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Schönbuchrauschen: Ein Baden-Württemberg-Krimi
Schönbuchrauschen: Ein Baden-Württemberg-Krimi
Schönbuchrauschen: Ein Baden-Württemberg-Krimi
eBook323 Seiten4 Stunden

Schönbuchrauschen: Ein Baden-Württemberg-Krimi

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Über dieses E-Book

Kommissar Kupfer leiht seinem Freund OW - kurz für Otto Wolf - das neue Citybike für eine spätherbstliche Tour durch das Goldersbachtal. Frohgemut strampelt OW durch den menschenleeren Schönbuch - bis sein Ausflug jäh an einem Grillplatz endet, wo ein Toter auf der Bank sitzt. Es stellt sich heraus, dass hier ein äußerst bizarrer Mord begangen wurde. Das Opfer wurde mit mehreren ungewöhnlichen Methoden zugleich getötet - als hätte der Täter mehr als sicher gehen wollen. Die Recherchen des Böblinger Kriminalkommissars ergeben dann allerdings auch das Bild eines nicht ganz unschuldigen Opfers, dessen kriminelles Doppelleben und wechselnde Liebschaften ihre Spuren hinterlassen haben. Mit Hilfe von Facebook und Daten über Geldtransfers Aktiengeschäfte per Internet wird der Kreis der Verdächtigen immer kleiner. Da bringt sich OW im Eifer, seinem Freund bei den komplizierten Ermittlungen behilflich zu sein, selbst in höchste Gefahr ...
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum18. Okt. 2013
ISBN9783842516069
Schönbuchrauschen: Ein Baden-Württemberg-Krimi

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    Buchvorschau

    Schönbuchrauschen - Dietrich Weichold

    www.silberburg.de

    Erster Teil

    1

    Reifenquietschen, ein ohrenbetäubender Knall, Poltern und Klappern vieler Kisten und Flaschen, die auf der Straße aufschlagen, Klirren, Zischen – alles begleitet von den kreischenden Bremsgeräuschen des Bierlasters. Er kommt in der ansteigenden Rechtskurve zum Stehen. Hinter ihm und vor ihm auf der Gegenfahrbahn das jähe Abbremsen der Pkws. Ein Kleinwagen schafft es nicht mehr und rammt den Lieferwagen vor sich. Motoren werden abgestellt. Ein Moment Stille. Dann schnelle Schritte von allen Seiten.

    Glasscherben knirschen unter Schuhsohlen, zerbrochene Flaschen werden auf die Seite geschoben. Bierdunst steigt vom Asphalt auf. Um den schwarzen Golf GTI, der unter dem Laster eingeklemmt ist, bildet sich eine Menschentraube. Handys werden gezückt, 110 und 112 wird gewählt.

    »Er ist viel zu schnell in die Kurve gefahren.«

    »Dort hat es ihn hinausgetragen, und dann hat er zu stark gegengelenkt.«

    »An die kommt man nicht ran. Ohne Schneid- und Spreizgerät nichts zu machen.«

    »Leben die noch?«

    »Schwer zu sagen.«

    Eine Frau wendet sich ab und übergibt sich am Straßenrand.

    Die Polizei ist zuerst da. Zwei Polizeiautos. Der Verkehr wird umgeleitet. Zeugenaussagen werden notiert. Der Fahrer des Bierlasters steht unter Schock und wird im Polizeiwagen betreut. Feuerwehr, Rettungssanitäter und Notarztwagen kommen kurz hintereinander an die Unfallstelle.

    Scheinwerfer werden aufgestellt. Während die Feuerwehrmänner die Verletzten freischneiden, bereiten die beiden Rettungssanitäter den Abtransport vor und informieren die Klinik: zwei Schwerverletzte, bewusstlos, großer Blutverlust, OP vorbereiten.

    »Meinst du, die kommen durch?«

    »Der Beifahrer vielleicht. Ob’s der Fahrer noch lange macht? Ich weiß nicht.«

    Nach weniger als einer halben Stunde werden die Verletzten in die Klinik eingeliefert.

