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Spurensuche: Wer war mein Opa?
Spurensuche: Wer war mein Opa?
Spurensuche: Wer war mein Opa?
eBook349 Seiten4 Stunden

Spurensuche: Wer war mein Opa?

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Über dieses E-Book

"Wer war mein Opa?", ist die stets unbeantwortete Frage, die das Kind Julia an seine Oma stellte und auf die sie nie eine Antwort bekommen hat.
Nachdem die Großmutter gestorben ist, begeben sich Mutter und die inzwischen erwachsene Tochter auf Spurensuche und entdecken die Schuld, die ihre Vorfahren von der Kaiserzeit bis heute durch falsche Ehrbegriffe, Verdrängen,Naivität, blinden vorauseilenden Gehorsam und Fanatismus und Ausleben niederster Instinkte auf sich geladen haben.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum6. Jan. 2019
ISBN9783742708953
Spurensuche: Wer war mein Opa?

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    Buchvorschau

    Spurensuche - Klaus Melcher

    1. Kapitel

    Verwehte Spuren

    An meinen Opa habe ich keine Erinnerung, hatte ich eigentlich nie, auch nicht als ich Kind war.

    Wenn ich nach meinem Opa fragte, hieß es immer: „Opa ist im Himmel oder „Dein Opa war ein sehr wichtiger und angesehener Mann oder „Er ist verreist.".

    Und wenn ich etwas besonders gut gemacht hatte, sagte meine Oma: „Das würde den Opa freuen".

    Aber das kam sehr selten vor.

    Sehnlich hatte ich mir einen Opa gewünscht, wie andere Kinder ihn hatten.

    Graue etwas schüttere Haare, ein sonnengegerbtes Gesicht, eine tiefe sanfte Stimme, so stellte ich ihn mir vor .

    Und gutmütig sollte er sein, mir jeden kleinen Wunsch von den Lippen ablesen und erfüllen, bevor ich ihn ausgesprochen hatte. Aussprechen würde ich meine Wünsche nämlich nicht, das schien mir unverschämt, denn ich wusste, dass mein Opa mich liebte, und Opas, die ihre Enkelin lieben, tun für sie alles.

    Aber ich hatte – wie gesagt – keinen Opa.

    Wenn ich mal meine Oma fragte, ob mein Opa nicht irgendwann von seiner Reise zurückkäme, dann schien sie einen Augenblick traurig und bekam ganz wässrige Augen, noch wässrigere, als sie sowieso schon hatte, so wie Magermilch, so ein helles verwässertes Blau.

    In den Büchern, die ich damals las, gab es öfter solche Omas.

    Auch mit solchen Magermilchaugen. Aber die waren immer lieb zu ihren Enkeln und ihre Enkel liebten sie.

    Meine Oma liebte mich nicht, und ich hatte sie auch nicht lieb.

    Meine Oma hatte eigentlich niemanden lieb. Ich glaube, nicht einmal meine Mutter.

    Tiere, ja, die hatte sie lieb, jedenfalls sagte sie das immer, auf die wäre Verlass, die wären nicht falsch wie die Menschen, und dabei sah sie mich immer so merkwürdig an.

    Jahre später, als ich mich nicht mehr mit der Geschichte vom Verreisen abspeisen lassen wollte und auch nicht mehr an den Himmel glaubte, fragte ich einmal – vielleicht zu energisch: „Wer war eigentlich mein Opa? und bekam nur zur Antwort: „Dein Opa hat sich nichts zuschulden kommen lassen!

    Und dabei blieb es.

    Inzwischen bin ich fast dreißig und habe mich damit abgefunden, keinen Opa zu haben, egal, ob er im Himmel, auf Reisen oder sonst wo ist.

    Er ist einfach nicht da, als hätte es ihn nie gegeben.

    Nur eine Frage beschäftigt mich nach wie vor: Wie kann es geschehen, dass ein sehr wichtiger und angesehener Mann, wie meine Oma immer sagte, einfach spurlos verschwindet?

