Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Endlich frei: Ein Baden-Württemberg-Krimi
Endlich frei: Ein Baden-Württemberg-Krimi
Endlich frei: Ein Baden-Württemberg-Krimi
eBook289 Seiten3 Stunden

Endlich frei: Ein Baden-Württemberg-Krimi

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

In Gaildorf wird der wohlhabende Witwer Fritz Harlander ermordet in seiner Villa aufgefunden. Sein alter Intimfeind Herbert Lurcher, auf den der erste Verdacht fällt, hat ein wasserdichtes Alibi: Zur Tatzeit war er im eingestürzten Wetzsteinstollen in Spiegelberg eingeschlossen; erst Stunden nach Harlanders Tod wird er aus seiner misslichen Lage befreit.
Doch es gibt auch andere Verdächtige. So wurde Harlanders bulgarische Putzfrau dabei beobachtet, wie sie nach dem Tod ihres Arbeitgebers auffällig eilig dessen Villa verließ - und statt die Polizei zu rufen, machte sie sich aus dem Staub. Zur Tatzeit war außerdem ein Handwerker auf dem Gelände, und ob Harlanders rüde abservierte Geliebte ihren Exfreund wirklich schon tot vorgefunden oder ob sie sich an ihm gerächt hat, muss sich noch erweisen.
Dabei haben die Kommissare Schneider und Ernst noch ganz andere Schwierigkeiten. Polizeireform, Beziehungsprobleme, neue Kollegen - und seit einem Dezembertag am Ebnisee macht Schneider jeder laute Knall zu schaffen.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum10. Okt. 2014
ISBN9783842516441
Endlich frei: Ein Baden-Württemberg-Krimi

Mehr von Jürgen Seibold lesen

Ähnlich wie Endlich frei

Ähnliche E-Books

Thriller für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Endlich frei

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Endlich frei - Jürgen Seibold

    Silberburg-Verlag

    Mittwoch, 12. März

    Der zähe Oktobernebel war fast zum Greifen dicht. Er legte sich wie ein Leichentuch über die Hügel, die Wiesen, die Wälder und über die Wieslauf, die hier noch ein kleiner Bach war. Munter, vom diesigen Wetter völlig unbeeindruckt, plätscherte das kalte Wasser voran, sprang über Steine und rundgeschmirgelte Felsstufen, über umgestürzte Äste und unter einzelnen Grassoden hindurch

    Herbert Lurcher klappte das Buch zu, warf einen flüchtigen Blick auf das Cover, das die schwarze Silhouette eines Limesturms und einiger Bäume vor silbergrauem Himmel zeigte, und legte es weg. Dann nahm er die Brille ab und massierte sich die Nasenwurzel. Es war eine Plage, morgens so früh aufzuwachen, gleichgültig, ob man müde war oder nicht, und nicht einmal der Krimi, den er an diesem Morgen zu lesen beginnen wollte, lenkte ihn ausreichend ab.

    Zwei Tassen Kaffee später zeigte die Küchenuhr endlich kurz vor sieben, und er machte sich auf den Weg. Alles lief wie geplant, es gab sogar eine positive Überraschung, und ein paar Minuten nach acht klingelte er schließlich an der Tür eines Hauses an der Spiegelberger Hauptstraße. Kurz darauf schlüpfte Herbert Lurcher wieder auf den Fahrersitz, den Schlüssel zum Wetzsteinstollen in der Jackentasche.

    Fritz Harlander taumelte durch den Flur seiner Villa und hatte seine liebe Not, die Toilette noch rechtzeitig zu erreichen. Ob ihm nun der letzte Whisky der vergangenen Nacht zu schaffen machte oder die körperliche Anstrengung, mit der er gestern Abend seiner derzeitigen Freundin zu imponieren versucht hatte – heute Morgen war ihm auf jeden Fall hundeelend. Und als er wieder im Flur stand, noch immer mit wackligen Beinen, rieb er sich die Augen und gähnte. Er hatte viel zu wenig geschlafen, weil ihn ständig jemand angerufen hatte, ohne sich zu melden. Auf dem Display war keine Rufnummer zu sehen, nur die Angabe »Keine Anrufinfo«, und am Ende war er gar nicht mehr zum Telefon gegangen. Das nervtötende Klingeln hatte ihn trotzdem fast bis fünf Uhr immer wieder aus dem Schlaf gerissen. Und der Alkohol hatte ihm die Sinne zu sehr vernebelt, als dass er auf die naheliegende Idee gekommen wäre, das Telefon einfach stumm zu schalten oder den Stecker zu ziehen.

