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Wie im Paradies
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eBook369 Seiten4 Stunden

Wie im Paradies

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Über dieses E-Book

Alexander Fromm wacht im Krankenhaus auf und erfährt von seinem Sohn, dass er seine Wohnung aufgelöst und seinen Vater in die 'Weserresidenz' eingekauft hat.
Nur sehr widerwillig findet sich Fromm mit seinem Schicksal ab und das nur, weil eine der Schwestern ihn an ein amouröses Erlebnis in seiner Jugend erinnert.

Im Speisesaal lernt er seinen Tischnachbarn Gustav Preuss kennen, der ebenfalls gegen seinen Willen in die Weserresidenz "gesteckt" worden ist. Um fit im Kopf zu bleiben, hat er eine besondere Strategie entwickelt.
Beide beobachten aus einer gewissen Distanz ihre Mitbewohner.

Angelika Hapcke, die Leiterin der 'Weserresidenz', von Preuss und Fromm wegen ihrer immer gleichen Kleidung nur das 'Kostüm' genannt, ist um das Wohl der ihr Anvertrauten ehrlich bemüht und nimmt ihre Probleme ernst. So organisiert sie z. B. eine Fahrt nach Hammeln in ein großes Möbelhaus, kleine Feiern im Heim, das Engagement eines Chores zu Weihnachten.

Die Freundinnen Anneliese Hohenstedt und Emma Evers haben schon in Berlin mit ihren Ehemännern in einer großen Wohnung gemeinsam gewohnt und sind an die Weser gezogen, nachdem ihre Ehemänner sie miteinander betrogen haben und Frau Evers an Alzheimer erkrankt ist.
Die Krankheit macht rasche Fortschritte, und schließlich verlangt Frau Evers das Einhalten eines alten Versprechens.

Friedrich Helms wird wegen seiner Unsauberkeit und Schlampigkeit allgemein abgelehnt, wird aber wegen seiner Erzählungen über seine vielen Reisen als Unterhalter von den meisten Bewohnern geschätzt. Besonderes Interesse findet sein Bericht über seinen Aufenthalt in Persien und seine Flucht, den er genüsslich ausschmückt.

Besonders elitär gibt sich Elisabeth Kahle. Ihr Vater war Obersturmführer im Konzentrationslager Sachsenhausen.
Als Kind hat Elisabeth ihren Vater wegen seiner Uniform und seiner Macht vergöttert.
Daran hat sich auch inzwischen nichts geändert. In der 'Weserresidenz' hat sie ein zweites Zimmer gekauft, das sie als Traditionszimmer eingerichtet hat.
Der 'Oberst' ist ein pensionierter Bundeswehroffizier, etwas hölzern, aber korrekt.
Als Sohn eines der Hitler-Attentäters wurde er nach dem missglückten Attentat '44 in das Kinderheim 'Borntal' bei Bad Sachsa verbracht und lebte nach Kriegsende bei entfernten Verwandten. Ausgerechnet ihm zeigt Elisabeth Kahle stolz ihr Traditionszimmer.

Besonderes Interesse bei den Damen erregt der geheimnisvolle Alois Lachleitner, der das letzte freie Appartement bezieht. Er verfügt über glänzende Umgangsformen und kleidet sich stets elegant. Heiratsschwindler im Ruhestand, hat er sich in die Einsamkeit dieser Residenz geflüchtet, um nach Verbüßung einer Gefängnisstrafe nicht wieder rückfällig zu werden. Trotzdem genießt er seine Wirkung auf die Weiblichkeit.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum8. Jan. 2019
ISBN9783742708748
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    Buchvorschau

    Wie im Paradies - Klaus Melcher

    1. Gefangen

    Die erste Nacht in diesem Gefängnis!

    Als er über den nachtdunklen Flur schlurfte, der nur von einem grässlichen grünlichen fluoreszierenden Licht erleuchtet wurde, befiel ihn wieder die Beklemmung, die er schon einmal verspürt hatte, vor ein paar Tagen oder Wochen, so genau wusste er es nicht mehr, als er in einem ihm unbekannten Zimmer aufwachte. In den Betten neben seinem lagen fremde Menschen, ordentlich aneinander gereiht.

