Ungeschminkt in London
Von Stephanie Rapp
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Über dieses E-Book
Stephanie Rapp
Jahrgang 1973, war mehrere Jahre in der Leitung von "Studenten für Christus" in Freiburg tätig. Inzwischen arbeteitet sie als Lektorin und Autorin. Ihre Leidenschaft sind Geschichten voller Spannung und Information. Sie ist verheiratet und hat zwei Kinder.
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Buchvorschau
Ungeschminkt in London - Stephanie Rapp
Prolog
»Mach doch was!«, keuchte Anna. Malcolm schwitzte. Was sollte er denn tun? Ruhig bleiben, er durfte jetzt nicht die Nerven verlieren. Er hupte erneut. Doch der Laster, der sich weiter oben auf spiegelglatter Fahrbahn quergestellt hatte, löste sich dadurch nicht in Wohlgefallen auf.
Anna stemmte ihre Beine mit aller Kraft unter das Handschuhfach, um sich auf eine weitere Wehe zu konzentrieren. Schlimmer konnten die Schmerzen nun nicht mehr werden. Doch das hatte sie schon vor einer Stunde gedacht, als sie sich auf den Weg gemacht hatten, und es war mit jeder Wehe schlimmer geworden. Es war ein Fehler gewesen, zur Klinik zu fahren. Sie hätten zu Hause bleiben und eine Hebamme rufen sollen.
Anna wollte Malcolm gerade sagen, dass sie jetzt aussteigen und das Kind direkt hier neben dem Auto auf dem gefrorenen Bürgersteig vor den Augen aller anderen Fahrer gebären würde, als ihr eine neue Wehe den Atem raubte. Die Wehen kamen jetzt regelmäßig in kurzen Abständen. Was in aller Welt sollte sie tun? Sie schob ihren Sitz noch weiter nach hinten, bis zum Anschlag. Aber jetzt hatte sie keinen Widerstand an den Beinen mehr.
Sie heulte fast.
Es war der schlechteste Zeitpunkt, um in dieser Stadt ins Krankenhaus zu fahren. Vor eineinhalb Stunden hatte ein heftiger Eisregen eingesetzt, und die Straßen waren unvermittelt spiegelglatt geworden. Derart glatte Straßen hatte es in Nordengland das letzte Mal vor vierzehn Jahren gegeben. Niemand war auf so etwas vorbereitet. Fast gleichzeitig, um 22 Uhr, war das Fußballspiel gegen Manchester United im St. James' Park zu Ende gewesen. Und ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt war ihre Fruchtblase geplatzt.
Die Barrack Road war wegen einer Baustelle zurzeit nur in Richtung Stadt befahrbar, und so hatte sich die Autoschlange der aufbrechenden Fans in Richtung A 167 über die Great Northern Road in Bewegung gesetzt. Somit schien sich die ganze Welt zusammen mit Anna und Malcolm in der Claremont Road eingefunden zu haben, die jedoch – sie hatten es kaum glauben können – zu allem Überfluss ebenfalls einseitig abgesperrt war. »Warum um alles in der Welt verlegen die an den wichtigsten Straßen gleichzeitig Rohre, und das auch noch während eines Fußballspiels?« Malcolm schrie fast. Und jetzt schrie auch Anna vor Schmerzen.
»Wenn wir nur zurückstoßen könnten bis zur King's Road!«, sagte Malcolm heiser. »Anna, es sind nur noch ein paar Meter bis zur Queen Victoria Road, kannst du nicht zu Fuß gehen?« Als Antwort bäumte sich Anna hoch in ihrem Sitz auf.
»Ich trage dich dorthin!«, sagte er fast flehentlich. Dabei war ihm klar, dass man eine Gebärende nirgends hintragen konnte, auch wenn das Krankenhaus nur einen Katzensprung entfernt lag.
Ohne etwas zu sagen, riss Malcolm die Tür auf und stieg aus. Er holt Hilfe aus dem Krankenhaus, dachte Anna erleichtert. Doch Malcolm schien andere Pläne zu haben. Anna bekam zwischen zwei Wehen gerade noch mit, wie er wild gestikulierend auf den Fahrer des ersten Autos einredete. Er rannte zum nächsten Auto, während der erste Fahrer schon begann, das Auto umständlich vor- und zurückzurangieren. Es würde Zeit brauchen, bis die eng aneinander stehenden Autos eine Gasse gebildet hatten. Zeit, die Anna nicht hatte. Im Rückspiegel sah sie Malcolm von Fahrer zu Fahrer rennen, sein Bestes gebend. Da spürte sie, dass sie pressen musste. Oh Gott, hilf mir. Sie wiederholte den Satz immer wieder, unfähig, irgendetwas anderes zu denken. Während ihr Mann sich immer weiter die Straße hinunter zu entfernen schien, schob sich Anna mit letzter Kraft ihre Hose bis zu den Knien, schrie und presste.