    Harlander kroch zurück unter die Bettdecke, doch kaum hatte er seinen Kopf aufs Kissen gebettet, meldete sich auch schon wieder sein Magen. Mit brummendem Schädel hockte er eine Zeitlang auf der Bettkante und dachte nach. Wie war das? Man sollte morgens mit dem weitermachen, womit man abends aufgehört hatte? Aber auf Whisky hatte er nun wirklich keine Lust, also schlurfte er hinüber in die Küche und nahm die angebrochene Flasche Champagner aus dem Kühlschrank. Sie war kalt und halb voll, und noch auf dem Weg ins Wohnzimmer nahm er einen großen Schluck direkt aus der Flasche. Er ließ sich aufs Sofa sinken, setzte die Flasche erneut an und ließ den viel zu kalten Champagner die Kehle hinunterrinnen. Dabei sah er mit trüben Augen über das grüne Glas und das markante Etikett hinweg in seinen Garten hinaus.

    Das perlende Getränk belebte ihn ein wenig. Er setzte die Flasche ab und stellte sie vor sich auf den Couchtisch, dann kramte er die Zettel hervor, auf denen er in den vergangenen Tagen einige Notizen gemacht hatte. Er überflog die Zeilen und lächelte, dann nahm er noch einen Schluck. Versonnen erinnerte er sich an den gestrigen Abend, und er musste zugeben, dass ihm die Kellerei der alten Witwe wieder einmal gute Dienste erwiesen hatte. Er kannte bessere Champagner, aber weil Frauen wie Susi von so etwas keine Ahnung hatten, kam es vor allem auf den klingenden und bekannten Namen der Marke an und darauf, dass sie jeder für besonders teuer hielt.

    Lächelnd ließ er seinen Kopf nach hinten sinken, und weil ihm der Magen im Sitzen keine Probleme bereitete, schloss er die Augen und schlief ein. Endlich.

    Er fuhr langsam auf der holprigen Landstraße bergauf durch den Wald und sah sich konzentriert nach einem Parkplatz oder einer Haltebucht um. Linker Hand gab es ein paar Stellplätze, aber dort stand schon ein alter Volvo, und auf Zuschauer konnte er gut verzichten.

    Chris Follath war genervt. Nun war er kaum eine halbe Stunde unterwegs, und schon musste er austreten – wie er so seine heutigen Termine halten sollte, war ihm schleierhaft. Aber eigentlich war das auch egal: Er war kein guter Außendienstler, seine Provisionen fielen entsprechend lumpig aus, und lieber heute als morgen hätte er sich einen anderen Job gesucht – wenn er nur endlich die Zeit, den Mut und die Energie dafür gefunden hätte. Seine Eltern hatten ihm bei der Berufswahl freie Hand gelassen. Kein Wunder: Welches Metier sollte ihm sein Vater auch verbieten, wo er selbst als Spieleerfinder doch auch nicht gerade auf Nummer sicher gegangen war. Auf ein Studium hatte Chris weniger Lust als auf selbst verdientes Geld – und so hatte er schließlich nach dem Abitur zwar eine Lehre begonnen, sie aber wenig später abgebrochen und schließlich als Vertreter angeheuert.

