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Aufgetau(ch)t
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eBook251 Seiten3 Stunden

Aufgetau(ch)t

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Über dieses E-Book

Nach dem Tod des Vaters verfällt die nach Deutschland immigrierte Familie Selcan in tiefe Depressionen. Die Mutter hat weder das Geld noch die Kraft für ihre Kinder zu sorgen während sich die Krankheit ihres 15-Jährigen autistischen Sohns Fabio zunehmend verschlechtert. Einzig Esme, die Tochter versucht ihre Familie und sich in dem neuen Land zu integrieren.
Als sie das Jugendamt einschaltet, welches entscheidet dass Fabio trotz seiner Krankheit eine Schule besuchen muss, bemerkt dieser dort seinen besonderen Bezug zu der deutschen Sprache.
Während sich Esme und ihre traumatisierte Mutter stets um die Zukunft Fabios streiten entwickelt er eine eigene Technik wieder stärker an der Realität teilzunehmen: Er sprayt Graffitis, schreibt Gedichte und erzählt Geschichten. Denn in den Momenten, in denen er selbst schreibt verlässt er seine eigene Welt und nimmt die Umwelt ausnahmsweise wahr.
So entwickelt sich ein innerlicher Kampf zwischen seiner Krankheit und dem Wunsch mit seinem Talent für Sprache ein Leben wie die anderen leben zu können...
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum22. Feb. 2015
ISBN9783738016437
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    Buchvorschau

    Aufgetau(ch)t - Florian Lange

    -1-

    Als das Telefon klingelte, war es kurz vor vier Uhr in der Nacht. Das Läuten durchschnitt das Halbdunkel und ließ die Frau aus dem Kissen schnellen. Am Abend hatte sie sich den Apparat direkt neben das Bett gelegt, um einen möglichen Anruf unter keinen Umständen zu verpassen. Nun war es so weit. Und obwohl sie zuvor kaum hatte schlafen können, begann erst jetzt, bei vollem Bewusstsein der Albtraum.

    Binnen weniger Minuten war sie aufgestanden und hatte alle nötigen Dinge zusammengesucht. Hellwach und voller Sorge. Nichts wollte sie vergessen. Einen letzten Blick wagte sie in das vom Mond erleuchtete Zimmer, welches im matten Schein nur das Ehebett zu erkennen gab. Eine der beiden Bettdecken war piekfein gefaltet und lag an ihrem Platz als wartete sie darauf, benutzt zu werden. Die Seite daneben war von benutzten Taschentüchern bedeckt, während die Decke auf dem Boden lag. Das Zimmer spiegelte den Gemütszustand der Frau wider: trist, einsam und unordentlich. Als fehlte etwas. Als die Frau den Flur entlangstürmte, konnte sie kurz in die Zimmer ihrer Kinder schauen. Beide schienen ebenfalls wenig geschlafen zu haben und wirkten bereit aufzubrechen. Noch schnell ein Griff in den Kühlschrank – und los.

    Niemand redete, weil alle wussten, was die anderen dachten.

    Niemand wollte reden, weil keiner die richtigen Worte gefunden hätte.

    Niemand würde von nun an für die nächste Zeit mit den anderen reden, weil alle mit sich selbst beschäftigt sein würden.

    Die Taxifahrt zum Krankenhaus verflog in Windeseile. Der Fahrer stellate keine weiteren Fragen als drei aufgelöst wirkende Personen in seinen Wagen sprangen und ihm wild gestikulierend verdeutlichten, dass sie doch bitte zum St.-Marien-Krankenhaus gebracht warden wollten. So schnell es geht!

    Das Krankenhaus war der einzige Ort, der nicht schlief. Fenster waren erleuchtet, und die Blaulichter des Rettungsdienstes versprühten eine ungemütliche Anspannung, derer niemand Herr werden konnte.

