienische Spezialitäten anboten. Die davorstehenden Bierzeltgarnituren waren allesamt besetzt. Maike bahnte sich einen Weg durch die Menschenmassen und hielt Ausschau nach ihren Kollegen. Endlich erkannte sie auf einer der Sitzbänke Sören Reinders. Erleichtert ging sie auf ihn zu.

    »Hey, Sören, ist Max noch nicht da?«

    »Setz dich«, erwiderte Reinders und zog seine Jacke beiseite, um ihr Platz zu machen. »Teubner sorgt für Getränke.«

    Maike rutschte neben ihn auf die Bank. Ihr Blick fiel auf die Bühne, wo sich der Italiener gerade unter Applaus verabschiedete.

    »Hallo, Maike. Zum Wohl!«, grüßte Teubner. Er balancierte drei Gläser Rotwein auf einem Tablett und schob sich neben ein Ehepaar gegenüber von Maike auf die Bank. Er hatte sich für den Abend in Schale geschmissen. Zur Jeans trug er ein kurzärmeliges weißes Oberhemd. Seine sonst so wirr stehenden braunen Haare, durch die sich blonde Strähnen zogen, hatte er mit Gel in Form gebracht.

    »Prost!«, sagte Maike, hob ihr Glas und stieß mit den Kollegen an.

    »Hast du es doch noch geschafft, dich aus dem Büro loszueisen?«, fragte Teubner. Für den Moment konnte man sich in normaler Lautstärke unterhalten.

    Maike nickte nachdenklich. Max Teubner hatte ihr gemeinsames Büro in der Polizeidienststelle Unna verlassen, als sie eine ältere Dame befragt hatte, die einen Kupferdiebstahl anzeigen wollte. Unbekannte Täter hatten von ihrem Haus die Dachabflussrinne abmontiert. Maike kannte solche Fälle zuhauf. Meist waren reisende Banden dafür verantwortlich, die nur selten gefasst werden konnten.

    »Ja«, sagte sie. »Leider konnte die Bürgerin, die den Diebstahl anzeigen wollte, keine Täterbeschreibung abgeben. Sie hat den Verlust der Dachrinne erst bemerkt, als sie morgens mit ihrem Hund vom Brötchenholen kam. Der oder die Täter müssen …«

    »Hallo!«, meckerte Reinders, verdrehte seine sonst immer lebhaft blickenden braunen Augen und raufte sich die blonden Haare. »Wir haben FEIERABEND! Soll ich Nachschub holen oder wollen wir uns von der Menge zum Marktplatz treiben lassen?«

    Maike antwortete nicht und blickte interessiert zu einem Einsatzwagen der Kollegen, der mit blickendem Blaulicht in einer nahen Seitenstraße hielt. Zwei Uniformierte bahnten sich den Weg durch die Menge und steuerten auf das Riesenrad zu.

    »Sie kann nicht abschalten«, jammerte Reinders und brachte seinen schlaksigen Körper in die Senkrechte. »Ich hol also erst einmal Nachschub.«

    Da auf der Bühne nun ein Paar den Hit Felicità von Al Bano und Romina Power coverte, fing die Menschentraube davor wieder an, mitzusingen, was eine Konversation unmöglich machte. Nach einer Weile zwängte sich Reinders durch die dicht stehenden Tische mit den Weingläsern auf einem Tablett zurück. Er bewegte die Lippen. Sang er etwa mit? Maike musste grinsen. Sie nahm ihm ein Glas ab und hob es in Richtung ihrer Kollegen. »Die nächste Runde geht auf mich!«, rief sie und trank. Im nächsten Moment erkannte sie Polizeioberkommissar Gerold Schmidtke von der Bereitschaft, der die Gäste an den Bierzeltgarnituren befragte. Einige Minuten später trat er zu ihnen.

    »Hey, Gerold!«, grüßte Reinders. »Heute Bereitschaft zu haben, ist kein Vergnügen, was?« Er grinste und knuffte den Kollegen in die Seite.