    Er steuerte seinen Kombi rumpelnd über eine tiefe Rinne am Straßenrand, ließ ihn ausrollen und machte, dass er aus dem Wagen kam. Offenbar hatte er im Zugangsbereich zu einem kleinen Bergwerk angehalten. Eine alte Lore stand auf einem schmalen Gleis, das durch eine vergitterte Tür einige Meter entfernt ins Dunkel führte. Follath hätte sich das Ganze gerne noch länger angesehen, aber er musste sich beeilen. Hinter einem Holzhäuschen mit Werbeplakaten für den Stollen, wo er von der Straße aus nicht gesehen werden konnte, stellte er sich breitbeinig auf und nestelte am Reißverschluss seiner Jeans. Kurz darauf schloss er erleichtert die Augen und lauschte dem Plätschern vor sich.

    Dass jetzt ganz leichter Nieselregen einsetzte, störte ihn nicht allzu sehr. Er würde ja gleich fertig sein und sich wieder ins Auto setzen können.

    Der ohrenbetäubende Knall kam ohne jede Vorwarnung.

    Polizeihauptmeister Rainald Hoger schreckte zusammen, als sein Vorgesetzter aufsprang, den Hörer noch in der Hand.

    »Gut, danke, wir fahren sofort los!«

    Horst Liebeneiner war kaum einssiebzig groß, hatte aber das Gewicht eines stämmigen Zweimetermannes, und entsprechend komisch wirkte es, als er nun gleichzeitig nach seiner Jacke griff, sich noch von den Kollegen in der Waiblinger Zentrale verabschiedete und seinen Bürostuhl mit einer heftigen Bewegung nach hinten stieß.

    »Los, Rainald, wir müssen!«

    Liebeneiner, Polizeihauptkommissar und Leiter des Postens in Sulzbach an der Murr, war so schnell nicht aus der Ruhe zu bringen, aber diesmal war er ganz rot angelaufen, und auf seinen Pausbacken und an seinem dicken Hals bildeten sich hektische Flecken.

    »Eine Explosion im Wetzsteinstollen?«, fragte Hoger nach. »Hab ich das gerade richtig gehört?«

    »Ja, ja, mehr weiß ich auch noch nicht. Die Waiblinger trommeln alle nötigen Helfer zusammen, und wir kümmern uns um den Zeugen und um die Absperrungen. Wir bekommen Verstärkung von den umliegenden Posten und Revieren. Los! Ich fahre!«

    Hoger seufzte und kramte zur Sicherheit noch ein paar Kaugummis aus der Schreibtischschublade, dann eilte er Liebeneiner hinterher, der schon hinausgerannt war, im Vorbeihasten noch die übrigen Kollegen alarmiert hatte und nun schwer atmend hinter dem Steuer saß. Kaum war die Beifahrertür zugezogen, drückte Liebeneiner auch schon das Gaspedal durch, und Hoger nestelte den ersten Kaugummi aus dem Silberpapier. Als ihnen Blaulicht und Martinshorn die Einfahrt auf die vielbefahrene Bundesstraße freimachten, steckte er sich den Pfefferminzstreifen eilig in den Mund, und als der Streifenwagen mit ordentlich Schräglage in die Landstraße Richtung Spiegelberg einbog, kaute er hektisch und sah mit starrem Blick möglichst weit nach vorne.

    Die Abzweigung ins Winterlautertal kam schnell auf sie zu – so schnell, dass Hoger einen kurzen besorgten Blick auf seinen Kollegen warf. Der schien das aus dem Augenwinkel zu bemerken, aber anstatt zu bremsen, grinste er und riss das Lenkrad herum. Mit quietschenden Reifen und einem leichenblassen Beifahrer schlingerte der Streifenwagen noch kurz über die vom Nieselregen feuchte Fahrbahn, bevor ihn der Fahrer wieder ganz unter Kontrolle bekam. Als sie etwa einen Kilometer später die Abzweigung in Richtung Jux hinauf erreicht hatten, nahm Liebeneiner auch diese Kurve mit Schwung und bremste im letzten Moment hart ab. Begleitet vom Knirschen einiger Steinchen, die auf dem Asphalt lagen, kam der Wagen zwei Handbreit hinter einem dort parkenden Kombi zum Stehen.