    2. Kapitel

    Berlin, Waldfriedhof, 13. November 1994

    Die Grabstelle H 23 lag am hinteren Rand des Waldfriedhofs, Rücken an Rücken mit einem der aufwändigen Mausoleen in diesem Bereich. Von der Friedhofsmauer trennten sie nur ein schmaler Weg und ein noch schmalerer Streifen, der mit schlanken Sträuchern und Büschen bepflanzt war. Da man die Büsche sich selbst überließ und nicht regelmäßig beschnitt, hatten sie sich im Laufe der Zeit ausgebreitet. Der Weg war immer weiter zugewachsen, so dass man sich nur im Krebsgang fortbewegen konnte oder auf eins der anderen Gräber dieser Reihe ausweichen musste.

    Hier ein Grab zu unterhalten, war für die Angehörigen eine Qual. Die Pflege der Gräber war so anstrengend, dass sich die Friedhofsgärtnerei weigerte, die Arbeiten zu übernehmen, oder einen erheblichen Aufpreis berechnete, wenn sie – aus Mitleid - doch mal einen Auftrag übernahm.

    Und so sahen die Gräber auch aus. Ungepflegt, von Dornen und Unkraut überwuchert. Die Grabsteine waren zugewachsen, ihre Inschriften nicht mehr erkennbar.

    Man nannte ihn den Friedhof der Vergessenen, wenn man ihn überhaupt kannte.

    Anpflanzen konnte man auf der Grabstelle H 23 praktisch nichts. Sie lag im Schatten des Mausoleums, eines tempelartigen Baus aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts, dessen Eingang zwei kniende, dick bemooste Engel bewachten, und einer Platane gewaltigen Ausmaßes.

    Efeu bot sich als einzige Grabbepflanzung an, im Frühjahr allenfalls noch Winterling und Schneeglöckchen und Buschwindröschen. Spätestens wenn das Laub der Platane ein dichtes Dach bildete, würde es keine Farbtupfer mehr auf der dunkelgrün-schwarzgrauen Grababdeckung geben.

    Wer hier bestattet wurde, hatte kein Geld für eine bessere Grabstelle. Oder er wollte oder sollte vergessen werden, aus welchem Grunde auch immer.

    Kaum jemand würde ihn auf seinem letzten Weg begleiten. Es gab keinen Platz für eine Trauergesellschaft. Wer kam, würde sich in der Kapelle verabschieden müssen – und später wahrscheinlich nie den Weg in diese abgelegene Gegend finden.

    Wen wundert es, dass diese Grabstelle noch nicht wieder belegt war. Seit zwei Jahren war sie abgelaufen.

    Nachdem keine Hinterbliebenen in Erfahrung gebracht worden waren, die sie hätten verlängern können, hatte die Friedhofsverwaltung das Grab einebnen lassen. Den Grabstein hatte der Steinmetz entfernt und mit seinem Aufwand verrechnet. Jetzt lag er auf seinem Betriebshof und wartete darauf, abgeschliffen und wieder verkauft zu werden.

    Die Inhaber des Mausoleums, eine gewisse Familie Möller, hatten den freien Platz als Versteck für alles mögliche Gartengerät entdeckt und nutzten ihn eifrig, nachdem sie auch ihre herrschaftliche Grabstelle in den letzten Jahren und Jahrzehnten sträflich vernachlässigt hatten.

    Aber nach dem Krieg hatte man zunächst andere Sorgen. Man war schon froh, dass die Platane den Winter 1946/47 unbeschadet überstanden hatte. Wahrscheinlich war sie den Holzdieben schon zu groß, um gefällt zu werden. Jedenfalls besondere Maßnahmen zum Schutz des Baumes hatte die Familie Möller nicht ergriffen. Sie hatte Berlin mit unbekanntem Ziel verlassen.