    Nachdem er sich so weit zurechtgefunden hatte, dass er vermuten konnte, er befände sich wohl in einem Krankenhaus oder wenigstens einer Krankenstation, zermarterte er sich sein Hirn darüber, wie er wohl hierher gekommen war, was der Grund seines Aufenthaltes war und – nicht weniger wichtig – in welchem Krankenhaus er sich überhaupt befand.

    Er fischte nach der Klingel, die, wie er sehr wohl wusste, an jedem Krankenbett entweder von dem Galgen über dem Bett herunter baumelt oder an dem eisernen Nachtisch befestigt ist. Und während er mit seinem Arm vergeblich herumruderte, den ganzen Luftraum über und neben seinem Bett erkundete, ohne eine Klingel zu entdecken, befiel ihn eine ihm bisher unbekannte Beklemmung.

    Er wollte aufstehen, fliehen aus diesem Käfig mit schnarchenden, röchelnden, rülpsenden und stinkenden Leibern, die aufgedunsen unter ihren Decken lagen oder zusammengekrümmt vor sich hin wimmerten.

    Er wollte - wen auch immer - fragen, wie man dazu käme, diese Menschen, die sich nicht kannten, wie Vieh zusammenzupferchen, aber er hatte nicht die Kraft und wusste nicht, an wen er sich wenden konnte.

    Er ließ noch einmal seinen Blick über seine Nachbarn gleiten, und ihm dämmerte,

    man hatte ganz sicher gedacht, für die kurze Zeit des ihnen noch verbleibenden Lebens lohnte sich nicht ein besseres Zimmer. Vielleicht hätten sie auch nichts Besseres verdient oder bekämen nicht mit, was um sie herum geschah.

    Vielleicht brauchte man auch die anderen Zimmer für Patienten, die den Luxus eines Zweibettzimmers noch zu schätzen wussten. Schließlich muss ein Krankenhaus auch scharf kalkulieren.

    Und bei ihnen wurde eben scharf kalkuliert.

    Noch bevor sich das Fenster in ein schwarzes Loch verwandelte, kam eine Schwester, warf einen sehr genauen Blick auf einen der Patienten, fühlte seinen Puls, checkte die Monitore, an die er angeschlossen war, schien noch nicht ganz zu glauben, dass die weiße Kurve auf dem grünen Hintergrund zu einer durchgezogenen Linie geschrumpft war, betätigte irgendeinen Schalter und kapitulierte.

    Die gerade Linie hatte alle ihre Bemühungen überstanden, sie wieder in eine ausgefranste Kurve zu verwandeln.

    Wohl auf ein geheimes Zeichen betraten zwei Ärzte das Krankenzimmer, fühlten ebenfalls den Puls, als hätten sie die Hoffnung, ein zweites Mal würde zu einem anderen Ergebnis führen.

    Ein dezentes Nicken. Die Schwester wusste, was sie tun hatte, sie befreite den Patienten von den Apparaten und zog ihm das Laken über den Kopf.

    Zwei kräftige Krankenpfleger schoben den Patienten auf den Flur, und während er irgendwo im Keller des Krankenhauses verschwand, wurde sein Bettstellplatz bereits wieder belegt.

    Es sprach wenig dafür, dass er lange bleiben würde.

    Nun war er weiß Gott niemand, auf dessen medizinische Kenntnisse man etwas geben konnte, aber jeder hier im Zimmer spürten diesen eigenartigen Geruch, den Todgeweihte ausströmen.

    Die beiden Ärzte, die eben den Abtransport ihres Zimmergenossen veranlasst hatten, kehrten nach angemessener Zeit in das Zimmer zurück, traten an die Betten, sorgenvoll blickend, aber doch vorsichtig optimistisch: „Das wird schon wieder!"

    Was er hatte, und warum er hier lag, wusste er immer noch nicht. Als er den Oberarzt, er vermutete, das war der bedeutender Aussehende von den beiden, fragen wollte, hatte der sich schon zur Tür gewandt und verließ das Zimmer mit wehendem Arztkittel, seinen Kollegen, die Schwester und eine Schwesternschülerin im Schlepp.

    Es war schon merkwürdig.