    Horst Liebeneiner stoppte den Motor, lehnte sich einen Moment im Sitz zurück und gönnte sich ein zufriedenes Lächeln, dann schnappte er sich seine Mütze und stieg aus. Rainald Hoger folgte ihm etwas langsamer, und während der Kollege schon zielstrebig auf einen Mann von etwa Mitte zwanzig zumarschierte, ließ sich Hoger mehr Zeit und stakste auf wackligen Beinen hinterher.

    »… und wann war das genau?«

    Liebeneiner hatte nicht auf den Kollegen gewartet, und als Hoger bei ihm und dem anderen Mann eintraf, hatte er die Befragung bereits begonnen. Der Befragte sah auf seine Armbanduhr.

    »Ziemlich genau um halb neun, also vor etwa zehn Minuten.«

    Liebeneiner kritzelte flink in seinem Notizblock, ohne den anderen dabei aus dem Auge zu lassen.

    »Und was haben Sie hier gemacht, Herr Follath?«

    Der Mann deutete hinter sich auf die Böschung neben der Bergwerkshütte.

    »Ich musste mal, da hab ich mich dort hinten hingestellt.«

    Liebeneiner senkte kurz seinen Blick, dann nickte er mit leichtem Grinsen.

    »Und dabei hat Sie die Explosion gestört, richtig?«

    »Ja, ich bin zu Tode erschrocken.«

    »Sieht man«, versetzte Liebeneiner trocken und schrieb weiter in seinem Notizblock.

    Follath sah an sich herunter und rieb dann mit den Handflächen ein paar Mal über seinen Hosenlatz, bevor er sich das Hemd aus dem Bund zupfte und es offen über die verspritzte Hose hängen ließ.

    »Das ist übrigens mein Kollege Rainald Hoger, unser Augenzeuge Chris Follath«, stellte Liebeneiner die beiden einander vor.

    Follath streckte automatisch die Hand aus, aber Hoger beachtete sie nicht weiter, sondern nickte ihm nur knapp zur Begrüßung zu. Follath ließ den Arm wieder sinken und wischte sich die Hände an den Oberschenkeln ab.

    Vom Tal her wurden mehrere Martinshörner lauter, dann kamen nacheinander auch schon Krankenwagen, die Spiegelberger Feuerwehr und kurz darauf die blau-weiß lackierten Fahrzeuge der in Backnang stationierten Ortsgruppe des Technischen Hilfswerks auf der Straße vor dem Wetzsteinstollen zum Stehen. Liebeneiner wollte ihnen gerade etwas zurufen, da winkte einer der Feuerwehrleute schon ab und rief ihm kurz zu, dass er von den Waiblinger Kollegen schon alles Nötige erfahren habe.

    »Ich komm gleich zu dir, Horst«, fügte er noch hinzu, dann deutete er auch schon hierhin und dorthin, um seine Leute auf die anstehenden Aufgaben zu verteilen.

    Vom einen Moment auf den anderen war der bis dahin so ruhig daliegende Wald von knappen Kommandos und schnellem Stiefelgetrappel erfüllt. An der unteren Abzweigung wurde eine Straßensperre aufgebaut, ein Fahrzeug flitzte mit aufheulendem Motor gleich wieder weiter, vermutlich um die Straße ein Stück weiter oben auch aus Richtung Jux abzuriegeln.

    Nach und nach gingen Meldungen bei Liebeneiner ein, dass Polizisten schon dabei waren, die Umgebung des Stollens noch weiträumiger abzuriegeln. Gleich hinter Gronau wurde der Verkehr aus Richtung Oberstenfeld über Prevorst umgeleitet, und an der Straße zwischen Sulzbach und Spiegelberg war die Abzweigung ins Winterlautertal inzwischen dicht. Anlieger wurden durchgelassen, und wenn sich ein Ortsfremder geschickt anstellte, konnte wohl auch er bis in die Nähe des Stollens gelangen, aber im Großen und Ganzen sollten die Absperrungen dafür sorgen, dass die Helfer ungestört ihre Arbeit erledigen konnten.