    Wer auch immer seit einigen Jahren das Grab in Ordnung hielt - pflegte wäre zuviel gesagt – der hatte sich auch der Grabstelle auf der Rückseite bemächtigt. Sogar eine Gartenkarre hatte er dort deponiert, zugedeckt durch eine grüne Plastikplane. Laub und abgeschnittene Efeuranken wurden nicht mehr in die Grüncontainer gebracht, sie wurden einfach auf die Rückseite geworfen.

    Die Grabstelle H 23 war ein Bild des Jammers und hätte ganz sicher den Zorn der Nachbarn erregt und zur Beschwerde bei der Friedhofsverwaltung geführt, wenn, ja wenn überhaupt jemand diesen Winkel je betreten hätte.

    Ausgerechnet diese Grabstelle steuerte eine Gruppe von drei Frauen an. Sie sahen nicht aus wie übliche Friedhofsbesucher, trugen keine Blumen oder Geräte mit sich, schritten energisch aus, als wären sie in Eile.

    Voran ging die Älteste.

    Ab und zu sahen sich die beiden Frauen, wohl Mutter und Tochter, die im Schlepptau der Alten gingen, fragend an, schüttelten den Kopf und versuchten sich vor dem alles durchdringenden Novembernebel zu schützen, den Kopf tief in den Kragen und Schal eingezogen.

    Kurz hinter dem kleinen Pavillon zu Ehren der Königin Luise verließen die Frauen die breite Kastanienallee und bogen nach rechts auf einen der vielen Hauptwege ab, die sich immer weiter verästelten, bis sie zu den einzelnen Grabfeldern führten.

    Als sie einen der zentralen Kompostcontainer erreicht hatten, bogen sie vom Hauptweg ab, schritten durch eine Reihe gepflegter Gräber und kamen in die

    Reihe H.

    Mühsam zwängten sie sich an den Büschen vorbei und blieben an dem eingeebneten Grab stehen.

    „Das ist es", sagte Elisabeth von Wernher.

    Ungläubig sah ihre Tochter sie an.

    „Das ist doch nicht dein Ernst."

    „Und warum nicht?"

    Elisabeth von Wernher war es nicht gewohnt, dass man ihr widersprach oder ihre Entscheidungen in Frage stellte. Das hatte es nie gegeben und würde es nie geben.

    „Hier will ich liegen und nirgends woanders. Hier habe ich meine Ruhe!"

    Damit war das Thema erledigt.

    Elisabeth von Wernher drehte sich auf dem Absatz um und trat auf das Grab, um an ihrer Tochter und Enkelin vorbeizukommen. Ihre Füße versanken in dem aufgeweichten Boden, der links und rechts an ihren Schuhen empor quoll.

    Wieder auf dem schmalen Weg, stapfte sie zweimal auf, und als der Schlamm noch immer an den Sohlen klebte, suchte sie eine einzelne Grassode und strich ihre Schuhe ab. Unzufrieden mit dem Erfolg, ging sie den gleichen Weg unterhalb der Mauer zurück.

    Als sie auf dem Hauptweg angekommen war und der Blick auf das Mausoleum frei war, sah sie kurz in die Richtung, murmelte etwas Unverständliches und übernahm wieder die Führung.

    An dem Luisen-Pavillon hatten die beiden jüngeren Frauen sie endlich eingeholt.

    Inmitten im Wind torkelnder trockener Kastanienblätter war sie stehen geblieben, völlig außer Atem. Sie würdigte ihre Tochter und Enkelin nur eines kurzen Blickes.

    „Ich habe noch was zu erledigen. Also dann bis später."

    Sie nickte den beiden Frauen zu und eilte in Richtung Haltestelle.

    Unmittelbar nachdem sie in den wartenden Bus gestiegen war, setzte er sich in Bewegung und fuhr in Richtung Innenstadt.

    „Verstehst du das?"

    Anneliese von Wernher sah ihre Tochter an.

    Julia schüttelte den Kopf.

    Zwar war ihr ihre Großmutter schon immer sehr fremd gewesen, gefühlskalt war sie, egoistisch und herrschsüchtig; aber sie hatte sich bisher wenigstens immer den Anschein gegeben, ihre Meinung zu begründen. Auch wenn sie Widerspruch nicht zuließ.