    Da liegt man in einem Zimmer zusammen mit jemandem, der gerade stirbt oder gestorben ist. Man bekommt es gar nicht mit, bemerkt nicht einmal, dass er vielleicht schon länger nicht stört, dass er nicht die gewohnten Geräusche von sich gibt, dass er anders riecht.

    Und plötzlich erfährt man, er ist gerade gestorben.

    Und da fällt es einem auf. Irgendetwas ist anders geworden. Man weiß nur nicht, was.

    Und noch etwas wird einem plötzlich bewusst: Vielleicht ist man der Nächste.

    Gerade in diesem Moment, in dem sich Alexander Fromm in seine Decke rollen wollte, alles um sich herum vergessen wollte, klopfte es, und sein Sohn trat ein. Müde sah er aus, müde, weil er sich Tag und Nacht Sorgen um ihn gemacht hätte, wie er fast vorwurfsvoll verkündete.

    Was er inzwischen alles unternommen hätte, um seinem Vater das Leben zu erleichtern, von Pontius zu Pilatus wäre er gelaufen, hätte all seine Beziehungen spielen lassen, denn so könnte es mit ihm nicht weitergehen, das müsste er doch einsehen.

    Alexander Fromm konnte sich nicht daran erinnern, seinen Sohn darum gebeten zu haben. Er hatte sich nie sonderlich um ihn gekümmert, allenfalls mal ein Anruf zu Weihnachten und zu Ostern. Seinen Geburtstag schien er ganz vergessen zu haben, jedenfalls hatte er von diesem Ereignis seit mehr als zwanzig Jahren keine Notiz genommen.

    Jetzt also stand er da. Die Hände in den Manteltaschen, den Kragen hochgeschlagen, den Schal lässig um den Hals geschlungen, wie das im Augenblick Mode zu sein schien. Die Augenbrauen zusammengezogen, seine Lieblingszornesfalte auf der Stirn.

    Der ganze Mann war ein einziger Vorwurf!

    Alexander Fromm wollte seinen Sohn ignorieren. Es gab keinen Grund für seinen Besuch. Bisher war er ohne ihn ausgekommen. Eigentlich kannte er ihn überhaupt nicht.

    Als seine Frau weggelaufen war, Monate vor seiner Geburt, und er irgendwann durch das Amtsgericht von seiner Existenz erfuhr, da hätte er ihn gerne als seinen Sohn begrüßt, obgleich er sich seiner Vaterschaft durchaus nicht sicher war. Trotz aller Zweifel hatte er nicht auf einem Vaterschaftstest bestanden, sondern hatte alle Verpflichtungen übernommen.

    Dass er mit seinem Sohn nie richtig warm geworden war, lag ganz sicher nicht an ihm. Seine Ex hatte erfolgreich alles daran gesetzt, dass ihm das Sorgerecht entzogen wurde. Zweimal im Jahr durfte er Kontakt zu seinem Sohn aufnehmen, mehr nicht. Und entsprechend steif verliefen die Treffen, bis sie schließlich ganz unterblieben.

    Später, als er nicht mehr unter der Fuchtel seiner Mutter stand, spätestens da hätte er sich ab und zu um seinen Vater kümmern können, es gab schließlich viel nachzuholen. Wenigstens mal eine Karte, einen Urlaubsgruß, ein Telefonat.

    Aber nein!

    Nicht einmal zu dessen Hochzeit war er geladen.

    Trotzdem hatte er in dem besten Antiquitätengeschäft der Stadt ein Paar wunderschöne Girandolen erstanden, sie eigenhändig sorgfältig eingepackt und mit den besten Wünschen dem jungen Paar zugeschickt.

    Nach ungefähr einem Monat erhielt er die Danksagung: eine unpersönliche gedruckte Karte, die auch als Dank für einen Kochtopf passend gewesen wäre.

    All die folgenden Jahre hatte Fromm kaum etwas von seinem Sohn gehört.

    Er war mit sich selbst beschäftigt. Seine verkorkste Ehe, die Scheidung, die berufliche und gesellschaftliche Karriere, schließlich der Umzug nach Berlin, das war alles viel wichtiger als sein Vater.

    Fromm hatte sich damit arrangiert.