    Und zum Glück hörte in diesem Moment auch der Nieselregen wieder auf.

    Viel ruhiger war es an diesem Vormittag in der Gaildorfer Hölderlinstraße. Nach acht Uhr kam nur noch ab und zu ein Auto durch, vor den Häusern war die meiste Zeit über niemand zu sehen, nur in einem Vorgarten am westlichen Ende der Straße harkte eine ältere Frau Unkraut und bekam – schwerhörig und kurzsichtig, wie sie war – kaum etwas um sich herum mit.

    Kurz nach neun fuhr ein Lieferwagen in die Garageneinfahrt der Villa am oberen Ende der Straße. Ein Mann in Handwerkermontur, die Schildmütze tief ins Gesicht gezogen, stieg aus dem Fahrzeug, griff mit dünnen Handschuhen nach einem Werkzeugkoffer und marschierte damit am Haus vorbei nach hinten in Richtung Garten.

    Etwa fünf Minuten später flitzte ein gelb lackierter Kleinlaster heran und kam vor dem Haus neben der Villa schlingernd zum Stehen. Ein Endzwanziger mit dunkler Haut und kurz geschorenen Haaren sprang heraus, klemmte sich ein Päckchen unter den Arm und eilte mit federnden Schritten auf die Haustür zu. Er klingelte, wartete, klingelte erneut, und schließlich, als niemand öffnete, sah er sich um. An dem Lieferwagen vor der Villa blieb sein Blick kurz hängen, doch er entschied sich dann dazu, über die Straße zu gehen. Noch bevor er klingeln konnte, wackelte im ersten Stock ein Vorhang und eine untersetzte Frau mit bläulich schimmernden, blondierten Haaren winkte zur Straße hinunter. Kurz darauf schwang die Haustür auf, und die Frau ließ sich von dem Paketboten das Päckchen geben.

    »Und Sie wissen …«, setzte sie an.

    »Natürlich: Ich werf Herrn Lurcher die Benachrichtigung in den Briefkasten.«

    »Und außerdem?«

    Sie lächelte ihn schelmisch an, zwinkerte ihm zu, und plötzlich wirkte ihr hageres Gesicht um Jahrzehnte verjüngt.

    »Natürlich, Frau Schumm, versprochen ist versprochen.«

    Dann sagte er einen Spruch in einer fremden Sprache auf, verbeugte sich lächelnd, wandte sich ab, füllte im Gehen einen Zettel aus, warf ihn in den Briefkasten von Herbert Lurcher, winkte der Nachbarin noch einmal zu, hüpfte auf den Fahrersitz und fuhr zügig davon.

    Im Wald bei Jux hatten alle gut zu tun, nur Liebeneiner und Hoger berieten sich, wie sie weiter vorgehen sollten. Ein Kollege vom Sulzbacher Posten hatte die Rolle des »Meldekopfs« übernommen, an den alle Neuigkeiten durchgegeben wurden. Und für den Fall, dass sie später noch hier gebraucht würde, war auch schon die Rettungshundestaffel informiert. Der Spiegelberger Bürgermeister, ein sportlich wirkender Mann mit kurzen rötlich-blonden Haaren und randloser Brille, hatte sich von Liebeneiner aufs Laufende bringen lassen, dann eilte er auch schon zum Stolleneingang hinüber und fragte Feuerwehr und THW, ob er irgendwie helfen oder etwas für sie organisieren könne.

    Von Chris Follath, dem Augenzeugen der Explosion, würden die Polizisten nichts weiter erfahren. Er wurde inzwischen von der Besatzung eines der beiden eingetroffenen Krankenwagen untersucht, schien aber mit dem Schrecken davongekommen zu sein. Und was den Einsturz des Wetzsteinstollens letztendlich genau verursacht hatte, war vermutlich erst herauszufinden, wenn wieder jemand in den Stollen hinein konnte. Und es sah ganz so aus, als würde das noch eine Weile dauern.

