Jana und der Schattenmann
Von Stefan Peters
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Über dieses E-Book
Jana, ein an einem Tumor erkranktes Mädchen, liegt im Krankenhaus und hat vor allem Angst. Um diese Angst loszuwerden, läuft sie viel über die Flure - sehr zum Leidwesen des Pflegepersonals. Als sie wieder einmal auf dem Flur ist und aus dem Fenster sieht, begegnet sie einem Mann in einem dunklen Anzug. Doch ausser ihr kann niemand diesen Mann sehen.
Stefan Peters
Der Autor wurde in den schönen siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts geboren. Er arbeitet im Gesundheitsbereich und schreibt für sein Leben gern. Wenn er dies mal nicht tut, liebt er Spaziergänge im Wald oder am Strand.
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Buchvorschau
Jana und der Schattenmann - Stefan Peters
Kapitel 1
Jana schob ihre Haltestange mit dem Infusionsbeutel vor sich her. Sie trug ihren dunkelblauen Bademantel und darunter ihr weißes Nachthemd. Mit ihren braunen Pantoffeln schlurfte sie über den langen Flur des Krankenhauses und sah dabei durch jede offene Tür, an der sie vorbeikam. Überall roch es so komisch. Sie kannte diesen Geruch ja gut genug, sie war jetzt schon lange genug in diesem Krankenhaus. Aber gewöhnen würde sie sich wohl nie daran.
Eine Schwester in ihrem weißen Kittel kam auf sie zu und hob spielerisch ihren Zeigefinger in die Höhe. »Du bist ja schon wieder unterwegs. Du solltest doch liegen bleiben.«
Angelika, so hieß die Schwester, lächelte bei diesen Worten und strahlte Jana aus ihren braunen Augen freundlich an. Jana mochte Angelika. Sie war immer gut gelaunt und schien vor gar nichts Angst zu haben. Ganz im Gegensatz zu ihr, die vor vielen Dingen Angst hatte. Am meisten fürchtete sie sich vor dem Tod. Ihr Bruder Jakob, er war schon siebzehn, erzählte ihr immer mal wieder von dem Tod. Erst gestern wieder, als er zu Besuch gekommen war, hatte er ihr vom Tod erzählt: »Das ist ein großes schwarzes Loch«, hatte er gesagt und dabei seine Arme ganz weit ausgebreitet. Ihr Vater hatte zwar sofort mahnend auf seinen Sohn eingeredet, aber die Worte waren gesagt und Jana hatte dabei furchtbare Angst empfunden. Das kam auch davon, weil gerade vor zwei Tagen eine Zimmernachbarin von ihr gestorben war. Sie hatten sich gut verstanden und immer viel gelacht, aber dann war es ihr plötzlich sehr schlecht gegangen und die Ärzte hatten ihr nicht mehr helfen können. Und gestern war dann das andere Mädchen, das mit ihnen auf ihrem Zimmer gelegen hatte, entlassen worden. Jetzt lag sie ganz allein auf dem Zimmer und das machte ihr zusätzlich Angst.
Schwester Angelika hatte ihr gesagt, dass sie bald wieder jemanden auf ihr Zimmer bekommen würde, aber das konnte auch erst in zwei oder drei Tagen der Fall sein. Und da ihre Eltern nicht den ganzen Tag hier in dieser Klinik sein konnten, weil sie beide arbeiten mussten, war sie immer viel unterwegs, obwohl ihr Arzt gesagt hatte, dass sie lieber im Bett bleiben sollte. Aber Jana konnte nicht die ganze Zeit an die Wände starren und mit den Fingern auf ihrer Bettdecke herumtrommeln. Das machte sie nervös und verstärkte ihre Ängste noch.
Sie hatte immer schon viele Ängste gehabt, aber seit Andrea, so hieß das zehnjährige Mädchen, das gestorben war, nicht mehr da war, fürchtete sie sich ganz besonders davor, dass sie von diesem schwarzen Loch verschluckt werden könnte.