Als Malcolm ihr Auto wieder erreichte, lag das blutige Menschlein zwischen Annas Beinen. Es war ein Junge.
Malcolm riss die Augen auf. Ihm fehlten die Worte.
Das Kind schrie nicht. Lebte es überhaupt? Panik erfasste Anna. »Malcolm, er atmet nicht!« Malcolm starrte nur. »Malcolm, schnell, dein Taschenmesser. Schneid die Nabelschnur durch und renn mit ihm zur Kinderklinik. Schnell!«
Malcolm fingerte hektisch in seiner Jacke herum, fand das Messer und durchschnitt zitternd die Nabelschnur. Ohne wirklich zu begreifen, was er tat, wickelte er das Kind in seine Jacke und rannte los. Er wusste nicht, wie er es schaffte, in Rekordzeit in die Queen Victoria Road einzubiegen, ohne auf dem Eis auszurutschen, aber ehe er wieder klar denken konnte, befand er sich im Eingangsbereich der Kinderklinik.
Anna fühlte sich wie betäubt. Gerade noch hatte sie voll funktioniert, ein Kind alleine auf die Welt gebracht und dann auch noch geistesgegenwärtig Anweisungen gegeben, und jetzt kam ihr alles unwirklich vor. Sie war erschöpft. Sie fühlte nichts. Alles, was sie wusste, war, dass sie nun alleine war. Sie spürte das warme Blut unter ihr und zwischen ihr, sie spürte ihren Herzschlag. Es war vorbei. Diese schrecklichen Schmerzen waren vorbei. Doch, da zog sich wieder etwas in ihr zusammen. Vor heute Abend hätte sie den Schmerz als furchtbar bezeichnet, doch nach dieser Erfahrung war er nicht einmal mehr der Rede wert.
Ihr Kind war weg. Und sie war noch nicht einmal fähig, Angst zu verspüren. Alles schien von ihr gewichen, ihre Kräfte, ihr Verstand, ihre Gefühle. Malcolm würde sich schon um das Baby kümmern. Er war sicherlich schon längst bei den Ärzten. Ihr Kind war in der Kinderklinik in den guten Händen der Ärzte.
Wo um alles in der Welt steckte Dr. Jones nur? Der junge Pfleger ließ das Telefon weiter klingeln. Keine Antwort. Schwester Janet legte das Neugeborene auf den gepolsterten Untersuchungstisch. »Pamela, schalt den Apparat ein!«, rief sie. Sie wischte grob Schmiere und Blut von der Haut des Neugeborenen. Seine Haut schimmerte bläulich. Doch das kleine Herz schlug noch. »Peter, ruf sofort einen der Ärzte«, sagte sie zu dem jungen Pfleger, während sie das Kind in die Fußsohlen kniff, um die Atmung zu stimulieren.
»Hab ich doch schon. Dr. Jones antwortet nicht!«
»Was ist denn mit den anderen?«
»Dr. Morris pumpt gerade dem Selbstmordversuch den Magen aus, und Dr. Higgins wurde auf Station zu einem Notfall gerufen.«
»Dann bring Dr. Jones bei, Himmel noch mal!«, rief Janet.
»Ich habe ihn schon zwei Mal angepiepst! Er antwortet nicht.«
»Dann versuche es weiter!«
Peter hantierte umständlich mit seinem Telefon herum.
»Geh ihn suchen, los, beeil dich!«, sagte Janet.
Die beiden Schwestern schoben einen Schlauch in den Mund des Säuglings. Warum war denn jetzt kein Arzt da! Was konnte denn dieser Dr. Jones im Moment so Wichtiges zu tun haben? Er hatte Dienst, verdammt noch mal!
Es schien zu funktionieren. Das Kind tat einen schnellen Atemzug. Dann stockte die Atmung wieder.
»Komm, atme, atme!«, flüsterte Pamela, die jüngere der beiden. Keine sagte es, doch beide wussten, dass sie ohne einen Arzt, der einen Tubus legte, nicht weiterkamen.
Schwester Janet rieb dem Baby kräftig an der Wirbelsäule entlang.