    Auf der Intensivstation herrschte reges Treiben. Der Verletzte aus dem Krankenwagen wurde von vier Ärzten durch die Flure geschoben, die Schwestern verloren keine Sekunden, bereiteten die Notoperation vor und liefen so zielgerichtet wie irgend möglich durch die schmalen Flure. Als der Tross des Verletzten am Zimmer 047 vorbeizog, konnte man nur drei Gestalten hinter dem Milchglas erkennen, die fest umschlungen am Fußende des Bettes standen. Hätte einer der Ärzte die Tür aufgemacht, hätte er eben jene Familie gesehen, die man ungefähr eine Stunde zuvor alarmiert hatte, um ihr den letzten Hoffnungsschimmer zu nehmen, der geblieben war. Der Vater und Ehemann war gestorben, das Zimmer leer geräumt. Nichts sollte die Trauernden daran hindern, gemeinsam um den Verstorbenen zu weinen. Alle Beatmungsgeräte und Pulsmesser hatten den Raum für eine einzige Kerze verlassen müssen, die nun an der Stirnseite des Bettes ihr warmes Licht verströmte. Obwohl die Wände hell und freundlich wirkten, hing der trübe Schein der Trauer im Zimmer. Am Milchglasfenster, welches zum Flur zeigte, war nun der Schatten eines Mannes zu erkennen, der das Zimmer in wenigen Sekunden betreten würde und die Umstände des Todes erklären wie auch der Familie psychologische Hilfe sein sollte.

    Er blickte durch die Scheibe in das Zimmer in dem Bewusstsein, dass die Personen darin ihn durchaus schon wahrgenommen hatten. Das war seine Philosophie: indirektes Beistehen. Die Familie sollte sich allein, aber immer mit der Chance auf Unterstützung, vom Toten verabschieden. Es stand jemand hinter ihr. Siebzehn Jahre schon übte er seinen Beruf aus. Jedoch erwischte es ihn jedes Mal wieder kalt, wenn er Kindern erklären musste, dass sie von nun an ohne ihren Papa würden aufwachsen müssen. Hier war die Situation besonders heikel. So wie man den 15-jährigen Sohn bei seinen seltenen Besuchen beim Vater kennengelernt hatte, sollte er psychisch völlig unberechenbar sein. Ob Autist oder „nur" schizophren.

    Die Ärzte waren sich nicht sicher.

    Der Schatten hinter dem Glas verschwand, als der hochgewachsene Psychologe die Tür öffnete und ins Zimmer trat. Er schüttelte allen die Hände und sprach sein tiefstes Beileid aus, und zu seiner großen Erleichterung verhielt sich der Junge so, als wohnte er der Situation momentan mit vollem Bewusstsein bei. Er saß schweigend auf seinem Stuhl und versuchte, die Lage zu realisieren. Seine um ein Jahr ältere Schwester weinte ohne Unterlass. Immer wieder schlug sie mit der breiten Hand gegen die Wand und stieß einen kurzen Schrei aus, der von ihrem Kloß im Hals sogleich erstickt wurde.

    Die Aufmerksamkeit des Psychologen galt allen Personen im Raum. Es war seine Aufgabe, in den Menschen zu lesen und so die richtigen Worte zu finden. Er kannte die Situation und wusste genau, welche Qual die nächsten Jahre auf die Familie und vor allem die Mutter wartete. Kaum Geld, kein Mann, keine Einnahmen und ein Sohn, dessen unheilbare Krankheit noch niemandem wirklich bewusst geworden war. Immer deutlicher musste der Betreuer der Familie erkennen, dass in dieser Lage kein Wort helfen würde, die Situation zu begreifen. Und so schwieg der Mann und schloss sich auf diese Weise der Familie an, die für die nächsten Wochen eben dieses Schweigen untereinander fortführen würde. Die einzige Person, der es gelang zu sprechen, war die Mutter. Nicht zu ihren Kindern, das konnte sie noch nicht verkraften. Sondern zu dem Psychologen. Immer und immer wieder fragte sie, ob denn wirklich alles getan worden war. Ob ihr Mann noch ein letztes Wort gefunden hatte. Ob man ihn denn nicht noch bis zu ihrer Ankunft hätte am Leben halten können. Doch die Antwort auf jede dieser Fragen hätte die Frau ein weiteres Mal getroffen. Es gab kein Zurück. Es gab nur noch den Blick nach vorn. Und der zeigte einen Weg im Dunkeln. Einen Weg voller Steine und Felsen, die es zu erklimmen galt, im Wechsel mit Klippen, die die Familie verschlucken wollten. Die Wolken über dem Weg würden schwarz bleiben und kein Licht hindurchlassen.