    2

    Er wusste, wo der Schlüssel lag. Das ließ ihm keine Ruhe. Es war schon gegen elf, als er hundemüde vom letzten Einsatz nach Hause kam. Er hängte seine Sanitäterjacke an den Haken, streifte die Schuhe ab und nahm eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank. Er setzte den Flaschenöffner an, dann verharrte er und schaute versonnen vor sich hin. Dann stellte er das Bier wieder zurück. Nein, heute lieber keinen Alkohol, sondern Kaffee. Er machte auf seinem Gaskocher Wasser heiß und goss sich einen großen Becher Pulverkaffee auf. Dann lehnte er sich auf dem Sofa zurück, legte die Füße auf den Tisch und pustete mit geschlossenen Augen über die Tasse. Mehrmals nippte er hastig an dem heißen Getränk und spürte, wie sich wohlige Wärme in seinem Körper ausbreitete, vom Rücken abwärts über die Oberschenkel, die Knie, bis in die Füße hinein. Nach einer Weile schlug er die Augen auf und setzte sich aufrecht hin. Er schaute sich um, als wäre er gerade in einem fremden Zimmer aufgewacht, und seine Behausung kam ihm erbärmlich vor. Das abgewetzte Sofa mit der undefinierbaren Farbe, das er sich vom Sperrmüll geholt hatte, die alten Stühle noch aus Großmutters Zeiten, dazu der billige Tisch, das ganze Gerümpel, dem man auf den ersten Blick ansah, wie mühsam er es zusammengetragen hatte. Manchmal schaffte er es, sich seine Wohnung schönzureden, wie überhaupt sein Leben. Aber wenn er so erschöpft war wie jetzt und die Bilder der Unfallopfer nicht loswurde, sah er alles nur noch grau in grau.

    Plötzlich setzte er mit einer energischen Bewegung den Kaffeepott ab, so dass etwas über den Rand schwappte, und stand auf. Er bereitete sich ein Abendessen zu aus Schwarzbrot, Fleischwurst und billigem Streichkäse, das er hastig verzehrte. Er machte große Bisse und spülte sie mit dem restlichen Kaffee und einem Glas Leitungswasser hinunter. Seine Gedanken waren nicht bei seiner Mahlzeit, und er war überrascht, als plötzlich nichts mehr auf dem Teller war. Er stand auf und ging zwei Schritte in Richtung Kühlschrank. Dann zögerte er. Er legte die rechte Hand auf den Magen und schaute auf die Armbanduhr: halb zwölf. Er holte den Wecker und stellte ihn auf ein Uhr. So lange wollte er noch warten. In voller Montur machte er sich auf dem Sofa lang und löschte das Licht.

    Er schloss die Augen, legte die Hände über der Brust zusammen und versuchte, langsam, tief und gleichmäßig zu atmen. Jetzt wollte er nur an seine Atemzüge denken, nur durchatmen und entspannen, vielleicht sogar ein wenig wegdämmern. Aber dann hätte er den Kaffee nicht trinken dürfen. Sein Puls war zu schnell. Über neunzig Schläge in der Minute. Er begann, seine Atemzüge zu zählen, wie er es oft tat, wenn er nach einem Einsatz nicht einschlafen konnte, weil er die Bilder nicht loswurde. Anfangs hatte er gedacht, dass er mit der Zeit nicht mehr so viel mit heimnehmen würde, wie man bei ihnen sagte, aber da hatte er sich getäuscht. Von einem schlimmen Verkehrsunfall nahm er immer etwas mit heim, das ihn bis in den Schlaf und oft auch darüber hinaus verfolgen konnte. Und der Griff zur Flasche, den er sich heute nicht erlaubte, verwischte die Bilder allenfalls etwas, konnte sie aber nicht ganz auslöschen.

    Heute war er noch nicht einmal aus dem Rettungswagen gestiegen, da wusste er schon, wer das Unfallopfer war. Er kannte die Autonummer: BB-FL 1976. Kein Zweifel, es war der GTI von Flipp.