    Und auf einmal tat ihre Mutter ihr leid.

    3. Kapitel

    Friedrichshagen, Juni 1913

    Elisabeth von Wernher wurde am 15. 11. 1923 als drittes Kind eines verarmten Adelsgeschlechts in Friedrichshagen bei Oranienburg geboren.

    Der Großvater war als Offizier im Preußischen Garderegiment sehr spendabel gewesen und hatte gerne, aber erfolglos gespielt. Als er feststellte, dass nicht nur sein Portemonnaie leer war, sondern auch von seinem Familienbesitz wenig übrig geblieben war, quittierte er den Dienst und kehrte nach Friedrichshagen zurück, in der Hoffnung, wenigstens noch etwas retten zu können.

    Den Mut, seiner Frau zu sagen, dass er nun immer hier bleiben würde und dass ihr Schicksal sehr ungewiss wäre, hatte er nicht. Stattdessen gab er bei seiner Ankunft ein opulentes Abendessen für den übernächsten Abend in Auftrag und ließ seine Nachbarn zu dem Fest seiner Rückkehr einladen.

    Nachdem er die notwendigen Briefe geschrieben und Instruktionen erteilt hatte, ging er durch das weitläufige Gutshaus, das eher an ein Schloss erinnerte.

    Im breiten Westflügel, der dem Spiegelsaal in Versailles nachempfunden war, blieb er stehen.

    „Das war es also", sagte er und drehte sich um. Die Vasen, die kleinen Statuen, die Leuchter – all das war nicht mehr seins.

    Kameraden, die ihn an den vielen Abenden im Offizierscasino besiegt hatten, würden sie hinaustragen, unter den mitleidigen Blicken des Personals.

    Und was noch schlimmer war, die Bankiers, die ihm erst ermöglich hatten, durch ihre großzügigen Kredite auch außerhalb des Offizierscasinos zu spielen, zu bedeutend höherem Einsatz, die würde man zwar nicht sehen. Aber man würde sehen, wenn sie – fernab in Berlin – mit einem Federstrich sein Schicksal und das seiner Familie besiegelten.

    Achim von Wernher betrachtete sich in einem der Spiegel der Spiegelwand.

    „Das war es also, sagte er noch einmal. „Und keine Hoffnung?

    Er wusste, dass es keine Hoffnung gab. Zwar hätte er seinen Schwiegervater bitten können, ihm eine gewisse Summe zu leihen, sein Bruder hätte ihm sicher auch geholfen, aber er hätte sein erbärmliches Scheitern eingestehen müssen. Und diese Blamage wollte er sich ersparen.

    An seine Familie hatte er dabei nicht gedacht. Einmal nur kurz, als er sich sagte, es wäre für sie besser, nicht mit einem Bankrotteur leben zu müssen. Aber das war, wenn er ehrlich war, nicht sein wahrer Grund für den Schritt, den er für unausweichlich hielt.

    Er sah aus einem der Fenster in der langen Westfront. Die Vorhänge waren nicht zugezogen. Man hatte einfach nicht daran gedacht und auch nicht damit gerechnet, dass so spät im Sommer die Temperaturen so ansteigen könnten, und so tauchte die frühe Abendsonne den Saal in ihr goldenes Licht.

    So, genau so hatte er es sich vorgestellt, als er den Bauauftrag erteilt hatte. Dieses Licht, diesen Saal – es fehlte nur die gewohnte heitere Gesellschaft. Und wenn die großen Lüster entzündet wären, die Paare, die über das Parkett schwebten.

    Seine Frau saß mit den Kindern im Park unter der alten Eiche, wie immer im Sommer.

    Es war der Lieblingsplatz der Familie. Dort hatte er seiner Frau den Heiratsantrag gemacht. Dort hatte sie ihm erzählt, dass sie schwanger war. Dort hatten sie viele gemeinsame Stunden verbracht, sie hatte gestickt, er hatte seine Pfeife geraucht und dabei die „Königlich Privilegierte Berlinische Zeitung" gelesen. Später, als die Kinder da waren, hatten sie unter dem Baum gespielt. Er hatte an einem der unteren Äste eine Schaukel befestigt.