    »Nee. Bestimmt nicht. Erst recht nicht, wenn hier auf dem Fest ein Kind verschwindet und wir total unterbesetzt sind. Die Mutter macht sich kirre und behauptet, ihr Torben wäre entführt worden.«

    »Felicitá«, grölte die Menschentraube.

    »Und?«, rief Reinders gegen den Lärm an. »Was steckt dahinter?«

    Der Uniformierte hob ratlos die Schultern. »Ich kenne die Familienverhältnisse nicht. Der Kindsvater soll seiner Ex-Frau heute Morgen gedroht haben, sich den Jungen zurückzuholen. Nun glaubt sie, er hat ihn in seine Gewalt gebracht und er könnte ihm etwas antun. Die Frau hat sich mir gegenüber ziemlich hysterisch verhalten und ihre Behauptungen klangen reichlich übertrieben. Wir müssen der Sache jedenfalls nachgehen.«

    »Wann ist das Kind denn verschwunden?«, fragte Maike.

    »So gegen 21 Uhr heute Abend«, erwiderte Schmidtke.

    Maike blickte auf die Uhr. »Das sind nicht einmal zwei Stunden. Könnte sich der Junge nicht allein auf dem Fest amüsieren?«

    »Die Mutter behauptet, dann hätte er Bescheid gegeben. Alessia Sobek, arbeitet hier an dem Stand ihrer Eltern, die ein italienisches Restaurant betreiben«, erklärte er laut. »Vielleicht habt ihr ja Lust, bei der Suche zu helfen?«

    Maike und Teubner schwiegen wenig begeistert.

    »Klar helfen wir«, erklärte Reinders jedoch spontan. Vermutlich, weil er selbst eine Tochter im Alter des verschwundenen Jungen hatte und die Sorgen der Mutter gut verstehen konnte. »Hast du ein Foto?«

    Polizeioberkommissar Schmidtke nickte und zückte sein Handy. Er rief die Datei auf und hielt sie den Kollegen entgegen. Das Bild zeigte das blasse Gesicht eines etwa 10-jährigen Jungen mit kurzen, dunkelbraunen Haaren und braunen Augen. Seine schmalen Lippen lächelten zaghaft. Er wirkte wie ein zerbrechliches Kerlchen.

    »Schick uns die Datei rüber«, bat Reinders.

    Schmidtke nickte und schickte das Foto auf Reinders Handy, der es an Maike und Teubner weiterleitete.

    »Wie können wir helfen?«, fragte Maike.

    Schmidtke rieb nachdenklich über seinen Dreitagebart. »Den Wagen des Vaters haben wir auf keinem der näheren Parkplätze finden können, die Festa-Besucher gewöhnlich benutzen. Er scheint also nicht oder nicht mehr hier zu sein. Natürlich könnte er auch zu Fuß in die Innenstadt gekommen sein. Die Frage ist, ob der Junge wirklich bei ihm ist. Aber in diesem Tumult wird es schwer, eine Spur von ihm zu finden. Ihr könntet die Leute Richtung Marktplatz befragen.«

    »Habt ihr versucht, den Vater zu erreichen?«, mischte sich Teubner ins Gespräch, das nun relativ normal verlaufen konnte, da die Musiker eine Pause eingelegt hatten. »Vielleicht ist ja alles ganz harmlos und der Mann amüsiert sich nur ein wenig mit seinem Sohn auf dem Fest. Wer weiß, wie oft er den Jungen sehen darf.«

    Schmidtke nickte und hob gleichzeitig ratlos die Schultern. »Der Vater ist weder über Handy, noch in seinem Büro oder bei sich zu Hause erreichbar. Seine Lebensgefährtin hat keine Ahnung, wo er sich aufhält. Davon, dass er sich mit Torben treffen wollte, weiß sie nichts.«