    Was wollte er jetzt hier?

    Was hatte Fromm getan, dass er ihn jetzt belästigte?

    Er schloss die Augen.

    „Du kannst hier nicht bleiben!"

    Die Stimme seines Sohnes klang rau und kalt.

    Unwillkürlich musste Fromm schmunzeln über so viel Dummheit.

    Wer sagte ihm, dass er hier bleiben wollte?

    Er hatte eine schöne Wohnung, alle Geschäfte, Ärzte und was man in seinem Alter sonst noch so braucht, in unmittelbarer Nähe.

    Warum sollte er wohl hier bleiben wollen?

    „Hör zu, ich habe mit Dr. Freise gesprochen. Am Samstag kannst du wahrscheinlich das Krankenhaus verlassen."

    Er war also im Krankenhaus! Hatte er sich irgendwie schon gedacht.

    Gerade wollte er fragen, in welchem Krankenhaus er war und warum, da unterbrach sein Sohn seine Gedanken.

    „Aber in deine Wohnung kannst du natürlich nicht wieder zurück!"

    Da war er wieder, so ein Tiefschlag, wie er ihn von seinem Sohn eigentlich hätte erwarten müssen.

    Er wollte lautstark protestieren, schließlich bestimmte er immer noch selbst, wo er wohnte, da unterbrach ihn sein Sohn und hörte nicht auf zu reden, bevor er ihm in seiner unbestechlichen Logik auseinandergesetzt hatte, dass er unmöglich in seine alte Wohnung zurückkehren könnte. Er könnte die Verantwortung nicht übernehmen.

    Als ob er das je getan hätte und er ihn darum gebeten hätte!

    So ein Schlaganfall könnte jederzeit wieder kommen, und dann läge er unter Umständen tagelang alleine in der Wohnung, bis …

    Fromm hatte also einen Schlaganfall erlitten!

    „Hörst du mir überhaupt zu?"

    Sein Sohn schien ärgerlicher geworden zu sein.

    Er stand von dem Bettrand auf, auf den er sich gesetzt hatte, da kein Stuhl frei war, wandte sich zum Fenster und sah einen Augenblick in die Dunkelheit, gerade kurz genug, um seinen Vater nicht wieder zu Worte kommen zu lassen.

    „Ich habe dir ein Appartement in der, er zog einen Zettel aus der Tasche, entfaltete ihn und warf einen Blick darauf, „in der ‚Weserresidenz’ besorgt. Du wirst von hier direkt dorthin entlassen.

    Fromm wollte etwas sagen, wollte protestieren, ihn fragen, wie er dazu käme, über seinen Kopf hinweg zu entscheiden, wollte ihm Unfreundlichkeiten an den Kopf werfen, ihn beschimpfen, doch er kam nicht dazu.

    „Das ist alles besprochen, fuhr er fort. „Einige Möbel, der Lehnstuhl, die Barockkommode und der kleine Sekretär, deine Wäsche, soweit sie noch anständig ist, und einige Erinnerungsstücke sind schon drüben. Bett und Schrank stellt das Haus. Die Bilder habe ich in einen großen Karton gepackt, sie stehen im Lager. Der Hausmeister wird dir beim Aufhängen helfen.

    Er holte Luft, und Fromm nutzte die unerwartete Pause.

    „Ich denke nicht daran, in dieses … - wie heißt es noch mal? – ist ja auch egal, in dieses Altersheim zu ziehen!"

    Endlich hatte er es geschafft, hatte ihm seinen Willen unmissverständlich mitgeteilt.

    Ein für allemal, er bestimmte selbst über sein Leben! Und wenn er in der Wohnung verrottete, war das allein seine Angelegenheit!

    Ein süffisantes Lächeln umspielte die Lippen seines Sohnes.

    Er gab sich noch nicht geschlagen. Er hatte noch einen Trumpf.

    „Willst du auf der Straße sitzen?, fragte er, und nach einer Weile, während derer er seinen Vater von der Seite beobachtete, setzte er fort: „Deine Wohnung ist nämlich gekündigt und ausgeräumt.