    Flipp war zu schnell gefahren. Er musste die Rotenwaldstraße in den Stuttgarter Westen wild hinuntergerast sein. Allem Anschein nach war sein Golf am Scheitelpunkt der letzten scharfen Linkskurve nach rechts ausgebrochen, worauf er zu stark gegenlenkte und auf der linken Spur schräg unter einen Lastwagen fuhr. Der Aufprall war so heftig gewesen, dass auch die Airbags ihn nicht hatten schützen können. Die Masse des Lkws hatte die Karosserie wie eine Nussschale geknackt, und Flipps Oberkörper war wie ein Käfer zerquetscht worden. Er gab ihm eigentlich keine Chance mehr. Seinen Beifahrer, ohnmächtig und schwer verletzt, hatten sie ebenfalls in die Notaufnahme des Marienhospitals gebracht. Wenn einer von beiden durchkommen würde, dann er.

    Ob er nun die Augen öffnete oder schloss, immer sah er das völlig demolierte Auto mit den blutüberströmten Unfallopfern vor sich. Die Bilder quälten ihn.

    Als der Wecker klingelte, fuhr er hoch. Obwohl es ihm war, als hätte er sich die letzte Stunde nur von einer Seite auf die andere gewälzt, musste er doch etwas geschlafen haben. Er stand auf und ging ins Bad. Er spülte seinen Mund aus und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht.

    Dann schaute er aus dem Fenster. Es war noch nebliger geworden, ungewöhnlich neblig für die Jahreszeit. Er zog seinen Anorak an und setzte sich eine wollene Dockermütze auf, die knapp über seinen Augenbrauen saß und die ganze Stirn bedeckte. Darüber schnallte er seinen Fahrradhelm und griff nach seinem Rucksack. Als er schon an seiner Wohnungstür war, kehrte er noch einmal um. Aus dem Regal hinter der Küchentür, wo alles Mögliche durcheinanderlag, nahm er ein kleines Werkzeugset und steckte es in seinen Rucksack.

    Leise schloss er die Tür hinter sich. Er blieb stehen und lauschte. Es war so still, als wäre er allein auf der Welt. Wie auf Katzenpfoten schlich er die Treppen hinunter, öffnete im Zeitlupentempo die Haustür und trat hinaus. Weiter als hundert Meter konnte man nicht sehen. Umso besser. Lautlos schloss er sein Fahrradschloss auf und zog das Rad aus dem Ständer, dann trat er in die Pedale. An der Ecke schaute er noch einmal zurück. Der schwache Schein der Straßenlaterne drang kaum durch den Nebel. Er konnte sein Wohnzimmerfenster fast nicht mehr erkennen. Es war genauso dunkel wie alle anderen Fenster des Hochhauses.

    Er fuhr schnell, so dass ihm warm wurde. Den kalten Fahrtwind spürte er nur in den Augen.

    Als er vom Postplatz in die Gegend unterhalb des Krankenhauses hinauffuhr, schaltete er auf den kleinsten Gang herunter und ließ sich Zeit. Er wollte nicht schwitzen und nicht außer Atem kommen. In einer kleinen Seitenstraße, wo ein paar Büsche ihre Äste über den Zaun hinweg auf den Gehweg streckten, stieg er ab, schloss sein Fahrrad an der dunkelsten Stelle an einen Gartenzaun und ging zu Fuß weiter. Es begegnete ihm niemand.

    Er dachte an seine zufällige Begegnung mit Flipp. Neulich erst war es gewesen, in den letzten Augusttagen beim Stuttgarter Weindorf. Nach einer Frühschicht hatte es ihn an diesem schönen Tag nicht gleich nach Hause gezogen. Er wollte das schöne Wetter genießen und fuhr von Degerloch in die Stadt hinunter. Im Weindorf brodelte das Leben. Zwischen der Alten Kanzlei und dem Rathaus drängten sich gutgelaunte Menschen um die Stände, prosteten einander zu und amüsierten sich. Allein kam er sich etwas verloren vor. Seine Kollegen hatten Dienst oder waren im Moment nicht erreichbar, und bis zu Lauras Feierabend waren es noch Stunden. Ziellos schob er sich durch die Menge, ohne sich zu irgendetwas entschließen zu können.