Jana war erst neun Jahre alt, aber durch ihre Krankheit wirkte sie schon wie mindestens zwölf. Sie sprach nicht viel, aber wenn sie etwas sagte, war es klar durchdacht. Nur mit ihren Empfindungen konnte sie nicht so klar umgehen. Das lag daran, dass ihre Eltern nie über Gefühle sprachen. Wahrscheinlich deshalb nicht, weil sie nicht mit ihren eigenen Gefühlen umgehen konnten.
Und seit dem Tag, an dem Andrea gestorben war, hatte Jana immerzu Angst, dass auch sie sterben könnte und dass sie dann in dieses große schwarze Loch gesaugt werden würde. Ihr Bruder machte dazu immer die Geräusche eines Staubsaugers und hielt sich beide Hände ringförmig vor den Mund, um sie noch besser erschrecken zu können.
Bei dieser Vorstellung bekam sie eine Gänsehaut. Sie schob das Gestänge leise rumpelnd weiter und schlurfte an den Türen vorbei, die zu den Schwestern gehörten. Da durfte sie nicht rein, das wusste sie. Sie schlurfte weiter und kam zu dem Raum, der extra für die gedacht war, die unbedingt ihre Lungen vergiften wollten. Dieser Ausdruck stammte von ihrem Vater. Der Raum war so voller Qualm, dass man kaum die Menschen darin sehen konnte. Jana schüttelte den Kopf. Ihr Vater hatte ihr gesagt, dass man vom Rauchen sterben könnte. Warum machten sie es dann? Sie hatte Angst vor dem Tod, hatten diese Leute keine? Oder war es ihnen egal?
Eine Tür zu ihrer Linken wurde geöffnet und ein Pfleger kam heraus. Als er sie sah, lächelte er sie fröhlich an. »Hallo, Jana. Schon wieder unterwegs?« Er zwinkerte ihr zu.
Er hieß Franz und war unheimlich nett. Sie lächelte zurück und sah zu dem Raum zurück, wo sich die Leute vergifteten.
»Die sind komisch, was?«, sagte Franz, »Was die sich da freiwillig antun.«
»Haben sie denn keine Angst vor dem Tod?«, fragte Jana. Sie hatte diese Frage in den letzten Tagen schon sehr oft gestellt. Das hielt sie aber nicht davon ab, es immer wieder zu tun. Vielleicht würde sie ja einmal verstehen, was in diesen Menschen vorging.
»Da kann man nichts machen«, sagte Franz, »Wenn sie sich das antun wollen ...« Er zuckte mit den Schultern. »Ich muss mal wieder arbeiten und du solltest lieber schön hier auf der Station bleiben. Sonst machen wir uns wieder Sorgen um dich.«
»In Ordnung, ich bleibe auch immer in der Nähe von meinem Zimmer.« Wenigstens verlangte er nicht von ihr, dass sie wieder auf ihr Zimmer gehen sollte. Dort war es so unheimlich. Jetzt, wo Andrea tot war und niemand außer ihr dort schlief. Dort hatte sie Angst. Wenn ihre Eltern da waren, hatte sie keine Angst, zumindest keine große. Aber sie kamen immer nur abends so gegen sechs Uhr, und dann blieben sie bis acht. Aber dann wurde es ja dunkel und dann war sie wieder allein. Und vor dieser Dunkelheit hatte sie große Angst.
Jana sah Franz nach, der in einem anderen Zimmer verschwand. Dann schlurfte sie den Gang weiter, bis sie an ein Fenster kam. Sie blieb stehen und sah hinaus auf den Park, der das ganze Krankenhaus umgab. Wie schön grün er ist, dachte sie. So viele Tannen und die anderen Bäume, deren Namen sie vergessen hatte. Und die schönen Blumenbeete, die dort am Rand angelegt waren. Sie stellte sich auf ihre Zehenspitzen, um besser sehen zu können. Sie kannte die Namen der Blumen nicht, aber sie waren so schön rot und gelb und ein paar violette Blüten waren auch dazwischen. Wie gerne würde sie dort spazieren gehen. Aber sie war sehr schwach und eigentlich sollte sie ja jetzt auf ihrem Zimmer sein und in ihrem Bett liegen.