    Und so würden sie umherirren, ohne sich auf ihre Augen verlassen zu können.

    Ohne Zuversicht und Frohsinn.

    Mit der Trauer und dem ewigen Gedanken an den Verlust und dessen Schmerz.

    Als die Familie sich von dem Psychologen verabschiedete und das Krankenhaus verließ, wehte ein leichter Wind, und die Sonne ging auf. Als sei sie bereit, die Personen zu begleiten.

    -2-

    "Ich will nicht mehr. Versteh’n sie? Meine Kraft ist am Ende. Ich weiß nicht, wohin, ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich weiß nicht, wie ich mit der Situation fertig werden soll. Das ist nicht zu realisieren. Mein Mann ist tot. Ich fühl’ mich, als hätte man einen riesigen Stein auf mich geworfen. Und der hat meinen Kopf zertrümmert. Es ist jetzt drei Wochen her, aber ich habe noch kein Wort mit den Kindern gewechselt. Ich weiß, was Sie denken. Die hat se nicht mehr alle. Wie hat die die drei Wochen rumbekommen? Die Kinder brauchen Hilfe.

    Ja, verdammt!

    Die Kinder brauchen Hilfe! Und zwar dringend. Ich muss jetzt da sein, mit ihnen reden. Aber wissen Sie, was ich fühle, wenn ich sie sehe? Wissen Sie, was ich denke, wenn ich mit ihnen nur einmal sprechen würde? Es ist so egoistisch, und ich schäme mich für mich selbst, aber ich kann mit den Kindern im Moment nicht reden: weil ich ihren Vater sehe. Seine Augen, seine Ohren, sein Mund. Alles, was ich liebte, ist tot. Nur erinnert er mich an seinen Vater. Fabio hat so viel von ihm. Er sitzt seit drei Wochen in seinem Zimmer und schaut an die Wand. Nur manchmal steht er auf und malt in sein Buch. Irgendwelche Zeichnungen, und das Erste, was mir einfällt, ist, ihm zu sagen, dass er jetzt fünfzehn ist und verdammt noch mal nicht malen soll. Aber er ist halt so. Der Junge ist aber nicht verrückt. Er ist ganz normal. Immer wieder schreit er wild durch das Haus, aber das ist doch normal, wenn man seinen Vater verloren hat, oder? In der Nacht werde ich wach und höre, wie er mit sich selbst spricht. Der arme Junge. Aber wissen Sie, was die Ärzte vergessen, wenn sie ihn für verrückt erklären? Sie vergessen, was der Junge durchmachen musste. Hören Sie: Ich habe meinen Mann vor sechs Jahren in der Türkei kennengelernt. Wir haben schnell geheiratet und zwei wundervolle Kinder bekommen. Ich liebe sie. Ich wollte damals zurück nach Deutschland, aber Hakan war dagegen. Er arbeitete in Ankara, und so blieben wir dort, und die Kinder lernten Türkisch. In der Schule war Esme eine gute Schülerin. Sie lernte gut, hat sich angestrengt. Nur Deutsch durfte sie nie lernen, weil Hakan dagegen war. Fabio fiel es schwerer. Er ist halt nicht so gesegnet. Wenige Freunde und dann die Mitschüler. Sie riefen ihn immer ‘Spastiker’ oder ‘Geisteskranker’. Aber er ist nicht geisteskrank. Nein, ist er nicht. Und dann, vor drei Monaten: Da sind wir doch nach Deutschland gezogen. Hakan hatte wegen seiner Krankheit seinen Job verloren, und in Deutschland gab es eine sehr gute Therapie. Doch als er im Krankenhaus war, hatten wir kein Geld. Keine Arbeit. Ich kannte hier alte Freunde, die uns halfen, eine kleine Wohnung zu kaufen. Aber was ist jetzt? Nichts. Ich kann nicht mit Geld umgehen, und zu allem Überfluss habe ich keines.

    Warum ich Ihnen das alles in der ersten Sitzung erzähle?

    Ich habe Angst.

    Angst zu Scheitern.

    Ohne Mann. Ohne Geld. Ohne alles. ICH BIN ALLEIN! Ich pack’ das nicht mehr. Ich will nicht mehr."

    Die Frau verließ das Büro, ohne ein weiteres Wort zu sagen. An der Rezeption erhielt sie den Termin für die nächste Sitzung.