    Er hätte Flipp an dem Tisch an der Ecke des Rathauses glatt übersehen, wenn der ihm nicht nachgerufen hätte.

    »Theo! Theo!«

    »Hallo Flipp! Dich habe ich ja ewig nicht gesehen.«

    Flipp war in Begleitung eines Kollegenpaars.

    »Was für ein Glück, dass ich dich jetzt gerade treffe. Die beiden wollen nämlich schon heimgehen, und ich habe absolut keine Lust, hier allein herumzustehen. Und nach meiner Wohnung ist mir’s jetzt noch nicht.«

    Theo fand Flipps unerwartete Herzlichkeit etwas überraschend, was er sich aber nicht anmerken ließ.

    »Okay, ich kann dir gerne ein bisschen Gesellschaft leisten.«

    »Theo Krumm oder der krumme Theo«, stellte ihn Flipp seinen Bekannten vor. »Wir haben einmal kurze Zeit miteinander studiert, ehe Theo plötzlich meinte, Pfarrer werden zu müssen.«

    Theo konnte dazu nur säuerlich lächeln.

    »Theo hat Theologie studiert?«, fragte die junge Frau amüsiert. »Sie sind Pfarrer?«

    »Nein, daraus wurde nichts. Ich bin Rettungssanitäter und bin gespannt, was sonst noch aus mir wird.«

    »Interessant. Eine offene Zukunft. Aufregend, oder?«

    »Ab und zu mal«, tat Theo das Thema ab und machte eine resignierte Handbewegung.

    Das Paar verabschiedete sich.

    »Setz dich hierher, ich hole uns was«, sagte Flipp, verschwand für einen Moment und kam mit zwei Gläsern Rotwein zurück.

    »Lass stecken. Ich gebe einen aus«, sagte er, als Theo nach seinem Geldbeutel griff.

    »Also gut, danke. Aber dann zahle ich …«

    »Kommt gar nicht in Frage. Heute will ich mir einen gönnen; mir ist’s einfach danach. Lass dich halt einladen.«

    Schon beim ersten Glas erzählte er, dass sein Vater im letzten Jahr gestorben war und seine Mutter in einem Pflegeheim gut untergebracht sei.

    »Weit weg«, fügte er hinzu, als Theo ein betretenes Gesicht machte. »Ich muss sie nicht jedes Jahr besuchen. Wahrscheinlich kennt sie mich ohnehin nicht mehr.«

    Theo wusste nicht, was er dazu sagen sollte, und betrachtete schweigend sein Henkelglas.

    »Guck nicht so, als ob das dein Problem wäre«, lachte Flipp und boxte ihm leicht auf den Bizeps, »das ist ja nicht mal meins.«

    »Aber du hast doch eine Menge Verwaltungskram an der Backe.«

    »Ich? Wieso denn? Das läuft alles irgendwie von allein. Ich konzentrier mich ganz auf meinen Facharzt.«

    »Und dann steigst du voll ein. Wann denn?«

    »Das steht noch lange nicht fest. Ehrlich gesagt, weiß ich noch nicht einmal, ob ich das wirklich will. Wahrscheinlich ist es angenehmer, noch ein paar Jährchen in aller Ruhe Wissenschaft zu machen und nicht gleich Praxischef zu spielen. Meine jetzige Situation lässt sich gut aushalten.«

    Theo konnte sich nicht so recht in ihn hineindenken, was Flipp schnell bemerkte.

    »Aber das muss ich dir jetzt auch nicht alles erzählen. Und wie geht es dir ganz privat, sozusagen im Intimbereich?«

    »So lala. Das willst du sicher nicht hören. Wie läuft’s bei dir?«

    »Na ja, wie das halt so ist, wenn die Partnerin sich mit einem Stipendium für ein Jahr oder länger nach Massachusetts zurückgezogen hat. Da bist du froh, wenn du zwischendurch mal eine Krankenschwester ins Bett kriegst.«

    Theos Brauen zuckten zusammen, aber ehe Flipp ihn recht ansah, hatten sich seine Züge wieder entspannt.