Sie seufzte tief und löste ihren Blick vom Park und sah direkt in das Fensterglas. Dort spiegelte sich ihr Kopf, den sie jetzt kritisch betrachtete. Das machte sie jeden Tag. Sie suchte nach Anzeichen, dass ihre Haare wieder wachsen würden; im Augenblick war sie nämlich völlig kahl. Und das würde auch so bleiben, bis die Ärzte mit ihren Therapien aufhören würden. Obwohl die Ärzte ihr alles erklärt hatten, verstand sie nicht so genau, wie das alles zusammenhing, aber für ihre Gesundheit würde sie alles ertragen. Deshalb machte es ihr auch nichts aus, diese Stange mit dem Beutel mit sich herumzuschleppen, bis sie ihn nicht mehr brauchen würde.
Sie fuhr sich mit der Hand über den Kopf, der sich völlig glatt anfühlte. Sie hatte sich schon daran gewöhnt, aber der Anblick in einem Spiegel, oder jetzt in dem Fenster, gefiel ihr immer noch nicht. Hoffentlich wächst das wieder nach, dachte sie und seufzte erneut.
Ein paar Tränen wollten sich in ihren Augen bilden, doch sie drängte sie energisch zurück. »Du kleine Heulsuse«, sagte ihr Bruder immer. Er wusste genau, dass er sie damit ärgern konnte. Und obwohl sie krank war, machte es ihm großen Spaß, sie zu ärgern. Er kam deshalb auch selten zu Besuch. Sie hatte den Verdacht, dass ihre Eltern ihn davon abhalten wollten, sie zu ärgern.
Sie sah wieder auf die Spiegelung und fuhr sich noch einmal seufzend über den glatten Kopf. Sie hatte einmal so schöne braune Haare gehabt!
Sie wollte sich gerade umdrehen, als sie in dem Glas einen Mann sah, der hinter ihr entlang ging. Er ging mit energischen Schritten und sah sie kurz an. Dabei lächelte er. Jana lächelte in das Spiegelbild und drehte sich zu dem Mann um. Doch als sie nach links und nach rechts schaute, war niemand da. Der Mann war einfach verschwunden. »Das gibt es doch nicht«, murmelte sie.
»Das gibt es tatsächlich nicht«, sagte eine voll klingende Frauenstimme hinter ihr.
Sie fuhr herum und sah in die grauen Augen von Oberschwester Gretel. Aber der Name war auch das Einzige, was an dieser Frau komisch war. Sie war streng und unnachgiebig und Jana wusste genau, was sie jetzt sagen würde.
»Die Ärzte haben dir doch gesagt, dass du im Bett bleiben sollst. Warum läufst du schon wieder hier herum?«
Jana wollte sagen: »Weil ich Angst habe«, aber Gretel ließ sie gar nicht zu Wort kommen. Sie fasste die Stange für den Beutel mit der einen Hand und die andere legte sie Jana in den Rücken. Dann schob sie die beiden unfreiwillig vor sich her in die Richtung, in der ihr Zimmer lag. Auf dem Weg dorthin sagte sie immer wieder: »Ich verstehe wirklich nicht, warum du so leichtsinnig bist. Du bist schwer krank, warum hörst du nicht auf die Ärzte?«
Jana ließ es über sich ergehen und ging, angetrieben durch die energische Hand der Oberschwester, durch den Gang zu ihrem Zimmer.
Punkt sechs an diesem Abend kamen ihre Eltern, Klaus und Hedwig Oberfeld, zu Besuch. Ihre Gesichter waren strenger als sonst und Jana wusste auch, warum das so war. Sie hatten mit Oberschwester Gretel gesprochen und jetzt würden sie sie ermahnen, weil sie wieder nicht auf sie gehört hatte.
Ihre Mutter gab ihr einen Kuss auf die Wange, ihr Vater nickte ihr nur zu.
Als sie sich auf die beiden harten Stühle gesetzt hatten, sagte ihr Vater: »Oberschwester Gretel hat uns erzählt, dass du wieder nicht gehört hast.«
Selbst so ein harmloser Satz konnte bei ihrem Vater sehr hart klingen. Sie sah in seine blauen Augen und sagte: »Es tut mir auch leid, aber ...«, begann sie, doch ihr Vater hob schon seinen Zeigefinger. Jana verstummte sofort. Sie wusste, wie gefährlich es war, ihn zu verärgern.