    -3-

    Fabio lag wach in seinem Bett. Die Augen hatte er weit aufgerissen. Schon seit drei Stunden bewegte er sich keinen Zentimeter, und er hatte auch nicht vor, es zu tun. Die Gedanken kreisten um ihn. Immer wieder wollte er sie einfangen und einmal zu Ende denken. Fabio mochte seine Gedanken. Das Denken gab ihm ein Gefühl von Struktur und Ruhe. Ruhe war wichtig. Wichtig. Ruhe. Nur so konnte er sich in der Position halten, in der er war. Diese Position hatte er in den letzten Wochen lieben gelernt. Hin und wieder kam seine Mutter in das Zimmer und blickte ihn kurz an. Doch meistens verschwand sie wortlos mit Tränen in den Augen. Fabio wollte sie in den Arm nehmen, weil er merkte, dass sie traurig war. Trauer mochte der Junge nicht. Seine Mutter war früher so lebenslustig und glücklich gewesen. Bis zu dem Tag, als sein Vater nach Hause kam und ihnen mitteilte, dass sie nach Deutschland fliegen würden. Dort würde es seinem Vater besser gehen, und wenn es seinem Vater besser ginge, würde auch Fabio zufrieden sein. Er mochte das Leben in der Türkei nicht. Die Menschen mochten ihn nicht, und daher mochte er sie nicht. Irgendwelche Zurufe durchfuhren ihn damals. Meist lachten die anderen über ihn, und weil Fabio nicht zuhörte, sondern seinen Gedanken nachhing, reagierte er nicht auf die anderen. Aber er wusste, dass er nicht war wie sie. Bis dahin war es seiner Familie gut gegangen. Deshalb sagte Fabio nichts. Er sprach nicht gern. Denken war immer schon seine Leidenschaft gewesen. Auch als die Ärzte kamen und ihn fragten, was er auf den Bildern sah, mochte er nicht sprechen. Viele Personen kümmerten sich um ihn, als er einmal in der Schule einen Klassenkameraden niedergeschlagen hatte. Mit blutiger Nase war der Junge zu einem Lehrer gelaufen und hatte auf Fabio gezeigt. Dieser war nur für eine Sekunde in der Welt der anderen gewesen. Und in jener Welt hatte ihm der kleine Junge wehgetan. Danach kamen abermals Ärzte und untersuchten ihn. Kleine Punkte mit Kabeln, die zu einem Computer führten, wurden an seinem Kopf angelegt, bevor er schnell hin- und herflatternde Punkte verfolgen sollte. Fabio ließ alles über sich ergehen.

    Aber dann flogen sie nach Deutschland.

    Und da, ja, da ging es genauso weiter. Nur die Ärzte hatten seltsame Namen. Aber das Prozedere blieb gleich.

    Punkte-Computer-Fragen. Punkte-Computer-Fragen. Punkte-Computer-Fragen.

    Und er kannte noch nicht einmal die Sprache der anderen. Sein Vater war nie zu Hause und seine Mutter nur abends. Seine Schwester bereitete ihn jeden Tag erneut für die Schule vor, aber häufig blieb er im Bett liegen und ließ sich nicht ermutigen. Das Leben in Deutschland war nicht schön für Fabio. Überhaupt nicht schön. Aber es sollte noch schlimmer werden. An dem Tag, als es passierte, beschloss Fabio, alles zu vergessen, was in Deutschland passiert war, und in der Türkei noch einmal neu zu starten. Darum verstand er jetzt nicht, weshalb seine Mutter in der Tür stand und weinte. Das Einzige, was ihm durch den Kopf ging, war: Warum tröstet Papa sie nicht?

    Esme kam von der Schule nach Hause. Sie machte sich etwas zu essen und fing mit den Hausaufgaben an. Jedes Mal, wenn sie an Fabios Zimmer vorbeilief, schaute sie kurz herein und grüßte ihren Bruder, ohne eine Antwort zu erwarten. Es war der zwanzigste Tag nach dem Tod ihres Vaters. Obwohl all die organisatorischen Dinge bereits erledigt waren, vermochte keine Routine einzukehren. Die Mutter weinte fast Tag und Nacht und sprach nur mit ihrem Psychiater. Kein Wort hatte sie mit Esme gesprochen, und natürlich hatte Esme keine Erklärung für dieses Verhalten. Jede Sekunde ihres Seins beschäftigte sie sich mit ihrer Mutter, ihrem Bruder und ihrer aller Zukunft. Und egal, was Esme sich überlegte, immer wieder stand am Ende die Erkenntnis der totalen Ausweglosigkeit. Wieso wir? Was haben wir falsch gemacht?