    Dann bestellte Flipp Rostbraten für beide und dazu noch einen Rotwein, aber diesmal vom besseren, wie er betonte. Er schwärmte von den Weingütern Württembergs, die sich inzwischen sogar einen internationalen Namen gemacht hatten, redete von Stettener Pulvermächer, Fellbacher Lämmler, Untertürkheimer Gips, Rotenberger Schlossberg und anderen Lagen, von denen Theo noch nie gehört hatte. Und es sei auch ganz phantastisch, erzählte er begeistert, dass sich in den letzten Jahren auch eine entsprechende Gastronomie entwickelt habe, die »auf diese neuen Spitzenweine genau zukoche«, wie er sich ausdrückte. Da bestellte man sich nicht mehr den Wein zum Essen, sondern das Essen zum Wein. Das sei geradezu ein kulinarischer Paradigmenwechsel.

    Dann hatten sie von gemeinsamen Bekannten geredet, Erinnerungen ausgegraben und waren, leicht angeheitert, einander fast so nahe gekommen wie damals, als sie sich gemeinsam auf das Vorphysikum vorbereitet hatten.

    Als sie gegessen hatten, meinte Flipp, jetzt sollten sie nicht mehr länger hier in dem Gewusel sitzen bleiben.

    »Ich kaufe noch was Anständiges zu trinken, dann fahren wir zu mir. Da bist du ja auch schon beinahe daheim.«

    Theo stimmte zu. Der Tag war ohnehin gelaufen, und er hatte nichts Besseres zu tun. Mit zwei Flaschen Spätburgunder Spätlese vom Großheppacher Kopf fuhren sie nach Böblingen und verbrachten den Rest des Tages bei Flipp.

    Sie saßen in Liegestühlen auf Flipps kleiner Terrasse und schauten über die Stadt hin.

    »Du lebst hier wie Gott in Frankreich«, hatte Theo gesagt, nachdem er das letzte Glas geleert hatte und sich auf den Heimweg machte.

    Er fand den Weg, als wäre er erst gestern hier gewesen. Vorsichtig öffnete er das Gartentor, das in den niederen Jägerzaun eingelassen war, lehnte es hinter sich wieder an und betrachtete das Haus. Still und dunkel lag es vor ihm, nichts regte sich. Er schlich über die Steinplatten auf den Eingang der Parterrewohnung zu. Er kniete nieder und drückte mit der Hand vorsichtig auf die Steinplatten, die an die Hauswand grenzten, und fand die lose Platte sofort.

    »Schau mal weg«, hatte Flipp damals spaßhaft gesagt und ihm die Rotweinflaschen in den Arm gedrückt. Und Theo hatte sich umgedreht, als wollte er den Blick auf die Stadt genießen. Dabei hatte er aber zurückgeschaut und beobachtet, wie Flipp mit der Fußspitze auf eine der roten Sandsteinplatten trat, die direkt an der Hauswand lagen. Die Platte kippelte und hob sich an der einen Seite. Flipp zog einen Schlüssel darunter hervor und sagte: »So einen großen Schlüssel kann man nicht immer mit sich herumschleifen. Ich will schon lange ein anderes Schloss einbauen lassen, aber glaubst du, ich komme dazu? Wenn ich daran denke, habe ich keine Zeit, und wenn ich Zeit habe, denke ich nicht daran. Daher das Versteck.«

    »Sehr geheim«, hatte Theo lachend gesagt, »ich habe nichts gesehen.« Dabei hielt er sich die gespreizten Finger vors Gesicht und kicherte albern.