»Soll ich bebeuteln?«, fragte Pamela nervös, »weiß denn niemand etwas über die Farbe des Fruchtwassers?« Es war riskant, dem Kind mit dem Ambubeutel Sauerstoff in die Lungen zu pumpen, solange sie nicht wussten, ob sich Mekonium in der Lunge befand.
Pamela nahm den Ambubeutel zur Hand.
»Ich rufe jetzt jemanden von der Gyn«, sagte Janet. Sie drückte auf ihrem Telefon herum, um die Nummer aufzurufen. Währenddessen begann Pamela, dem bläulich schimmernden Kind Sauerstoff in die Lungen zu pumpen. Sie sprach dabei ein Gebet und verfluchte Dr. Will Jones.
1
Es grenzte an ein Wunder, um diese Zeit einen Sitzplatz in der Linie 15 zu ergattern. Anna blickte sich kurz um, um sicherzugehen, dass sie den Platz keiner alten Lady streitig machen würde. Doch sie war nur von jüngeren Anzugträgern umgeben, wie man sie hier überall in der City von London antraf. In der Sitzreihe, in der man mit dem Rücken zum Fenster saß, war noch ein Platz frei. Anna quetschte sich auf den freien Platz zwischen die Plastikabtrennung und das übergewichtige Teenagermädchen, über dessen gewaltigem Busen ein Namensschild mit der Aufschrift Rebecca Hurst prangte. Während Anna ihre neue, weichlederne Handtasche auf ihrem Schoß platzierte, streifte ihr Blick über den Ärmel ihres Kostüms. »Das darf doch nicht wahr sein!«, sagte sie leise auf Deutsch. Auf Höhe ihres Handgelenks war der Stoff mehrere Zentimeter eingerissen. Brauner Futterstoff quoll aus dem Riss hervor. Mit ihren Fingern klammerte sie die Stoffteile zusammen, um abzuschätzen, ob man den Ärmel noch einmal nähen konnte. Frustriert ließ sie den Stoff los.
Warum tat Jack ihr das an? Das Kostüm war ihr bestes, ihr einziges Businesskostüm! Sie würde sich nicht so schnell ein weiteres leisten können!
Aber vielleicht benötigte sie sowieso kein weiteres. Es hing alles von der nächsten halben Stunde ab.
Die Sekretärin von Mr Galliani hatte sie tatsächlich angerufen. Nach zwei anstrengenden Vorstellungsgesprächen bei Galliani, Hughes & Derry war sie erneut eine Runde weiter gekommen. Jetzt nicht an Jack denken.
Mit dem Rücken zum Fenster sitzend betrachtete sie auf der anderen Seite die St. Paul's Cathedral; alte und neue Gebäude schaukelten am Fenster vorbei. Und hier begann auch schon die Fleet Street. Noch eine Haltestelle.
Sie versuchte, so würdevoll wie möglich aus dem Bus zu steigen und sich dadurch innerlich auf ihren Auftritt in der Kanzlei einzustimmen, als sie einen Stoß in die Rippen verspürte und, um ihr Gleichgewicht ringend, mit ihrem hochhackigen Schuh in eine Pfütze trat. Dreckwasser verteilte sich auf ihrer Strumpfhose. Die Türen des Busses schlossen sich zischend hinter ihr, und der rote Bus setzte sich in Bewegung. Oh nein, sie hatte ihren Schirm auf ihrem Sitz liegen lassen! Wie ärgerlich. Dabei hatte sie sich die Kordel des Schirms doch extra ums Handgelenk gehängt, damit sie ihn auf keinen Fall liegen lassen würde. Sie musste wohl durch den Riss in ihrem Ärmel abgelenkt gewesen sein. Der Schirm hatte zehn Pfund gekostet. Missgestimmt hob sie ihr Gesicht gen Himmel und stellte fest, dass schon diese Bewegung ein Fehler gewesen war. Ihr Make-up würde bald aussehen wie eines von Keiras Wasserfarbkunstwerken. Der Regen prasselte, und sie hatte noch einige Meter Fußweg vor sich.
Ihr langes, hellbraunes Haar klebte in welligen Strähnen an ihrem Kopf, als sie über den glänzenden Marmorboden der Eingangshalle von Galliani, Hughes & Derry schritt und dabei eine kleine Tropfenspur hinterließ. Sie bemühte sich, kleinere Schritte als gewöhnlich zu machen. Orla zog sie immer wegen ihres federnden Ganges auf, der so gar nicht feminin wirkte und sie normalerweise in ihren tief sitzenden, weit geschnitten Lieblingsjeans wie ein rebellisches Teenagermädchen wirken ließ. Für dieses Gespräch hatte sie sich wie eine erfolgreiche Juristin gekleidet und fühlte sich wie eine Hochstaplerin, die jederzeit anhand ihrer Bewegungen entlarvt werden konnte. Sie strich mit der Hand über ihren zerrissenen Ärmel.