    Alexander Fromm hatte schon von ähnlichen Fällen gehört, hatte sie aber nicht ganz ernst genommen, denn das konnte ja nicht passieren, und wenn doch, dann musste schon Gravierendes vorgefallen sein. Er jedenfalls – da war er sich sicher – würde sich mit Händen und Füßen dagegen wehren. Man würde gar nicht erst wagen, ihn zu bevormunden.

    Und nun offenbarte sein Sohn ihm so ganz nebenbei, was er für ihn geplant hatte.

    Alexander Fromm hatte das Gefühl, in einem Aufzug zu sitzen, der in rasender Geschwindigkeit abwärts fuhr. Seine Beine wurden ihm fortgezogen, im Kopf rauschte es, und obgleich er nichts gegessen hatte, meinte er sich übergeben zu müssen.

    Er musste wohl recht entgeistert ausgesehen haben, denn sein Sohn lachte.

    „Siehst du, du hast gar keine andere Wahl. Ich wusste, was das Beste für dich ist, und habe es getan.

    Also, du ziehst von hier direkt in die Residenz."

    Er zog einen bunten Prospekt hervor und legte ihn achtlos auf die Bettdecke.

    „Du kannst dich ja schon mal vertraut machen. Du wirst sehen, es ist wie im Paradies."

    Er knöpfte seinen Mantel zu, nickte seinem Vater knapp zu und ging zur Tür, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Es gab für ihn keinen Grund, Liebe oder auch nur Verbundenheit zu heucheln.

    Dass er trotzdem dieses sündhaft teure Heim gewählt hatte, war nur seiner eigenen gesellschaftlichen Stellung geschuldet.

    Was hätten seine Bekannten und Kollegen von ihm gedacht, hätte er seinen Vater in irgendeinem Heim untergebracht!

    Nein, es musste schon ein besonderes sein!

    2. Willkommen im Paradies

    Der Umzug in sein neues Zuhause gestaltete sich erstaunlich undramatisch.

    Obgleich er absolut nicht einverstanden war mit dem, was sein Sohn über ihn verfügt hatte, leistete er keinen Widerstand, sondern ließ alles über sich ergehen.

    Anfangs hatte er sich aufbäumen wollen, vermutlich ein letztes Mal in seinem Leben, hatte er etwas pathetisch gedacht, hätte vielleicht einen Tobsuchtsanfall simulieren können, aber dann wären die Männer mit den weißen Jacken gekommen und hätten ihn dorthin gebracht, wo er noch viel weniger gerne sein würde.

    Auch Tabletten, in wenigen Tagen gesammelt und von anderen Patienten zusammengebettelt, würden ihm zu einem theatralischen Abgang verhelfen und vielleicht seinen Sohn in Schwierigkeiten bringen, doch das würde nur seine Freiheit ganz erheblich einschränken.

    Das Altersheim – seien wir ehrlich und nennen das Kind beim Namen – würde ihm nicht erspart bleiben, auch wenn er sich noch so dagegen sträubte. Andere hatten für ihn die Entscheidung getroffen, und er würde unter ständiger Beobachtung stehen, wenn er Schwierigkeiten machte. Und er könnte es dem Personal nicht einmal verdenken.

    Er könnte Essen und Trinken verweigern. Das würde ihm im Augenblick nicht einmal schwer fallen. Aber man würde ihn künstlich ernähren, und das war ihm noch mehr zuwider.

    Und so saß er nun, nicht glücklich, aber doch gefasst auf dem Rücksitz eines Krankenfahrzeugs für Sitzendtransporte, wie es im Amtsdeutsch so schön heißt.

    Die Innenstadt von Hannover hatten sie hinter sich gelassen, Linden erkannte er von früher, den Ricklinger Kreisel.

    Dann musste er wohl eingenickt sein.

    Als er aufwachte, passierten sie gerade die letzten Häuser Hamelns.

    Also hierher hatte es ihn verschlagen?

    Eigentlich hätte er jetzt aufmerksam sein sollen, doch die Aufregungen gestern und heute Morgen waren wohl zu viel. Er nickte wieder ein und wachte erst auf, als der Wagen anhielt, die Straße kreuzte und in eine breite, von hohen Platanen gesäumte Auffahrt bog.