Hedwig legte eine Hand auf die Hand ihres Mannes und sagte sanft zu ihrer Tochter: »Du weißt doch, wie schwach du bist, Jana. Die Chemotherapie hat dich geschwächt und du kannst noch nicht so herumtollen wie früher. Das verstehst du doch, oder?«
Ihre Mutter hatte ihren: Du-bist-doch-unser-großes-Mädchen Blick aufgesetzt. Jana kannte ihn sehr gut. Natürlich war sie kein Baby mehr. Sie war aber auch noch keine erwachsene Frau. Ihre Eltern behandelten sie aber manchmal so, als ob sie schon zwanzig wäre. Sie wollten einfach nicht sehen, oder vielleicht konnten sie es nicht, dass Jana erst neun war und noch andere Gefühle hatte als die eines Erwachsenen. Und daraus folgte, dass sie kein Verständnis für ihre Ängste hatten. Sie durfte es noch nicht einmal erwähnen. Ihr Vater war in diesem Punkt besonders schlimm. Jana versuchte deshalb in seiner Gegenwart, immer die Tapfere zu spielen. Sie fand es aber schlimm, dass sie mit ihren Eltern überhaupt nicht über Gefühle sprechen konnte. Ihr Vater kam ihr manchmal wie ein kalter Fisch vor und ihre Mutter war auch nicht so viel wärmer als ihr Vater.
Ihr Vater sah sie immer noch ein bisschen streng an, deshalb fragte sie: »Wann bekomme ich einen neuen Zimmernachbarn?«
»In ein oder zwei Tagen«, sagte Hedwig und strich mit dem Handrücken über Janas Wange. »Du bist doch schon ein so tapferes Mädchen, Jana. Du hast doch keine Angst, oder?«
Jana lächelte gequält und sagte: »Nein.«
Ihr Vater nickte bei diesem Wort. Jana fragte sich, ob ihre Eltern nicht erkannten, dass das eine Lüge war oder ob sie das einfach nicht interessierte.
Ihr Vater lächelte plötzlich und sagte: »Ich weiß doch, dass ich schon eine fast erwachsene Tochter habe.«
Jana nickte. Es ging ihr sehr schlecht, aber das durfte sie vor ihren Eltern nicht zeigen. Das hätte ihrem Vater überhaupt nicht gefallen.
Ihre Mutter begann zu erzählen, wie es Janas Hamster ging und wie sie den Käfig des Kanarienvogels täglich reinigte. Das erzählte sie jeden Tag und Jana hätte doch viel lieber über andere Dinge gesprochen. Sie wusste aber, dass das nicht ging und lächelte hin und wieder, wenn sie glaubte, ihren Eltern damit eine Freude zu machen. Aber in ihrem Inneren war sie nicht glücklich. Sie dachte schon an die bevorstehende Nacht und daran, dass sie ganz allein hier liegen würde. Sie musste ein Zittern unterdrücken, als sie an die bevorstehende Nacht dachte. Wenn der Tod heute Nacht zu ihr kam? Dabei fiel ihr ein, dass sie ihre Eltern noch nie hatte weinen sehen. Ob sie wohl weinen würden, wenn der Tod sie heute Nacht holte?
Als es acht Uhr abends war, erhob sich ihr Vater, der die ganze Zeit nur stumm auf seinem Stuhl gesessen hatte. »Jana, ich wünsche dir eine gute Nacht. Und denke daran, dass du dich schonen musst. Und höre auf das, was die Ärzte dir sagen.«
Jana nickte pflichtschuldig, wusste aber, dass sie sich nicht daran halten konnte. Ihre Ängste waren einfach zu groß. Sie konnte doch nicht den ganzen Tag im Bett bleiben, wenn sie noch nicht einmal jemanden hatte, mit dem sie reden konnte.
Er nickte ihr zum Abschied zu und verließ das Zimmer. Ihre Mutter gab ihr einen Kuss auf die Wange und strich über ihren kahlen Kopf.
Jana musste ein Zucken unterdrücken. Sie bildete sich immer ein, dass ihre Mutter so