    Zu gerne würde sie helfen. Die fremde Sprache lernen und arbeiten, damit sie zumindest die Wohnung behalten konnten. Die Hilfen vom Staat waren nur gering. Jedes Mal, wenn Esme in die zugeschickten Formulare blickte, stieg in ihr ob der permanenten Bürokratie Groll auf. So musste man die Sterbeurkunde einreichen, einen Halbwaisenantrag stellen und die Konten ihres Vater überschreiben. Bis jetzt ging Esme auf eine türkische Schule. Dort wurde selbstverständlich Deutsch gelehrt, aber die Formulare der Beamten verstehen konnte sie noch lange nicht. Sie bedauerte ihren kleinen Bruder. Er lag Tag für Tag im Bett und rührte sich nicht. Obgleich ihre Mutter ihr jeden Morgen mitteilte, sie solle Fabio doch bitte mit in die Schule nehmen, war ihr bereits seit Langem klar, dass die Mutter ihre Augen vor der Wirklichkeit verschloss. Die plötzlichen Ausraster, das Schreien in der Nacht, kaum ein Wort aus seinem Mund. Fabio war verrückt, keine Frage.

    Und deshalb hielt sie es für das Beste, ihn morgens liegen zu lassen, wenn er nicht aufstehen wollte. Ihre Mutter bekam davon nichts mit. Sollte sie auch nicht, sonst hätte Esme sich Probleme eingehandelt, die sie in ihrer Situation für unnötig hielt. So verliefen die Wochen ohne Worte oder mit Worten ohne Werte.

    Bis zu jenem Mittwoch.

    Damals stand sie in ihrer Tür. Soeben war sie von einer weiteren Psychiatersitzung zurückgekommen, hatte die Schlüssel hingelegt und war in Esmes Zimmer geeilt. Dort stand Lira einige Momente im Türrahmen, mit sich ringend, endlich wieder ein Wort mit ihrer Tochter zu sprechen, und machte schließlich den Mund auf.

    Ich liebe dich, Esme. Ich liebe dich von ganzem Herzen. Ich liebe auch Fabio. Ihr seid das Letzte, was mir geblieben ist. Und ich will euch nicht auch noch verlieren. Sie seufzte, und Esme deutete auf den Hocker, den sie als Schreibtischstuhl verwendete. Lira verstand und setzte sich. Ohne eine Sitzposition gefunden zu haben, fuhr sie fort.

    Wir müssen etwas ändern. Ich habe einen Brief erhalten. Lies ihn!

    Ihre Tochter nahm das Blatt entgegen und versuchte, die Buchstaben zu entziffern. Nicht viel konnte sie erkennen, aber langsam wurde ihr bewusst, was der Brief beinhaltete.

    Schulpflicht ... Fabio Selcan ... nicht anwesend ... Unterricht ...

    Was hast du getan? Du hattest doch die Aufgabe, ihn mitzunehmen. Verstehst du denn nicht, dass er genauso in die Schule gehen muss wie du? Er muss Deutsch lernen, und du hast den Vorsprung in der Sprache, um ihm dabei helfen zu können. Was meinst du, warum ich den ganzen Tag versuche, an einen besseren Job zu kommen? Nicht, damit du Fabio hier allein lässt. Esme konnte ihrem Gesicht anmerken, wie viel Überwindung ihre Mutter eine solche Unterhaltung kostete. Das erste Gespräch zwischen den beiden. So sah es also aus. Keiner der beiden hatte gewollt, dass es so kam, aber nun galt es, an sich zu halten und sachlich zu bleiben.

    Ich dachte, dass er noch etwas Zeit braucht. Mama, er kann noch nicht in die Schule.

    Warum? Warum er nicht und du schon?

    "Weil er das nicht schafft. Fabio spricht kaum und wenn doch, dann nur wirres Zeug. Er liegt

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