    Der Baum und sein Schatten waren fast ihr Sommerzimmer gewesen all die Jahre lang.

    Und jetzt sollte alles vorbei sein.

    Einen Moment noch wollte er sie die Ruhe genießen lassen.

    Er drehte sich um, verließ den Saal und ging in das benachbarte Arbeitszimmer.

    Es war nicht weniger prächtig ausgestattet, doch daran fand er jetzt kein Interesse mehr.

    Er zog die oberste Schreibtischschublade auf und entnahm ihr ein in Filz eingeschlagenes Päckchen. Vorsichtig öffnete er die Schleife, mit der es zusammengebunden war, und breitete den Filz auseinander. In seiner Hand lag seine Duellpistole. Er hatte sie von seinem Vater geschenkt bekommen, gerade als er achtzehn Jahre alt geworden war.

    „Geh nicht leichtfertig mit ihr um. Gebrauche sie nur, wenn es gar nicht anders geht", hatte sein Vater gesagt.

    Achim von Wernher hatte sich immer daran gehalten.

    Jetzt ging es nicht anders.

    4. Kapitel

    Friedrichshagen, Anfang Juli 1913

    Es fiel Luise von Wernher nicht leicht, sich auf die veränderten Lebensumstände einzustellen. Auf einmal saß sie da, allein mit drei Kindern, ohne Vermögen, ohne die gewohnten gesellschaftlichen Kontakte.

    Natürlich schnitt man sie nicht, man schien besorgt, bot ihr Hilfe an, aber das geringste Angebot klang so großzügig, als wäre es unverschämt, es anzunehmen.

    Lediglich den kleinen Hof eines Tagelöhners hatte ein befreundeter Anwalt retten können. Ein kleines Bauernhaus mit zwanzig Morgen Land war ihr und ihren drei Kindern geblieben.

    Völlig unerfahren in der Landwirtschaft, ungeübt in körperlicher Arbeit stand sie vor der schier unlösbaren Aufgabe, sich und ihre Familie durchzubringen.

    Hätte ihre Mutter nicht zu ihren Gunsten interveniert, hätte ihr Vater aus verletztem Stolz nichts unternommen, ihr zu helfen.

    „Was bist du nur für ein Mensch, hatte ihre Mutter getobt, „deine einzige Tochter und ihre Kinder sind in größter Not, und du tust nichts, nur weil Achim sich das Leben genommen hat! Wir nehmen sie hier auf. Und wenn du dich auf den Kopf stellst.

    Und als er noch etwas dagegen sagen wollt, fügte sie nur hinzu: „Und wenn es dir nicht passt, ziehen wir zu meinen Eltern!"

    Damit war die Sache ausgestanden.

    Zwei Wochen später kam der Möbelwagen aus Berlin.

    Schon am Nachmittag wurden die Möbel und das Geschirr, das ganze bewegliche Hab und Gut, das Luise geblieben war, verladen.

    Die Köchin hatte am Nachmittag einen Berg Bouletten gebraten und ihren köstlichen Kartoffelsalat gemacht, und so saßen Luise von Wernher, ihre Kinder, das Personal und die Möbelpacker sowie der Kutscher ein letztes Mal in der großen Küche beisammen. Die Frauen und Kinder tranken Limonade, die Männer Bier und zum Abschluss einen kleinen Schnaps. Aber obgleich das Essen wirklich jeden Geschmack getroffen hatte, war die Stimmung gedrückt. Jeder Versuch, sie aufzulockern, misslang.

    Man wusste, es war ein Abschied für immer. Nicht nur von dem zauberhaften Anwesen, auch von der schönen Vergangenheit.

    Luise schickte ihre Kinder früh zu Bett.

    „Wir müssen morgen früh aufstehen, sagte sie, „da solltet ihr ausgeschlafen sein.