    »Nein, du hast rein gar nichts gesehen. Aber wenn irgendwer in nächster Zeit meine Bude ausräumen sollte, dann hätte ich schon eine Ahnung, wer dahinterstecken könnte.«

    »Da wärst du aber im Irrtum. Dazu hätte ich viel zu viel Schiss. Und so was täte ich im Leben nie.«

    »Im Leben nie«, sagte er vor sich hin. In wessen Leben, war die Frage. Sein Leben oder Flipps Leben, für das er keinen Pfifferling mehr gab? Und er wollte die Bude schließlich auch nicht ausräumen.

    Er hielt den Atem an. Unendlich langsam und sachte ließ er die Sandsteinplatte kippen und griff darunter. Aber als er den Schlüssel in seinen Fingern fühlte, zog er wie erschrocken seine Hand zurück. Er holte ein Paar Latexhandschuhe aus der Brusttasche seines Anoraks und streifte sie sich über. Er ließ die Platte noch einmal kippen, holte sich den Schlüssel und brachte sie wieder in ihre vorherige Position. Dann stand er auf und atmete leise durch.

    Erst als er den Schlüssel ins Schloss stecken wollte, bemerkte er, wie stark seine Hand zitterte. Er musste mit seiner Linken seine Rechte festhalten, damit er den Schlüssel geräuschlos ins Schloss stecken konnte, und führte mit der einen Hand die andere beim Aufschließen.

    Er atmete erst auf, als er im Wohnzimmer stand. Kurz mussten sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnen. Dann tastete er sich in kleinsten Schritten zu den Fenstern hinüber und zog im Zeitlupentempo die Gardinen zu. Nun konnte er den Lichtschein seiner Stablampe durch den Raum schweifen lassen.

    Der Lichtkegel huschte über das Musikregal. Es reichte vom Boden bis zur Decke, nahm eine ganze Wand ein und bot Raum für ein paar tausend CDs, Jazz und Klassik, alles nur vom Besten, auch ein bisschen Popmusik. Flipp musste Tausende in diese Sammlung investiert haben. Als Theo das erste Mal hier gewesen war, hatte er staunend davorgestanden. So viel Musik konnte man doch im Leben nicht hören.

    »Ich habe auch noch längst nicht alles gehört. Aber es ist schön, diese Aufnahmen zur Hand zu haben, wenn man sie hören will. Nur komme ich in letzter Zeit gar nicht mehr dazu. Einfach zu wenig Zeit! Trotzdem ist es schön, sein Geld für so etwas auszugeben«, hatte Flipp gesagt.

    »Und ich bin schon froh, wenn ich mir ab und zu das leisten kann, was ich momentan unbedingt hören möchte«, hatte Theo trocken geantwortet.

    »Ja, ich bin schon in einer beneidenswerten Lage«, schloss Flipp das Thema ab. Er hatte wohl gemerkt, dass seine letzte Bemerkung nicht sehr glücklich gewesen war.

    Theo hatte gestaunt, wie wohlgeordnet die Sammlung war. Flipp war ja schon immer ein ordentlicher Mensch gewesen. Alles musste bei ihm seine systematische Ordnung haben, schon allein, weil er ja nicht alles im Kopf haben konnte, wie er stark übertreibend gesagt hatte.

    »Ich schreibe mir alles auf, aber auch alles«, hatte er erklärt.

    »Das würde mir nichts nützen. Ich würde meine Zettel nur verlieren oder könnte mich nicht daran erinnern, wo ich was aufgeschrieben habe.«

    »Aber das ist doch sehr einfach«, hatte Flipp ihn zu belehren versucht. »Du nimmst dir ein Notizbuch mit einem guten Register, das kannst du an jeder Ecke kaufen, und der Rest ist Gewohnheit. Was du dir merken musst, trägst du ein. Glaub bloß nicht, dass ich meine ganzen Codes und Passwörter im Kopf hätte. Im PC natürlich erst recht nicht, du weißt ja nicht, wer dich da ausspionieren kann. Nein, auf gutem altem Papier, schwarz auf weiß, und du bist auf der sicheren Seite.«

    »Und wenn du dein Papiergedächtnis verlierst?«

    »Das verlier ich nicht. Das kommt mir nicht aus dem Haus.«

    Wo war es also, das Papiergedächtnis? Wie sah es aus? Ehe er nach den Ordnern in dem niederen Regal neben dem Schreibtisch griff, setzte er sich hin und zog die Schublade auf. Voilà: ein dickes rotes Notizbuch mit Register. Er machte Stichproben. Einträge zu Amazon, Ebay, Facebook, Homebanking – alles vollständig. Er lachte vor sich hin. Es war ja alles so leicht, kinderleicht!