    Der Stollen war im Eingangsbereich eingestürzt. Stählerne Leitplanken, die das Erdreich gehalten und das Dach des Stollens gebildet hatten, waren samt der Stützpfeiler heruntergestürzt, die Leitplanken hatten sich verkeilt und ragten nun auf etwa halber Höhe schräg nach oben. Die Gittertore des Wetzsteinstollens lagen auf dem Gleis der Feldbahn, das jetzt nicht mehr im dunklen Stollen endete, sondern in einem Durcheinander aus Stein und Stahl und Erde. Der Hang oberhalb des Stollenzugangs war teilweise nachgerutscht, und es war nicht zu sehen, wie weit in den Berg hinein die Sicherung des Stollens zerstört worden war.

    Ralph Reule, der Kommandant der angerückten Spiegelberger Feuerwehr, gab seinen Leuten ein paar Kommandos, und je einer aus seinem Trupp kletterte nun vorsichtig links und rechts vor dem Stollen den Hang hinauf.

    »So, Horst«, sagte Reule, als er zu Liebeneiner und Hoger trat, und rieb sich über die schweißglänzende Stirn, »jetzt sollten wir den Wassermann hier haben.«

    »Wer ist das?«

    »Arnold Wassermann wohnt in Spiegelberg, und er verwahrt einen der Schlüssel zum Wetzsteinstollen. Ein anderer ist im Rathaus – dort weiß aber niemand etwas von einem Besucher. In der Regel wenden sich Besucher ohnehin eher an Wassermann, und den haben wir bisher noch nicht erreicht. Also können wir im Moment nicht ausschließen, dass sich noch jemand im Stollen befindet.«

    »Könnte der auch selbst im Stollen sein?«

    »Theoretisch ja, aber …« Reule lachte heiser. »Aber Wassermann ist nicht so gern zu Fuß unterwegs. Der parkt immer direkt vor dem Loch – und sein Wagen steht hier nicht.«

    »Was fährt er denn?«

    »So einen alten Amischlitten, einen Pick-up, ziemlich rostig und verbeult, und immer mit allerlei Kram auf der Ladefläche.«

    »Sollen wir mal zu ihm rüberfahren?«, schlug Hoger vor. »Wir haben hier grad eh nicht viel zu tun. Und ihr könnt uns ja über den Kollegen auf dem Laufenden halten, sobald ihr was findet.«

    Er sah Liebeneiner fragend an, und der nickte. Reule gab ihm Wassermanns Adresse, und die beiden machten sich auf den Weg nach Spiegelberg. Doch weder vor dem Haus des Mannes noch auf den öffentlichen Parkplätzen daneben stand auch nur so etwas Ähnliches wie ein Pick-up, und auf das Klingeln an der Haustür hin öffnete niemand.

    »Wellat Sie zom Martin?«

    Liebeneiner wandte sich in die Richtung, aus der die schnarrende Stimme kam. Im Fenster eines Nachbarhauses lümmelte eine alte Frau mit wirren weißen Haaren auf einem dicken Kissen, das sie sich auf den Fensterrahmen gelegt hatte. Vor ihr war ein Blumenkasten aufgehängt, in dem aber derzeit nichts Blühendes zu sehen war: Ein fetter Kater lag auf der Blumenerde, blinzelte schläfrig vor sich hin und ließ sich von den knochigen Fingern der Frau kraulen.

    »Ja«, antwortete Liebeneiner, »ist er denn nicht zu Hause?«

    »Noi, noi«, sagte die Frau, verstummte dann wieder und sah milde lächelnd auf die Polizisten herunter.

    »Und wissen Sie, wo er ist?«, fragte Liebeneiner, als sie keine Anstalten machte, weiterzusprechen.

    »Wenn mr des emmer wisst, gell?«

    »Wie bitte?«

    »Ha, i dät’s Ihne scho saga, aber i woiß es halt net.«

    Hoger verkniff sich ein Grinsen, Liebeneiner wirkte eher genervt.