    In sanften Bögen schlängelte sich die Straße den Berg hinan und endete auf einem weitläufigen Platz vor einem dreiflügligen schlossartigen Gebäude.

    Der breite Mittelflügel wurde beherrscht von einem Säulenportal, zu dem eine weit ausladende Sandsteintreppe empor führte. Rechts und links der zweiflügligen Tür gestatteten hohe Fenster den Blick in eine weitläufige Halle, von der sich wohl der Zugang zu den Seitenflügeln öffnete.

    In ihnen schienen mehrere Räume untergebracht zu sein, deren Funktion von außen nicht erkennbar war.

    Die beiden Obergeschosse waren ähnlich aufgebaut, ihren Mittelpunkt bildete wie auch im Erdgeschoss eine Halle.

    Donnerwetter, entfuhr es Alexander Fromm. Mit einem derartigen Luxus hatte er nicht gerechnet. Hatte sein Sohn sich also nicht lumpen lassen.

    Zwei freundliche Frauen, die ältere in einem schlichten grauen Kostüm, die andere, jüngere, in einem weißen Kittel mit trotz der Kälte kurzen Ärmeln, und ein Mann, wohl der Hausmeister oder Hausdiener, standen zum Empfang bereit. Lächelnd, voller unaufdringlicher Freude, wie es schien, über den Besuch.

    Die Schwester oder Pflegerin, jedenfalls die in dem weißen Kittel, hakte Fromm unter. Leicht wie eine Feder hing sie an seinem Arm, und führte ihn die wenigen Schritte zur Treppe und dann die Stufen empor. Er hätte sie auch ungestützt gehen können, hätte keine Hilfe gebraucht, aber dann spürte er die leichte Erregung in seinem alten Körper, und er wies die Begleitung nicht fort.

    Vorweg war schon das graue Kostüm gegangen, hatte die prunkvolle Eingangstür weit geöffnet und ließ Fromm mit seiner Begleitung eintreten. Ihnen folgte der Hausmeister mit zwei Koffern, wohl seinen. Den einen kannte er, in ihm lagen seine Kleidung und persönlichen Artikel, die er im Krankenhaus hatte. Irgendwer hatte ihn ihm gebracht, vielleicht sein Sohn. Der andere war ihm gänzlich unbekannt. Was er beinhaltete, wusste ich nicht, auch nicht, wie er in den Krankentransportwagen hineingeraten war.

    Während er sich noch den Kopf über sein Gepäck zerbrach, obgleich es ihn eigentlich gar nicht interessierte, querten sie die Eingangshalle, einen wenig anheimelnden Raum mit dem angestaubten Charme des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts, dem man durch zwei kleine Sitzgruppen etwas Gemütlichkeit zu verleihen versucht hatte.

    Sie gingen daran vorbei und steuerten direkt auf die breite Tür eines Aufzuges zu, der sie in den zweiten Stock brachte.

    „Hier haben Sie Ihr Appartement", sagte ‚das Kostüm’ und tackerte den langen Flur entlang.

    An einer der vielen Türen blieb sie stehen und schloss auf.

    „Bitte!"

    Sie ließ Fromm eintreten.

    „Ich hoffe, es gefällt Ihnen. Wir haben schon Ihre persönlichen Dinge eingeräumt."

    Sie ließ ihren Blick durch das Zimmer schweifen, als wollte sie sich davon überzeugen, dass auch alles da wäre.

    Sie schien zufrieden.

    Ein kurzes Nicken in Richtung ihres neuen Gastes, und sie ging.

    „Soll ich Ihnen beim Auspacken Ihrer Koffer helfen, oder möchten Sie erst noch ein wenig ausruhen, bevor es das Mittagessen gibt? Ich würde dann am Nachmittag kommen, wenn Sie es wünschen."

    Fromm war einverstanden.

    Obgleich er auf dem Weg geschlafen hatte, hatte ihn die Fahrt doch angestrengt.

    Ein wenig Ruhe würde ihm gut tun.

    Das Zimmer, Appartement war wirklich stark übertrieben, war alles in allem vielleicht dreißig Quadratmeter groß, gemessen an seiner Altbauwohnung in der List zwergenhaft.