So selbstbewusst wie möglich ging Anna auf die Empfangsdame zu, die hinter dem glänzenden Tresen in der Halle aussah wie eine Außerirdische im Raumschiff im endlosen All. Die Dame musterte sie kurz und nahm dabei das nasse Haar zur Kenntnis, weiterhin professionell lächelnd. Mit geübter Freundlichkeit teilte sie Anna mit, dass Mr Galliani sie mit fünfzehnminütiger Verspätung empfangen würde.
»Kann ich mich irgendwo frisch machen?«, fragte Anna und lächelte angestrengt. Die Dame wies ihr die Richtung zu den Damentoiletten.
Ein blasses Gespenst mit Vampir-Mascara blickte Anna aus dem Spiegel entgegen. Nervös holte sie ein eingepacktes Abschminktuch aus ihrer Handtasche und riss die Verpackung auf. Wie funktionierten diese Dinger? Mit fahrigen Bewegungen faltete sie das Tuch in der Mitte und fuhr sich damit im Gesicht herum. Es machte alles noch schlimmer. Sie faltete das Tuch erneut, sodass wieder eine saubere Fläche entstand, und rubbelte weiter. Unsicher betrachtete sie sich im Spiegel. Sie puderte sich das Gesicht und trug neue Mascara auf. Konnte man es so lassen? War das zu viel des Guten, zu wenig? Sie blickte auf die Uhr und wusch sich schnell die Hände. Dann eilte sie zum Aufzug.
Während Anna auf der Kante von einem der Lederstühle vor Gallianis Büro saß und wartete, hatte sich ihr Herzschlag wie von selbst beschleunigt. Sie schwitzte und fror gleichzeitig. Sicherlich waren ihre Lippen in der Zwischenzeit schon blau angelaufen, sodass sie nicht gerade mit Frische und Ausstrahlungskraft würde punkten können. Und schon gar nicht bei einem Amerikaner italienischer Herkunft. Aber er war ja sowieso ein seltsamer Kauz.
Sie vernahm gedämpfte Schritte, drehte sich um und strahlte Mr Galliani an. Der Seniorpartner der Kanzlei entschuldigte sich für die Verspätung und bat sie in sein Büro. Galliani war ein kleiner, gedrungener Mann Anfang fünfzig mit sichtbar gefärbtem Haar, der ständig lächelte. Es war ein unheimliches Lächeln ohne Lachfältchen, das sein Gesicht verzog wie bei einem alternden amerikanischen Schauspieler, der an den falschen Schönheitschirurgen geraten war. Anna schalt sich dafür, dass sie auf dem Stuhl hin und her rutschte. Mr Galliani hatte sich ihr gegenüber hinter seinem glänzenden Schreibtisch verschanzt, beugte sich nun vor und faltete die Hände. »Mrs Dylan, ich habe Sie hergebeten, um Ihnen zu sagen, dass ich Sie nicht einstellen kann.«
Anna blickte ihn an. Deshalb hatte er sie hierhergebeten? Wofür gab es denn die üblichen Standard-Absagebriefe? »Ich verstehe nicht ganz, Mr Galliani.«
Er lehnte sich selbstzufrieden zurück, sodass das Leder seines Stuhles knarzte. Ein Lächeln flog über sein Gesicht. Diesmal gruben sich tatsächlich Lachfältchen in die Haut um seine Augen. Anna war auf der Hut.
»Mrs Dylan, durch die bisherigen Bewerbungsgespräche habe ich ja einiges über Sie erfahren und … nun, ich will es geradeheraus sagen: Der Grund, warum ich Sie nicht für mich arbeiten lassen kann, ist der, dass ich befürchte, ich könnte mich zu sehr durch Sie von der Arbeit ablenken lassen. Und deshalb will ich als Alternative lieber gleich hier und jetzt um Ihre Hand anhalten.«
Anna starrte ihn eine Sekunde lang an. Tausend Gedanken bestürmten sie. War das ein Test? Musste man eine bestimmte Art von Humor an den Tag legen, um ins Team zu passen? Hatte er nicht mehr alle Tassen im Schrank? War das etwas Kulturelles, das sie nicht verstand? Vielleicht eine amerikanische Redewendung, die etwas ganz anderes bedeutete?