    Und als sie protestieren wollten, hatte sie ein Leckerchen bereit.

    „Ich habe, begann sie und machte ihr spitzbübisches Gesicht, dem niemand in der Familie widerstehen konnte, „mit den Möbelmännern gesprochen.

    Sie machte eine Pause, um die Spannung zu steigern.

    „Wenn ihr ausgeruht seid und auf der Fahrt nicht einschlaft, dann dürft ihr in dem Möbelwagen mitfahren."

    Diese Aussicht wirkte Wunder. Bevor man es überhaupt bemerkt hatte, waren die Kinder in ihren Zimmern verschwunden.

    Ein letztes Mal ging Luise in die Kinderzimmer.

    Da, wo bisher die Betten gestanden hatten, lagen nur die Matratzen auf dem Boden. Die Bettgestelle waren schon verladen.

    ‚Mein Gott’, dachte sie, als sie die Kinder sah. Natürlich wusste sie, dass sie nur so taten, als ob sie schliefen. Aber sie schien diesen kleinen Betrug zu glauben, gab jedem ihrer Kinder einen Gutenachtkuss, löschte das Licht und ging in ihr eigenes Schlafzimmer.

    Lange stand sie am Fenster und sah in den Garten hinaus, der inzwischen im Dunkel lag.

    Sie hatte Anweisung gegeben, die Allee zu beleuchten und unter der Kastanie eine Fackel zu entzünden. Sie warf ihr flackerndes Licht auf die Bank, auf den Stamm des Baumes, zauberte Figuren, sich ständig bewegend, ausgelassen tanzend. Paare, die sich trennten und sich wieder fanden und zwischen all den ausgelassenen Gästen sie, Luise und Achim.

    „Schluss jetzt!", befahl sie sich, und mit einem Mal war alles vorüber: Die Allee lag in trübem Licht, die Gartenfackel blakte, die Musik war nur der Wind.

    Mit einem Ruck drehte sie sch um. Die Frau, die ihr im Spiegel gegenüber stand, sah traurig aus, müde auch, abgekämpft vielleicht, verzweifelt wohl eher nicht. Das wäre zuviel gesagt. Nein, verzweifelt war sie nicht wirklich. Leer, das traf es wohl besser. Während sie sich im Spiegel betrachtete, ohne wirkliches Interesse, legte sie die Kleidung ab.

    Stück für Stück legte sie auf den einen noch verbliebenen Stuhl. Sie sah sich zu, wie sie das Kleid gerade zog, wie sie das Unterkleid glättete.

    Sie wunderte sich, dass sie sich auf einmal so fremd war. Nichts konnte sie mit dem Bild, das sie im Spiegel sah, verbinden. Sie und ihr Spiegelbild hatten nichts gemein.

    Sie schnitt eine Grimasse. Ihr Spiegelbild gab sie wieder. Aber sie spürte nichts.

    Sie entkleidete sich weiter, machte sich nicht mehr die Mühe, alles ordentlich auf den Stuhl zu legen. Bis sie nackt vor dem Spiegel stand.

    Sie war schön. Immer noch.

    Warum sah man ihrem Körper die letzten Tage und Wochen nicht an?

    Sie wandte sich von ihrem Spiegelbild ab und schlüpfte unter die Decke. Es dauerte nicht lange, und sie war eingeschlafen.

    5. Kapitel

    Dollien, 14. Juli 1914

    Liebste Freundin!

    Man sagt immer, wenn es einem gut geht, lässt man nichts von sich hören, und wenn man an dem Leben oder irgendwelchen Beschwernissen leidet, teilt man das gerne mit. Ich weiß nicht, wie das bei mir ist. Es geht mir nicht gut. Aber auch dass es mir schlecht geht, kann ich nicht mit Fug und Recht sagen. Ich wäre ungerecht.