    Man betrat es durch einen Flur mit einer Art Teeküche. Ein Zweiplattenherd mit untergebautem Kühlschrank, eine Spüle, ein Hängeschrank von gleicher Breite und ein schmaler Hochschrank, das war es, aber immerhin, es war wenigstens etwas.

    Der Hängeschrank enthielt, soweit er so schnell sehen konnte, zwei Gedecke, einige Gläser und eine Kasserolle.

    Der Kühlschrank war vergleichsweise üppig bestückt: je zwei Fläschchen Piccolo und Bier, einige Flaschen Saft und Mineralwasser, ein Becher Joghurt.

    Auf der anderen Seite des Ganges befand sich das recht geräumige Duschbad, natürlich behindertengerecht ausgestattet, mit einer schönen großen Dusche mit Glastrennwand, Toilette mit Aufsatz und Waschbecken. Den Aufsatz würde er ablehnen. Schließlich konnte er sich noch ohne große Schwierigkeit setzen.

    Gerne hätte er die verschiedenen Strippen abschneiden lassen, die überall an den Wänden herunterhingen, doch die sollten wohl der Sicherheit dienen und würden bleiben müssen.

    Der Wohnraum war etwas gewöhnungsbedürftig.

    Eine Wand nahmen das Bett, seine Kommode und ein Kleiderschrank aus dem Bestand des Hauses ein. Vor dem großen Fenster gruppierten sich sein geliebter Ohrensessel und zwei kleinere wohl auch hauseigene Sessel um einen kleinen runden Couchtisch.

    Recht unmotiviert wirkte der quadratische Tisch an der dritten Wand nahe dem Fenster. Viel machen konnte man an ihm nicht, vielleicht einmal eine Kleinigkeit essen, die man sich in der Teeküche aufgewärmt hatte, oder eine Tasse Kaffee trinken. Mehr ganz sicher nicht.

    In der Mitte der dritten Wand, der Kommode gegenüber, stand sein Lieblingsstück, sein Sekretär.

    Wenigstens den hatte man ihm gelassen! Und ihn anständig gestellt.

    Seine Bilder hatte man noch nicht aufgehängt. Sie standen aufrecht gestapelt in einem Bananenkarton. Man wollte ihm wohl die Freiheit gewähren, sie nach seinem Geschmack zu platzieren. Hammer, Zange und eine Handvoll Nägel lagen auf dem Tisch.

    Es klopfte.

    „Herein!"

    Die nette Schwester, die ihn empfangen hatte, öffnete vorsichtig die Tür und schob ihren Kopf herein.

    „Haben Sie alles gefunden?"

    Was er gefunden haben sollte, wollte er fragen, doch er ließ es. Sie hatte keine derartige Unhöflichkeit verdient. Und mit dem Personal sollte man sich besser gut stellen.

    Ob sie ihn in den Speisesaal führen dürfte, fragte sie, nachdem er ihre erste Frage einfach überhört hatte, und zauberte ein hinreißendes Lächeln auf ihr Gesicht.

    Alexander Fromm war knurrig und schlecht gelaunt. Er hasste dieses Haus, das er nicht kannte, er hasste es, wie ein Tattergreis behandelt zu werden, er hasste es, von seinem eigenen Sohn abgeschoben worden zu sein, auch wenn das Haus sicher nicht das schlechteste war.

    Er hasste einfach alles!

    Aber da war auch diese nette Schwester, die ihn schon beim Empfang an die Hand genommen hatte, ihn wie selbstverständlich in sein Zimmer geführt hatte, die ihm nicht mit irgendwelchem dummen Geplapper auf die Nerven gefallen war, die sich diskret zurückgezogen hatte, um ihm Zeit für sich zu geben, und jetzt wieder da war und ihm anbot, ihn in den Speisesaal zu führen.

    Trotzdem, er wollte nicht, war bockig. Und doch ließ er es zu, dass sie seinen Arm fasste und ihn ungeheuer sanft den Flur entlang führte. Ihr Druck war kaum zu spüren, fast nur eine leichte Berührung, von der er sich jeden Augenblick befreien könnte, wenn er es nur wollte.

    Doch er wollte es nicht.

    Im Gegenteil, er genoss es, an ihrer Seite zu gehen.