»Nun, Mr Galliani«, sagte sie lächelnd mit ihrem perfekten britischen Akzent, »ich fürchte, ich habe leider keine Zeit, Sie zu heiraten, denn ich werde in nächster Zeit damit beschäftigt sein, meine Klage gegen Sie wegen Diskriminierung attraktiver Frauen auszuarbeiten.«
Sie konnte kaum glauben, dass sie sich selbst gerade als attraktiv bezeichnet hatte.
Er lachte mit einem befremdlichen Glucksen. »Ich gebe Ihnen gleich einen Vertrag zum Unterschreiben, aber ich kann Sie beruhigen, es handelt sich nicht um einen Ehevertrag, sondern um einen Arbeitsvertrag. Wenn Sie möchten, können wir gleich damit beginnen, die Details auszuhandeln.«
»Das heißt, Sie stellen mich ein.«
»Das heißt, ich stelle Sie ein.«
Anna war sich nach alldem nicht mehr sicher, ob sie tatsächlich für Rob Galliani arbeiten wollte. Als er seinen Computer hochfuhr, um den Vertrag zu bearbeiten, durchfuhr sie ein kurzes Schaudern.
Ornament»Spinnst du? Ich wäre ruckzuck rausmarschiert!«
Anna entfernte den Hörer ein paar Zentimeter von ihrem Ohr, doch Orlas Stimme schepperte immer noch viel zu laut aus dem Hörer. »Du willst doch nicht für so einen abgedrehten Kerl arbeiten!«
»Für diesen Job würde ich sogar bei dem Kerl einziehen! Und der Job hat sogar was mit meiner Ausbildung zu tun. Sag mir also nicht, ich soll ihn mir durch die Lappen gehen lassen.«
Orla schwieg einen Moment. »Okay, alles hat seine Vor- und Nachteile«, sagte sie dann.
Anna erwiderte: »Aber du hast schon recht, der Typ hat mindestens eine Schraube locker. Als Amerikaner und Anwalt muss ihm doch klar sein, dass er aufgrund einer solchen Bemerkung wegen sexueller Belästigung verklagt werden kann.« Sie schüttelte halb lächelnd den Kopf, obwohl Orla sie gar nicht sehen konnte.
»Halt ihn dir einfach vom Leib!«, sagte Orla.
»Das werde ich. – Ich muss dort mindestens ein Jahr überleben, dann habe ich wenigstens den Wiedereinstieg in eine juristische Laufbahn in meinem Lebenslauf vorzuweisen. Wobei man das wohl eher Ersteinstieg nennen müsste.« Und das mit 33 Jahren, dachte Anna.
»Anna, du schaffst das. Mach einfach deine Arbeit. Du bist schlau und kompetent.«
»Danke, vielleicht kannst du mir das in der nächsten Zeit noch öfter sagen? Ich fürchte, ich werde es brauchen können.«
»Klar. Jetzt kommt gerade jemand, ich muss Schluss machen, mach's gut!« Orla legte auf.
Anna ging nachdenklich in die enge Küche, einen kleinen, schlauchförmigen Gang, in dem außer einer schmalen Küchenzeile kein Möbelstück Platz fand. Der Schlauch mündete in eine Tür, die auf einen schäbigen Zwei-Quadratmeter-Balkon führte. Die kleinen Balkone waren der einzige Luxus in diesem städtischen Wohnungsbaublock, auch wenn die Betonplatten im Laufe der Jahre schwarz angelaufen waren. Anna blieb vor der halbblinden Glastür stehen und blickte nachdenklich zu den traurigen Backsteinblocks hinüber, die den Wohnblock rechts und links flankierten. Wie ihr Haus waren sie ein Produkt der städtischen Restrukturierungsmaßnahmen, die irgendwann nach dem Krieg begonnen worden waren, um die East-End-Slums loszuwerden. Die Wohnblocks waren verbunden durch geteerte Wege, die wie ein grobes Spinnennetz die große freie Rasenfläche durchzogen. Die Stadtverwaltung hatte absichtlich kein Gebüsch pflanzen lassen, zum Schutz vor Überfällen. Hinter einem der Blocks öffnete sich ein geteerter Hinterhof, auf den jemand seinen Sperrmüll geworfen hatte. Neben einer alten Matratze und zerschlissenen Müllsäcken bewegten sich grau verwaschene T-Shirts an einer durchhängenden Leine leicht im Wind. Die Sonne verschwand hinter dem gegenüberliegenden Wohnblock, und Schatten legte sich über den gesamten Hof.