    Reinders leerte sein Weinglas und zündete sich eine Zigarette an, deren Rauch er tief in die Lungen sog. »Man kann Kindesentzug nicht ausschließen. Außerdem wissen wir nicht, was in der Familie los ist. Torben könnte sich also tatsächlich in Gefahr befinden. Warum sollte die Mutter so eine Drohung erfinden?«

    »Okay«, seufzte Maike. »Wir wollten sowieso Richtung Marktplatz aufbrechen. Wir befragen die Händler und Gastronomen in der Fußgängerzone. Denen fällt wahrscheinlich am ehesten etwas auf.«

    2. Kapitel

    Auch kurz vor Mitternacht schallten die italienischen Klänge weiterhin aus den Lautsprechern der beiden Bühnentempel durch die Innenstadt. Maike zwängte sich zwischen den immer noch dicht gedrängt stehenden Menschen. Ihr Ziel war der Sammelpunkt am Nordring, einer Seitenstraße nahe der Fußgängerzone. Leider hatte die Befragung der Festa-Besucher und Händler bislang nichts gebracht. Max Teubner und Sören Reinders beteiligten sich weiterhin an der Suche nach Torben. Man hatte Verwandte, Freunde, Mitschüler und seine Vereinskollegen vom Fußballclub kontaktiert. Niemand hatte ihn gesehen. Der Junge galt nun seit drei Stunden als vermisst und man musste sein Verschwinden ernst nehmen.

    Inzwischen war eine Ermittlungsgruppe aus Dortmund hinzugezogen worden, unter der Leitung von Jochen Hübner. Als Maike ihrem langjährigen Lebensgefährten, den sie vor einigen Jahren verlassen hatte, jetzt gegenübertrat, bemerkte sie ein Kribbeln in der Magengegend. Wie oft hatte sie bereut, ihm den Laufpass gegeben zu haben? Er hatte sich kaum verändert. Die dunklen kurzen Haare lagen korrekt nach hinten frisiert, vielleicht war der Bart etwas grauer geworden. Ein freudiges Flackern glitzerte in seinen graugrünen Augen, als er sie jetzt erkannte.

    »Hallo, Maike! Schön, dich zu sehen.«

    »Hallo, Jochen!« Sie lächelte, hätte ihn am liebsten gefragt, ob sie nicht wieder einmal zusammen essen gehen könnten.

    Er räusperte sich und klärte sie dann über den aktuellen Ermittlungsstand auf. »Es ist stets ein Drama, wenn ein Kind verschwindet. Würdest du die Mutter des Jungen noch einmal befragen? Sie sitzt drüben im Mannschaftswagen.« Er deutete auf ein Polizeifahrzeug, das am Straßenrand abgestellt war.

    Maike nickte. »Klar, mache ich.« Kurz darauf stieg sie in den Transporter, wo sie sich Alessia Sobek gegenübersetzte und sich als Hauptkommissarin vorstellte.

    »Man muss doch irgendwas tun können!« Die Italienerin wirkte nervös und verzweifelt. Sie schien etwas kleiner als Maike zu sein und etwa im gleichen Alter, also Ende 30. Zur engen schwarzen Hose trug sie gleichfarbige Pumps, eine weiße Bluse, die über der Brust etwas spannte, und unter dem Blusenkragen ein rotes Tuch, das auf einheitliche Berufskleidung im Service auf dem italienischen Fest deutete. Ihr kräftiger Körper rutschte unruhig auf dem Autositz hin und her.

    »Haben Sie das Telefon von Thomas schon geortet?«, fragte sie aufgeregt. »Mein Ex-Mann hat Torben entführt. Ich bin mir sicher!« Sie trommelte mit den Fingern auf ihre Oberschenkel.

    »Beruhigen Sie sich bitte«, bat Maike. »Verschwundene Kinder tauchen in der Regel sehr schnell wieder auf.« Sie verschwieg der Frau, dass das Telefon ihres Ex-Mannes ausgeschaltet war und sich somit nicht orten ließ.