    „Möchten Sie lieber den Aufzug oder die Treppe nehmen?", fragte sie und ließ ihm Zeit zum Überlegen. Sie schien unendlich viel Zeit zu haben.

    „Kommen Sie, den Blick von hier oben in die Halle sollten Sie sich gönnen", sagte sie, als er noch unentschlossen war, und führte ihn an ihrer leichten Hand zu der breiten Treppe, die in die Eingangshalle führte.

    Es war eigenartig, aber von hier oben wirkte die Halle viel größer, viel edler als von unten, als er sie das erste Mal betreten hatte.

    „So, da wären wir", flüsterte sie und öffnete die Glastür zum Speisesaal.

    Der Speisesaal vermittelte noch ganz den Glanz der vergangenen Jahrhunderte.

    Üppige Lüster hingen von der hohen Decken und ließen den Saal in sanftem Licht erstrahlen. Überall an den Wänden, die von alten Tapeten mit Jagdmotiven oder galanten Szenen geziert wurden, brach sich das Licht der vielen Kristalle.

    Auf dem edlen Parkett waren Tische und Stühle, Fromm vermutete Chippendale, zu Gruppen zusammen gestellt, alle weiß eingedeckt.

    Vor den Fenstern, die fast bis an den Boden reichten, hingen luftige, fast transparente Vorhänge und bewegten sich leicht, wenn jemand an ihnen vorbei ging.

    An einer Längsseite hatte man Nischen aus Blumenkübeln und niedrigen Bücherregalen gebildet, in denen Vierertische mit leichten Sesseln aufgestellt waren, eigentlich eine Platzverschwendung, die man aber jederzeit korrigieren konnte.

    Hierher konnte man sich nach der Mahlzeit für eine Tasse Kaffee zurückziehen.

    Die Schwester führte Fromm, immer noch sanft seinen Arm haltend, quer durch den Raum und hielt erst am linken oberen Rand des zweiten Achtertisches an.

    „Das wäre Ihr Platz", lächelte sie.

    Er war froh, dass ihn niemand besonders beachtete.

    Er fühlte sich fremd, irgendwie sinnlos in diesem Raum, auch wenn er sich Mühe gab, einladend zu wirken.

    Er hatte keinen Hunger.

    Das letzte Essen lag ihm immer noch wie ein Stein im Magen, und er konnte sich nicht vorstellen, jemals wieder Hunger zu haben.

    Jedenfalls nicht hier!

    Er hatte etwas ganz Anderes erwartet. Einen Speisesaal mit dem Jugendherbergscharme der Neunziger, mit resopalbedeckten Tischen, damit man die Saucenflecken leichter beseitigen und das Gemüse ohne Schwierigkeit in die Schüssel zurückfüllen konnte.

    Und mit Stühlen, nicht gerade einem Ausbund an Komfort. Helle Kiefernholzbeine wurden zusammengehalten durch rote Plastiksitze und Rückenlehnen, alle abwaschbar und stapelbar. Er hatte solche Stühle mal in dem Katalog eines großen Möbelhauses gesehen, und die hatte er hier erwartet.

    Diese Einrichtung passte nicht zu seiner Erwartung, und im Augenblick machte selbst das ihn nicht glücklich.

    Die ersten Mitbewohner betraten durch die breite Schiebetür an der Stirnseite den Saal, einzeln die meisten, überflogen mit einem leeren Blick den ihnen bekannten Raum, entdeckten den Fremden, der ihnen schon beim Frühstück angekündigt worden war, nahmen aber keinerlei Notiz von ihm, als gäbe es ihn gar nicht.

    Langsam strebten sie zu ihrem Platz.

    Das alles lief gespenstisch leise ab, wie nach einem festen Plan, fast wie ein Uhrwerk.

    Wen würde es an seinen Tisch, an seine Seite verschlagen? Die Alte mit dem langen Putenhals, an dem eine einreihige Perlenkette baumelte, oder der Dicke oder vielleicht der knorrige Lange. Der wäre ihm der Liebste, wenn er wählen dürfte!

    Er durfte nicht wählen!

    Eine Allerweltsperson steuerte auf den Stuhl neben seinem

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