Es war nicht so, dass Anna kein Geld hatte, um Stepney zu verlassen und in ein Londoner Viertel zu ziehen, das angesagter war. Das nahegelegene Wapping, wo ihre Freundin Heike wohnte, wäre schön. Es war zwar auch ein Teil des Londoner Bezirks Tower Hamlets, zu dem auch ihr Wohngebiet gehörte, zog aber immer mehr junge aufstrebende Karrieremenschen an. Doch Annas Geld war nicht für Wapping bestimmt. Sie würde niemals wagen, das Geld für ihre Bedürfnisse anzurühren oder es für Alltäglichkeiten aufzubrauchen. Es gehörte Jack. Es war das Geld von der Versicherung des Krankenhauses, und Jack würde es später brauchen. Anna schaltete den Wasserkocher ein und griff nach einem Teebeutel und einem Becher mit einem verblassten Freiburger Münster darauf.
Nun würde sie endlich etwas verdienen! Es war ein Geschenk des Himmels, dass sie diese Stelle bekommen hatte. Jetzt kam es darauf an, dass sie sich dort irgendwie behauptete, sodass Galliani nicht merkte, dass er die Falsche eingestellt hatte. Neun Jahre lag ihr Universitätsabschluss in internationalem Handelsrecht an der Universität Newcastle nun schon zurück. Neun lange Jahre ohne einschlägige Berufserfahrung. Alle würden merken, dass sie aus der Übung war. Wenn sie denn jemals irgendeine Ahnung gehabt hatte. Ihr förmliches Deutsch ließ ebenfalls zu wünschen übrig, doch gerade wegen ihrer fließenden Deutschkenntnisse war sie eingestellt worden. Die Kanzlei Galliani, Hughes & Derry hatte sich auf internationale Klientel spezialisiert. Anna war für die Betreuung der deutschsprachigen Mandanten eingestellt worden. Sie sollte für Firmen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, die Geschäfte im Vereinigten Königreich tätigten und keine firmeneigene Rechtsabteilung besaßen oder sich im britischen Recht nicht auskannten, Verträge aushandeln und sie in verschiedenen Bereichen juristisch vertreten. Zwar hatte sie immer Wert auf die deutsche Sprache gelegt und zu Hause mit den Kindern fast ausschließlich Deutsch gesprochen, aber das war schließlich etwas anderes, das war Alltagssprache. Das verschachtelte juristische Beamtendeutsch war ihr fremd. Wann hätte sie sich das auch aneignen können? Schließlich war sie schon nach der zehnten Klasse nach England gekommen. Damals hatte es geheißen, es sei nur für zwei Jahre, bis sie ihr internationales Abitur auf dem Internat in Kent gemacht hatte. Es war ein Abenteuer gewesen. Ihr Vater und ihre Mutter waren zu Hause in Freiburg geblieben, und sie hatte sich gefreut auf ihre neue Unabhängigkeit und die Chancen, die sich ihr auftaten. Es hatte sich jedoch nicht alles als Zuckerschlecken erwiesen. Die englischen Klassenkameraden hatten Witze über sie gemacht, die sie nicht verstanden hatte, alle Aufsätze und Klassenarbeiten hatte sie halbfertig abgeben müssen, und ihre Zimmergenossin hatte sich Körperhaare ausgerissen, Mitesser ausgedrückt und Fudge gegessen, bis sie sich übergeben musste, und das alles um vier Uhr morgens. Anfangs hatte Anna die Tage gezählt, bis sie nach Freiburg zurückkehren konnte, doch mit der Zeit hatte sie die Vorzüge von Ohropax und Augenmasken kennengelernt. Sie hatte begonnen, mehr auf Englisch als auf Deutsch zu denken und über den seltsamen Humor von Monty Python zu lächeln. In den Ferien zu Hause hatte sie immer hämmernde Kopfschmerzen bekommen – ein Symptom von Schwarztee-Entzug, wie sich später herausstellte – und es machte ihr plötzlich tatsächlich etwas aus, sechzehn Folgen von East-Enders zu verpassen. Zurück in England begann sie, ihr Geld für Ausflüge nach London und heimliche Abstecher in den Pub mit ihren Freundinnen auszugeben, sodass für die kostspieligen Telefonate nach Freiburg weniger übrig blieb. Der Kontinent, wie die Engländer den Rest von