    »Sie verstehen das nicht!«, begehrte die Italienerin nun auf. »Wenn Torben bei Thomas ist, sehe ich ihn vielleicht nie wieder. Mein Gott, hätte ich doch nur besser aufgepasst!«

    Maike kamen die Worte von POK Schmidtke in den Sinn, der Alessia Sobek unterstellt hatte, sie würde maßlos übertreiben. Vielleicht fühlte sich Torben bei seinem Vater wohler? »Haben Sie eine Idee, was Ihr Ex-Mann mit dem Jungen vorhaben oder wo er sich mit ihm aufhalten könnte?«

    »Was weiß ich?«, murrte Alessia Sobek. »Vermutlich hat er ihm irgendwas versprochen und ihn unter einem Vorwand in seinen tollen Mercedes gelockt. Um ihn dann mit sich nach Hause zu nehmen. Haben Sie da nach ihm gesucht?«

    Maike hatte das Licht im Mannschaftswagen eingeschaltet, einen Laptop auf ihrem Schoß abgestellt und tippte die Aussage der Frau mit. Nun blickte sie auf. »Den Mercedes Ihres Mannes haben die Kollegen inzwischen im Parkhaus an der Massener Straße gefunden. Laut seiner Lebensgefährtin Birte Winkler stellt er das Auto dort stets ab, wenn er in seiner Kanzlei zu tun hat. Dort hat niemand geöffnet. Frau Winkler hat übrigens sofort eingewilligt, als wir uns im Haus Ihres Ex-Mannes umsehen wollten. Dort gibt es leider weder eine Spur von Torben noch von Ihrem Ex-Mann. Frau Winkler ist selbst in Sorge.«

    Alessia Sobek wischte diese Information mit einer fahrigen Handbewegung beiseite. »Was heißt das schon! Thomas kann mit dem Jungen überall sein. Das muss er der Tussi ja nicht gesagt haben.«

    »Vielleicht beginnen wir ganz von vorn«, bat Maike geduldig. »Dann kann ich mir ein besseres Bild machen. Sie haben Torben heute mit aufs italienische Fest genommen, obwohl Sie wussten, dass Sie kaum Zeit für ihn haben würden?«

    Alessia Sobek seufzte tief. »Mein Gott, ja. Er ist ja kein Kleinkind mehr. Und die Mutter seiner Freundin Fiona wollte später nach ihm sehen. Aber da war Torben schon weg.« Sie schlug die Beine übereinander, revidierte ihre Haltung, da sie ihr wohl unbequem war und schob die Füße vor den Sitz. »Meinen Eltern gehört das Ristorante Riccardo Rossi in Unna-Königsborn. Zum Fest übernimmt dort meine Mutter, ich helfe Vater am Stand vor der Kirche Sankt Katharina. Torben wollte zur Eröffnung unbedingt mit, also hat er uns heute so gegen 15 Uhr in die City begleitet.« Sie schob eine Strähne ihrer dunklen, welligen Haare, die sich aus ihrer Hochsteckfrisur gelöst hatte und ihr ständig ins Gesicht fiel, hinter die Ohren. »Natürlich wurde ihm bald langweilig. Irgendwann half auch das Smartphone nicht mehr.«

    »Und da fanden Sie Zeit, mit ihm ins Riesenrad zu gehen?« Maike dachte an die Menschenmassen auf dem Fest, die möglichst schnell bewirtet werden wollten.

    »Ich hatte es Torben am Nachmittag versprochen. Das Columbia-Rad steht ja in der Nähe unseres Stands. Meine Mutter konnte das Rossi vorzeitig schließen, da keine Gäste gekommen sind. Als sie hier eingetroffen ist, bin ich mit meinem Sohn zum Riesenrad gegangen.«

    »Was passierte als Nächstes?«, fragte Maike und beobachtete aus den Augenwinkeln

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