    Im schmalen Lichtkegel seiner Stablampe glitzerte Schweiß auf seiner Hand. Jetzt erst merkte er, wie warm es in dem Zimmer war. Er war nass unter den Armen und spürte ein Bächlein sein Rückgrat entlangrinnen. War es nur die Wärme oder auch die Anspannung? Er lockerte seinen Schal und nahm den Fahrradhelm und die Dockermütze ab. Dann griff er nach dem Ordner mit der Aufschrift »Finanzen«.

    Wie sollte er jetzt all diese Dokumente lesen? Dazu hatte er weder die Zeit noch die Nerven. Er schickte den Lichtstrahl auf die Suche und entdeckte unterm Schreibtisch den Drucker, der auf einem Rollwägelchen stand, eines dieser neueren Modelle mit integriertem Scanner und Kopierer. Er zog ihn hervor, schaltete ihn ein und kopierte Blatt um Blatt, was dieser Finanzordner enthielt.

    Er hatte sich bis zur Registerkarte »Homebanking« vorgearbeitet und lächelte genüsslich wie einer, der endlich sein Weinglas füllen konnte, nachdem er sich heftig mit dem Entkorken der Flasche hatte abmühen müssen. Homebanking – das war es doch. Keine Überweisung handschriftlich ausfüllen zu müssen, völlig ohne Unterschrift auszukommen, das war die Einladung, auf die er gewartet hatte. Doch da fiel sein Blick auf ein Schreiben der Bank, das einen neuen TAN-Generator betraf. Die lange Liste unbenutzter Transaktionsnummern, die er eben hatte kopieren wollen, nützte ihm gar nichts mehr. Stattdessen, so stand es in dem Schreiben, musste für jeden Vorgang mit diesem kleinen Gerät eine neue Nummer generiert werden. Das würde die Sicherheit erhöhen. Er spürte einen Kloß im Hals und musste erst einmal schlucken. Da er bei seinen beschränkten Verhältnissen bisher auf Homebanking verzichtet hatte, hatte er von einem solchen TAN-Generator noch nie gehört und wusste auch nicht, wie so ein Ding aussah. Aber die Bank verwies auf ihre Homepage. Dort könne man sich informieren. Und das tat er auch. Im Notizbuch fand er das Passwort des PCs und fuhr ihn hoch.

    Das Video auf der Homepage der Bank zeigte ihm, wie der TAN-Generator aussah. Jetzt sah er ihn. Das Apparätchen lag direkt vor seiner Nase neben Flipps Schreibzeug. Er hatte es nur nicht erkannt. Selbstironisch grinsend griff er danach und wollte es in die Tasche stecken. Da zog er die Stirn kraus. So etwas hatte er eigentlich nicht mitnehmen wollen. Doch ohne diesen TAN-Generator würde es nicht gehen. Aber wenn der verschwand, mussten auch alle Hinweise auf Homebanking verschwinden. Er nahm alles, was Homebanking betraf, samt der Registerkarte aus dem Ordner und legte es zu den Kopien. Dann kopierte er den Rest.

    Diese gleichmäßige Tätigkeit beruhigte ihn. Aber es war inzwischen gegen drei. Und wie immer, wenn er um diese Zeit wach war, bekam er Hunger. Er musste schnell etwas essen. Er fand den Weg in die kleine Küche. Im Kühlschrank stand eine angebrochene Flasche Chablis und eine Packung Räucherlachs, auch diese schon geöffnet. Er streifte die Handschuhe ab, griff nach der Packung und schob sich die Lachsscheiben zusammengedrückt in den Mund. Mit dem Handrücken wischte

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