    »Und wie lange ist er schon weg, der Herr Wassermann?«

    »Des isch a guate Schtond her, gega Viertel neine isch er mit seim rauchenda Göppel drvo. Des schtenkt vielleicht, des kann i Ihne saga! Die reinschte Qualmwolka blost der henda naus! I han en scho azeiga wella, weil er mit seim Agäberschlitta des ganze Dorf verpeschtet, aber … aber mr will jo koin Ärger, gell?«

    Sie schaffte es, ihr runzliges Gesicht zugleich besorgt, verständnisheischend und missbilligend wirken zu lassen.

    »Und … könnten Sie sich vorstellen, wo er hingefahren sein könnte?«

    »Ha …«

    Sie hob die rechte Hand vom Kater und wies in Richtung Süden, wo die Hauptstraße zur Spiegelberger Ortsmitte hin und dann weiter in Richtung Sulzbach verlief.

    »Do nomm isch er nausgflitzt mit seim Göppel. Vielleicht isch er eikaufa, was woiß i!«

    Der fette Kater hob den Kopf und öffnete seine Augen ein wenig, als wolle er sich über das Ende der Streicheleinheiten beschweren. Die alte Frau kraulte ihn aber gleich weiter, und das Tier ließ sich wieder in seine vorige schläfrige Position zurücksinken.

    »Ond worom wellat Sie von dr Polizei eigentlich mit dem Martin schwätza?«

    »Dienstgeheimnis«, versetzte Liebeneiner kurz angebunden, tippte zum Abschied an seine Uniformmütze und ging zurück zum Streifenwagen.

    Kurz darauf sah er im Rückspiegel, dass die alte Frau sich weit aus dem Fenster lehnte, einen Passanten herbeiwinkte und abwechselnd in Richtung der davonfahrenden Polizei, dann wieder auf Wassermanns Haus zeigte und aufgeregt auf den Mann einredete. Auf der Fahrt zurück zum Wetzsteinstollen gab Liebeneiner an die Zentrale durch, dass Arnold Wassermann nicht zu Hause sei und im Moment niemand wüsste, wo er sich derzeit befinde. Die Kollegen hatten ebenfalls Neuigkeiten: Gerade sei ihnen mitgeteilt worden, dass einer der Feuerwehrleute eine Linie entdeckt hatte, die sich vom eingestürzten Stolleneingang in den Wald hineinziehe und die den verbrannten Rest einer Sprengschnur darstellen könnte.

    Frank Herrmann hätte es schlimmer treffen können. Die Polizeireform hatte die Polizeidirektionen der Landkreise Schwäbisch Hall, Ostalb und Rems-Murr zu einem Polizeipräsidium zusammengefasst, und als Leiter der Pressestelle hatte er seinen Dienstsitz nun am Stadtrand von Aalen. Die Kollegen waren nett, die Stimmung im Haus hatte sich nach der anstrengenden Umstellung der vergangenen Monate sehr gebessert, und von seinem Büro aus hatte er einen schönen Blick über die Stadt.

    Markus Berner war mit ihm von der Waiblinger Pressestelle hierher nach Aalen gekommen, und eben flitzte er mit einem Fotoapparat aus dem Nachbarzimmer, um eine neue Beamtin für eine interne Mitteilung zu fotografieren. Heute war ein ruhiger Tag, und das Nachrichtenportal im Internet wies nur einige kleinere Delikte aus. In Michelfeld hatte ein Brummifahrer beim Zurücksetzen ein Verkehrsschild übersehen, im Freilandmuseum Wackershofen war in der Nacht ein Fenster am Gasthaus mit einem faustgroßen Stein eingeworfen und die dortige Kasse aufgebrochen und geleert worden. In Adelmannsfelden hatte ein Nachbarschaftsstreit um eine nicht gefegte Hofeinfahrt zu einer Schlägerei zwischen zwei Rentnern geführt, und in Grunbach hatte eine betrunkene Mittvierzigerin mit ihrem Kleinwagen

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1