    Jetzt ist es mehr als ein Jahr her, dass wir Friedrichshagen verlassen haben und hier bei meinen Eltern in der Uckermark Asyl gefunden haben. Was ich nicht geglaubt habe, die Kinder sind hier in der ruhigen und beschaulichen Umgebung richtig aufgeblüht. Bettina und Clementine haben sich zu hübschen kleinen Damen entwickelt. Ich muss nur aufpassen, dass sie nicht zu kokett werden. Vor allem Clementine hat eine Art, die die jungen Männer reizen und sie selbst in Gefahr bringen könnte. Glücklicherweise gibt es hier nur wenig junge Männer, denn der kleine Ort in der Nähe ist zwar recht ansehnlich, aber weit ab von Berlin und Potsdam. Und die wenigen ledigen Männer, die es gibt, sind so wenig attraktiv, dass sie Clementine nicht gefährlich werden können.

    Ludwig entwickelt sich nach anfänglichen Schwierigkeiten prächtig. Anfangs hat er sich mit seinem Großvater überhaupt nicht verstanden. Er spürte die Ablehnung meines Vaters gegen Achim. Aber inzwischen hat sich das geändert. Vater hat sich etwas zurückgenommen. Es scheint ihm jetzt vor allem um Ludwigs Wohl zu gehen. Er nimmt ihn mit auf die Felder, lässt ihn das Korn prüfen, lässt ihn die Ernte schätzen und die Tagelöhner und Helfer einteilen. Nur ganz selten muss er noch eingreifen, wenn Ludwig wie ein junges Fohlen zu ungestüm ist.

    Aber, und das, liebste Freundin, macht mir Sorgen, er will nicht hier bleiben. Er will nicht von seines Großvaters Gnaden das Gut verwalten. Und Max von Walther, den jetzigen Verwalter, nicht von seinem Platz verdrängen.

    Lieber will ich unseren kleinen Hof bewirtschaften als dieses Gut. Dort bin ich mein eigener Herr", hat er letztens gesagt. Und das hat mir, wie Du Dir denken kannst, im Innersten sehr wehgetan.

    Noch etwas anderes beschäftigt mich sehr.

    Du weißt, wir sind immer aus dem Raum geschickt worden, wenn die Erwachsenen, vor allem die Männer, politisiert haben.

    Jetzt lässt sich das kaum noch machen. Ich bin inzwischen zu alt geworden und füge mich nicht mehr so einfach.

    Seit einigen Tagen, ich spüre es ganz deutlich, hat sich etwas verändert. Ich habe meinen Vater gefragt, doch er hat nicht geantwortet. Früher hatte er immer gesagt: „Davon verstehst du sowieso nichts", jetzt hat er nur geschwiegen.

    Meine Mutter hat mir dann gesagt, es wäre etwas ganz Schlimmes passiert, man hätte den Erzherzog Franz Ferdinand von Österreich in Sarajewo ermordet. Und es könnte durchaus Krieg geben.

    Krieg! Stell Dir vor, Krieg!

    Die Männer hier im Ort gebärden sich wie die Kinder. Schwenken Fahnen, singen vaterländische Lieder, treffen sich am Abend in der Wirtschaft und verteilen schon das Bärenfell, als hätten sie es gewonnen. Und mein Vater, den ich immer für so klug gehalten habe, ist in der ersten Linie. Wie gerne würde er losziehen.

    Es gibt keinen Zweifel an unserer Treue zu Österreich, und es darf und wird nie einen Zweifel geben! Auf die Treue!", hat er gestern Abend auf einer Versammlung bei uns im Haus ausgerufen. Ich habe weggehen müssen, so schrecklich fand ich das.

    Was denken diese Menschen, die so den Krieg herbeisehnen? Der Krieg erscheint ihnen wie ein Abenteuer, aus dem sie jederzeit nach Hause zurückkehren können. Arme Menschen! Ich wünsche uns allen, dass sie sich nicht irren.

    Nun bin ich mir doch untreu geworden. Ich wollte Dich nicht belasten und habe es ganz sicher getan. Sei mir nicht bös! Noch können wir hoffen, dass alle Sorgen umsonst sind, dass

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